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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

26-28

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Wolffsohn, Michael

Titel/Untertitel:

Eine andere Jüdische Weltgeschichte.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2022. 368 S. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783451389788.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Nicht viele Historiker verfügen über die geistigen Ressourcen und den Mut, eine Weltgeschichte in einem Band vorzulegen – gar eine »jüdische Weltgeschichte«, auf 364 Seiten! Michael Wolffsohn ist sich der Provokation, die in diesem Titel liegt, bewusst. Er rechtfertigt sein Unternehmen, das in anderen Kontexten den Vorwurf der Hybris oder gar judenfeindlich-antisemitische Assoziationen hervorriefe (»jüdische Weltregierung«, »Weltverschwörung« etc.), mit dem Hinweis, dass Christentum und Islam auch dort, wo die Anhänger dieser Religionen heute eher »weltlich orientiert« sind, ohne theologische und geographische Bezüge zum Judentum und zum Land Israel undenkbar sind. Ein »Großteil der nichtjüdischen Welt« ist daher in Vergangenheit und Gegenwart »auf die eine oder andere Weise« (312) mit jüdischen Themen beschäftigt, aber insofern zugleich von der Gefahr judenfeindlicher oder antisemitischer Infektionen betroffen. Freilich nennt W. sein Unternehmen eine »andere« jüdische Weltgeschichte. Sein Ansatz besteht darin, dass er, von vornherein auf Vollständigkeitsansprüche verzichtend (dies war nicht anders möglich und nicht zu erwarten), faktenkundig und geschickt auswählend, Informationen aus fünf Kontinenten und drei Jahrtausenden zusammenträgt. Diese Informationen werden durch Reflexionen verbunden, die dem Erfahrungsschatz eines reichen Historikerlebens entnommen sind. Dabei stellt W. die historischen Fakten immer wieder in Zusammenhänge, die seine Kenntnis der theologischen und historiosophischen Diskussionen im Juden- und Christentum zeigen. Ihm gelingt so, was vielen Zunftkollegen heute nicht gegeben ist und sie auch gar nicht anstreben: Er verleugnet seine subjektive Perspektive nicht (was das Bemühen um intersubjektive Verständigung einschließt), und er kann erzählen.

Der Band enthält neun Hauptteile. Auf einführende Bemerkungen zum dreischichtigen »Kern der jüdischen Geschichte« (13)– d. h. zum Spannungsfeld von Land Israel und Diasporaexistenz, zum innerjüdischen Gegensatz von Universalismus und Partikularismus und zum »Grundfaktum jüdischen Seins und Daseins«, das im Anschluss an Georg-Arthur Goldschmidt als »Existenz auf Widerruf« bestimmt wird – folgt Kapitel II mit Ausführungen zu Benennungen (»Söhne Israels«, »Volk Israel«, »Judäer«, »Juden«). Hier findet sich auch ein Exkurs zum Symbol des Davidsterns, der an Gershom Scholems berühmten Aufsatz zum Davidschild anschließt. Teil III enthält unter der Überschrift »Biologie: Volk, Nation, Religion, Schicksalsgemeinschaft, Identifikation?« Informationen über Forschungen jüdischer und nichtjüdischer Wissenschaftler über »jüdische Gene«. Am Anfang dieser Suche stand nicht der Rassenwahn der Nazis, sondern die medizinische Frage, ob die Genetik dazu beitragen kann, Krankheiten (z. B. das Tay Sachs-Syndrom) zu bekämpfen, die in einer bestimmten Menschengruppe (Juden) häufiger vorkommen als sonst. W.s Resümee: »Die NS-Rassenkunde war menschenfeindlich und in ihrer Wirkung mörderisch. Sie erfand vermeintlich über- und unterlegene ›Rassen‹, die medizinische Genetik ist menschenfreundlich und therapeutisch ausgerichtet. Ihrer Erkenntnisse kann und sollte sich die Geschichtswissenschaft bedenkenlos bedienen.« (27)

