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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

21-23

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Leipziger, Jonas

Titel/Untertitel:

Lesepraktiken im antiken Judentum. Rezeptionsakte, Materialität und Schriftgebrauch.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. XV, 482 S. m. 34 Abb. u. 26 Tab. = Materiale Textkulturen, 34. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110737622 (auch: Open Access).

Rezensent:

Claudia D. Bergmann

Der Band möchte eine umfassende Geschichte des Lesens im antiken Judentum bieten und erweckt gleich auf den ersten Blick den Eindruck eines soliden und gut recherchierten Werkes. Zahlreiche Listen, Zeichnungen, Abbildungen und ein umfangreicher Anhang, der sowohl die genutzten Quellen und Artefakte aufführt als auch die bearbeitete Literatur, zeugen von der Gründlichkeit des Verfassers. Jonas Leipziger, seit 2022 Wissenschaftlicher Referent an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, legt mit der Monographie die gekürzte und überarbeitete Fassung seiner 2019 am Lehrstuhl für Bibel und Jüdische Bibelauslegung der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg angenommenen Dissertation vor, die im Rahmen des SFB 933 »Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften« entstand.

In Kapitel I »Die Kontextualisierung historischer Lesepraktiken und Elemente einer Textanthropologie des antiken Judentums« werden zunächst die methodischen Grundlagen des Werkes und der Kontextualisierung historischer Lesepraktiken dargelegt. Wich- tig ist L. hier zu betonen, dass das antike Judentum nicht nur auf die rabbinische Traditionslinie begrenzt wird, sondern in seiner Vielfalt, gerade auch in der Gemeinsamkeit von griechisch- und aramäisch-hebräisch-sprachigem Judentum, betrachtet werden muss. Diese These wird später noch weiter ausgeführt.

Kapitel II »Medialität und die Genese rituellen Lesens« beleuchtet die Voraussetzungen und Formen von Textrezeption. L. betont hier die Pluralität der Überlieferung jüdischer Schriften, die sich in der Antike nicht auf den »Kanon« beschränken lässt. Auch werden Fragen von Performanz und Performance, Bildung und Erziehung, Lesepraktiken generell und die Ritualisierung derselben in den Tora-Lesungen der Synagogen in den Blick genommen. Hier, »in den sozialen Kontexten der sich entwickelnden antiken Synagogen [...] sowie in den Mahl- und Bankettgemeinschaften« (4), lägen die Ursprünge rituellen Lesens, die erstmals dort greifbar werden, auch wenn vereinzelt schon einmal in den biblischen Texten selbst vom Lesen heiliger Texte die Rede ist. Eine Diskussion der Verbreitung und Bedeutung von Tora im antiken Judentum runden das Kapitel ab.

Das ausführliche Kapitel III »Materialität des Lesens« beschäftigt sich mit Handschriften als Spurenträgern für die Handlung des Lesens, mit hebräischen, griechischen und lateinischen nomina sacra in den jüdischen schriftlichen Überlieferungen, sowie mit Schriftrollen und Codices. Diese materiellen Dimensionen des rituellen Lesens machen die Lesepraktiken historisch greifbar. Gerade diese Herangehensweise L.s, die Materialitäten belegt und in die Überlegungen mit einbezieht, trägt wesentlich zum wachsenden Verständnis von antiken jüdischen Lesepraktiken bei, argumentiert er doch, darauf basierend, »für einen jüdischen Gebrauch von Codices in der Antike« (5), der wohl parallel zur Nutzung jüdisch-griechischer Schriftrollen stattfand.

In Kapitel IV »Schriftgebrauch und Rezeptionsakte« geht es L. um die sozialen Orte von Schriftgebrauch und um Phänomene der Rezeption von geschriebenem Wort: die Multilingualität des antiken Judentums, die Nutzung der griechischen Bibel und die damit verbundenen Übersetzungsdiskurse, sowie die Lesungen in der Synagoge, die, abhängig vom sozialen Kontext der jeweiligen Gemeinden, entweder monolingualen (griechischen Bibel) oder bilingual (Tora und Targumim) stattfinden konnte. Des Weiteren diskutiert der Autor eine mögliche besondere Rezeptionspraxis von Tora im Judentum, nämlich das antike griechische Theater, und schlägt vor, dass die Exagoge Ezechiels des Tragikers ein Drama sei, »für das eine Aufführung auf der Bühne angenommen werden kann« (5). Ein besonderes Verdienst dieses Kapitels und des gesamten Buches ist es, dass L. schlüssig zeigt, wie die griechische Bibel von der griechisch-sprachigen jüdischen Gemeinde jahrhundertelang in der Liturgie gelesen und dort rituell genutzt wurde. Damit werden, so L., die »Thesen einer jüdischen Zurückweisung der Septuaginta obsolet« (5).