Daran anschließend, beschäftigt sich Kapitel IV (»Geografie: Das Land Israel und die mehrfache Diaspora«) mit der Demographie der Juden (zu den Zahlen von 2021 vgl. 36). Informiert wird dann stichwortartig über die Geschichte des Volkes Israel seit der Gründung des Königtums Davids bis in die Gegenwart. W. stellt die knapp 1100 Jahre der Existenz im Lande (er addiert die etwa 400 Jahre bis zur Zerstörung des Ersten Tempels, die 600 Jahre zwischen der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels und die 74 Jahre, die seit Gründung des Staates Israel vergangen sind) den insgesamt etwa 2700 Jahren im Exil gegenüber (34). Es folgen Informationen zur Geschichte der Juden im Orient (u. a. in Ägypten, Mesopotamien und auf der arabischen Halbinsel) und Okzident (u. a. Italien, Spanien, Niederlande, England, Frankreich, Ungarn, Polen, Russland, Amerika). Die Geschichte der Juden in Äthiopien (dass der erste König des Landes Menelik I. ein Sohn König Salomos und der Königin von Saba gewesen sei, wird in das Reich der Fabel verwiesen) sei besonders erwähnt. Spektakulär auch die Konversion der Königin Helene von Adiabene zum Judentum im ersten Jahrhundert n. Chr. und der Übertritt der Oberschicht und breiter Teile der Bevölkerung zum Judentum im Chasarenreich (Kaukasus und Zentralasien) im späten achten oder frühen neunten Jahrhundert. Die Adiabene-Juden sind W. ein Beleg für die erfolgreiche Missionsarbeit der Juden in der Antike (89), die aber bald von missionarischen Christen übertroffen wurde. Die These des israelischen Historikers Shlomo Sand (2011), die osteuropäischen Juden stammten von nach Norden geflohenen Chasarenjuden ab, weist W. mit Bezug auf neuere DNA-Analysen zurück (90). Die Geschichte der osteuropäischen Juden begann nicht mit dem Untergang des Chasarenreiches (969 n. Chr.), sondern infolge der ersten Fluchtbewegung von Juden aus dem Rheinland nach Osten, die mit den Pogromen des ersten Kreuzzugs zusammenhing. Mit einem bitteren Resümee endet die Geschichte der Juden Afghanistans, von W. auf den Spätsommer 2021 datiert, als nach dem Wiedereinzug der Taliban der letzte im Land lebende Jude Kabul in der Nacht des jüdischen Neujahrsfestes verließ.

Für eine erste Orientierung gut geeignet sind im folgenden Teil V die Informationen zum Thema »Theologie und Religion in der jüdischen Geschichte« (u. a. zur Entwicklung der biblischen und nachbiblischen Heiligen Schriften bis zum Talmud und zur historischen Einordnung der Speisegesetze, der Beschneidungspraxis und des Brauchs, eine Kippa zu tragen). Die folgenden Teile schlagen inhaltliche Schneisen: In Teil VI zu den Komplexen »Recht, Macht, Gewalt« und den damit verbundenen Klischees (u. a. »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, »Apartheid im Judenstaat«?) sowie zum Thema »Körperlichkeit und Sex« im Judentum (Teil VII). »Rückblicke und Ausblicke« (Teil VIII) und eine biographische Zusammenstellung bedeutender jüdischer Persönlichkeiten der Weltgeschichte, W. selbst nennt sie eine »subjektive Skizze« (Teil IX), runden den Band ab. Im Versuch, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, scheut W. hier nicht vor provokanten Formulierungen zurück:

»Europas Juden waren (!) integriert, assimiliert und akkulturiert. Geradezu extrem. Es half ihnen nicht. Damals gelang es den nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaften nicht, die vollständig integrierte jüdische Minderheit zu tolerieren und zu akzeptieren. Was verleiht uns Heutigen die Zuversicht, ›wir‹ würden die nur teils integrierte und nicht durchweg antijüdische, teils nicht integrationswillige und sehr wohl antijüdische, antiwestliche, antidemokratische islamische Minderheit integrieren, tolerieren und akzeptieren?« (305)

Dieses Buch ist nicht nur für Neueinsteiger geeignet. Auch wer W.s Œuvre bereits kennt, wird mit überraschenden Perspektiven und Einsichten konfrontiert, die zu weiterer Recherche einladen: Die erste »Erwähnung jüdischen Lebens auf deutschem Boden« findet W. beispielsweise (bereits vor dem 2021 breit gefeierten Kölner Judendekret Kaiser Konstantins im Jahre 321) in der Mischna, wenn es dort im Traktat Negaim im Hinblick auf Aussatzschäden heißt: »Der hellweiße Fleck sieht an einem Germanen dunkel aus« (53). Anderes lädt zum Widerspruch ein. Der von W. als Beleg für die Ablehnung von Homosexualität in der Bibel herangezogene Vers Lev 18,22 ächtet beispielsweise nicht homoerotische Handlungen an sich (so 298), da die hebräische Wendung הָשִּׁא יֵבְכְּשִׁמ nicht auf einem nomen actionis beruht, sondern zielt auf illoyales Verhalten, das Eindringen in eine fremde Ehe und den Missbrauch des Lagers (בכשמ) der Frau.

Der Wert des Buches liegt in der entschlossenen Zusammenschau, die von der Grunderfahrung her motiviert ist, die W. im Anschluss an einen Satz in der Passah-Haggada formuliert: »Nicht nur einmal hat man versucht, uns (Juden) zu vernichten. In jeder Generation wird es immer wieder versucht.« Diese Sätze stehen am Anfang (14); sie werden am Ende (305–319) erneut paraphrasiert: Es ist ein Appell, die in der Liturgie der Seder-Feier kondensierte Urangst zu verstehen. Fast verzweifelt sucht man nach Gegenargumenten und wünscht sich, man könnte als Leser seinen Teil dazu beitragen, dass W. zumindest in dieser Hinsicht nicht immer und überall Recht behält.