Kapitel V »Lesepraktiken in ihren antiken Kontexten« gibt dann einen Überblick über die verschiedenen Gemeinschaften im antiken Judentum und ihre spezifischen Lesepraktiken: die Gemeinschaft von Qumran, die jüdische Gemeinschaft von Oxyrhynchus, das byzantinische Judentum, die – wie L. es nennt – christliche Bewegung und das rabbinische Judentum. Dabei kommen sowohl verschiedene Entwicklungen in den Lesepraktiken zur Sprache, als auch geteilte Traditionen. Dass die Lesepraktiken für die Qumrantexte – gerade auch der Sabbatopferlieder – weiterhin heftig diskutiert werden, verschweigt L. nicht.

Kapitel VI »Magische Rezeption von Schrift« befasst sich schließlich und eher knapp mit allen magischen Rezeptionspraktiken wie dem magisch-rituellen Verwenden von Amuletten oder dem Glauben, dass Amulette und ihre Aufschriften Wirkmächtigkeit haben. Dabei merkt L. richtig an, dass man nicht vom modernen Verständnis von Lesepraktiken und -akten ausgehen könne, sondern »dass vielmehr andere Praktiken der Rezeption und Perzeption auch in den Blick genommen werden müssen, die möglicherweise historisch deutlich weiter verbreitet gewesen sind als das, was Leseakte im modernen Verständnis betrifft« (6).

Das Kapitel VII »Conclusio: Zu den Geschichten des Lesens im antiken Judentum« fasst dann abschließend die Evolution von ritualisiertem Lesen in der Vielfalt seiner Ausformungen zusammen. Das hellenistische Judentum und die jüdisch-christlichen Wechselwirkungen kommen dabei noch einmal gesondert in den Blick. L. stellt dabei verschiedene Thesen auf, die das Ergebnis seiner Forschungsarbeit sind: 1) Ritualisiertes Lesen entwickelt sich im antiken Judentum langsam aber kontinuierlich und tritt erst ab dem 5. Jh. weit verbreitet auf. Vorher fanden Leseakte in kleinen elitären Kreisen statt, sie waren jedoch (noch) nicht liturgischer Akt. 2) Rituelle Lesepraktiken waren anfangs nicht standardisiert, das Judentum vielfältig und sprachlich zweigeteilt. 3) Weil die rabbinische Bewegung in der Antike und Spätantike noch keinen großen Einfluss hatte, kann man nicht davon ausgehen, dass Schriftrollen die einzig mögliche Materialität dieser Zeit war, aus der vorgelesen wurde. Manuskripte der griechischen Bibel, auch Codices, könnten in jüdischem Gebrauch gewesen sein. 4) Bis in das 10. Jh. hinein ersetzte die griechische Bibel für das griechisch-sprachige Judentum das hebräische Original. In den hebräisch-aramäisch-sprachigen Gemeinden wurde die Lesung der Targumim hinzugefügt. 5) In der Antike wies das Judentum die griechische Bibel nicht zurück. Um die Jahrtausendwende herum ist mit einer »Rabbinisierung des byzantinischen Judentums mit weitreichenden Folgen zu rechnen« (379). 6) Jüdisch-christliche Wechselwirkungen hielten in der Antike lange Zeit an, was anhand der jüdischen Codices der griechischen Bibel gezeigt werden kann. Dass die auf Seite 6 angekündigten sieben zusammenfassenden Thesen dann in der Conclusio nur als sechs Thesen erscheinen (380), tut dem Wert von L.s Beobachtungen keinen Abbruch.

L.s Monographie hat – wissenschaftlich fundiert und ausführlich – alles im Blick, was die Entwicklung von rituellen Lesepraktiken beeinflusst: sozio-kulturelle Aspekte, historische Kontextualisierungen, rezeptionsästhetische Theorien zum »idealen« oder »fiktiven« Leser, Performanzgeschichte, Fragen von Oralität und Schriftlichkeit und vieles andere mehr. Während viele Forschungsarbeiten die Genese der Hebräischen Bibel betrachten und dabei eventuell auch die Praxis des Schreibens biblischer Texte als einen Nebenschauplatz mit einbeziehen, untersucht L. genau das, was den Text zum Klingen bringt und ihn ebenso wie die schriftlichen Quellen weiterverbreitete: das Lesen. Sicherlich ist L.s Monographie nicht die erste, die magische Rezeptionspraktiken mit einbezieht oder die These von der generellen jüdischen Zurückweisung der Septuaginta verwirft, aber sie ist die erste, die auch diese kontroversen Themen unter der Überschrift Lesen und Lesepraktiken betrachtet. Insgesamt leistet L. nicht nur einen grundlegenden Beitrag für die Erforschung der Geschichte des antiken Judentums im Allgemeinen, vor allem in seiner Vielfalt und in seinen Wechselwirkungen mit der entstehenden christlichen Tradition, sondern auch für die Diskussion von antiken Ritualen aller Art, die die Wiedergabe von schriftlichen Quellen zum Inhalt haben.