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Ausgabe:

Januar/2023

Spalte:

5-18

Kategorie:

Neues Testament
Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Eve-Marie Becker

Titel/Untertitel:

Wem »gehört« Jesus von Nazareth?
Historische und hermeneutische Fragen zur Gegenwart und Zukunft der Jesus-Forschung

I Die komplexe Ausgangslage der historischen Jesus-Forschung



Jesus von Nazareth war ein aus Galiläa stammender jüdischer Mann, der im ersten Drittel des 1. Jh.s n. Chr. in Galiläa und Judäa und darüber hinaus wirkte und um das Jahr 30 in Jerusalem gekreuzigt wurde und starb. Soweit lassen sich die biographischen Eckdaten fassen, in deren Rahmen die Jesus-Forschung (Quest for the historical Jesus bzw. Jesus Research) biographische Einzelfakten (z. B. Familie, Beruf, Bildung Jesu) und Daten zum Wirken Jesu in Verkündigung und Zeichenhandlungen einspannt. Daraus ergeben sich die einschlägigen wissenschaftlichen Darstellungen zur historischen Jesus-Gestalt (historical Jesus)1 sowie zahlreiche materiale Einzelfragen, die die Rekonstruktion des Auftretens und Wirkens Jesu von Nazareth und seiner Botschaft sowie die entsprechende methodische Kriteriologie zur Rekonstruktion von Biographie und Botschaft betreffen.2

So wie die Person und ihre Wirkung durch zwei Jahrtausende Faszination im Judentum, Christentum und Islam sowie in der Säkularkultur ausgeübt hat, so treibt auch die Beschäftigung mit Jesus beständig Blüten – sowohl in der religiösen Devotion als auch in Kunst und Film.3 Umso wichtiger ist, dass die neutestamentliche Wissenschaft – im Zusammenspiel mit allen beteiligten Fächern und Disziplinen zur Erforschung der antiken Welt – mit gebotener Sorgfalt erstens die historischen Fakten samt den unvermeidlichen Unschärfen, die aufgrund der Quellenlage bleiben, erhebt, benennt und interpretiert und zweitens über die hermeneutischen Implikationen und Konsequenzen der jeweiligen »Jesus-Bilder«, die im Zuge der Rekonstruktions- und Interpretationsarbeit entstehen,4 spricht und diese ggf. kritisch dekonstruiert. Historische Rekonstruktion und kritische Dekonstruktion müssen sich dabei gleichermaßen auf die je aktuelle Jesus-Interpretation und die Geschichte der Jesus-Interpretationen, also die Forschungsgeschichte, beziehen und sind zwei Seiten einer Medaille, nämlich des uns zur Verfügung stehenden historischen und hermeneutischen Methodeninventars.5 Die kritische Rekonstruktion und Dekonstruktion der Biographie und Person Jesu als historischer Gestalt basieren auf dem Wissen, dass alle Jesus-Forscher und -Forscherinnen mit ihrer »personal identity«6 ihre perspektivenbezogene historische Arbeit zur wissenschaftlichen Profilierung der Identität Jesu leisten.7

Die Frage nach der »Identität« Jesu (identity) erweist sich – schon lange, bevor sie so auf den Begriff gebracht wurde und »Identity Studies« sich zu einem boomenden Gebiet in den Sozialwissenschaften entwickelten8 – als eine, wenn nicht: die Grundfrage der neutestamentlichen Wissenschaft schlechthin. Einstmals war sie treibender Faktor bei der Entstehung und Entwicklung der modernen (evangelischen) Theologie und ihrer hermeneutischen Grundfragen. Das zeigte sich zu Beginn der Aufklärungstheologie9 und galt bzw. gilt insbesondere für die letzten etwa 100 Jahre Forschungsgeschichte,10 die Albert Schweitzer mit seinem monumentalen Werk zur »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« 1906 eröffnet hatte.11 Die Bestimmung der Identität Jesu umfasst vor allem seine religions- und sozialgeschichtliche Einordnung in den Second Temple Judaism sowie die Frage nach seinem religiösen und sozialpolitischen Selbstverständnis. Beide Bestimmungsaufgaben lassen sich wie folgt auf den Punkt bringen: Wer war Jesus? Was wollte Jesus? Hilfreich sind in diesem Zusammenhang insbesondere komparative religionswissenschaftliche Studien, die die Identität Jesu im Vergleich zu bedeutenden zeitgenössischen (jüdischen) religiö-sen oder politischen Akteuren beschreiben.12 Denn die Jewishness Jesu als solche steht nicht zur Diskussion und wird in der Jesus-Forschung bereits lange vor dem sog. Third Quest vorausgesetzt.13 So erweist sich die Frage nach der Spezifizierung dieser Jewishness Jesu bzw. nach der »Originalität« Jesu im Kontext seiner Zeit, wie sie zuletzt Per Bilde programmatisch aufgeworfen hatte, gerade im religionsgeschichtlichen Sinne als produktiv, ja notwendig, sofern die Rede von »Jesus the Jew« mehr als ein Klischee sein soll.14

Dass Jesus von Nazareth ganz zum Judentum und ganz in das Judentum seiner Zeit gehört, ist seit jeher unbestritten (vgl. Röm 9,5) und spätestens seit Julius Wellhausen15 eine vielfach wiederholte und seit dem sog. Third Quest zugespitzte historische Aussage, die im Übrigen auch Rudolf Bultmann betont hat.16 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Katastrophe des Holocaust/der Shoa, die Deutschland zu verantworten hatte und hat, leis-tet die historische Jesus-Forschung im internationalen Verbund Grundlegendes und Unverzichtbares, um die jüdische Identität des Zimmermannssohnes aus Galiläa politisch, religions- und sozialgeschichtlich unter Heranziehung aller vorhandenen textlichen und archäologischen Quellen so umfassend wie möglich zu beschreiben und in den Second Temple Judaism einzuzeichnen.17 Nur wenige Gestalten – wahrscheinlich keine sonst – der früh- kaiserzeitlichen Mittelmeerwelt sind auf der Basis des vorhandenen Quellenmaterials inzwischen so beständig, umfassend und im Detail kritisch erforscht worden wie Jesus von Nazareth. Die vier kanonischen Evangelien sind dabei eine – im antiken Vergleich – wertvolle, weil: vergleichsweise breite Quellenbasis,18 um das Leben und Wirken Jesu sowie sein Selbstverständnis im Kontext der jüdischen Religionsgeschichte zu erschließen,19 lassen sich aber kaum als historische bruta facta-Darstellungen lesen,20 da sie jeweils eigene, vielfältig geschichtsdeutende Perspektiven auf die Jesus-Gestalt und ihre Wirkung aufmachen und aufzeigen.21

Nun ist die Jesus-Forschung – wie jeder andere Forschungsbereich in der neutestamentlichen Wissenschaft, aber auch wie jedes andere wissenschaftliche Feld – unabgeschlossen. Sie wird nicht selten gerade von solchen Fragen angetrieben, die schwer oder gar nicht lösbar sind oder fortwährenden Diskussionsstoff bilden – wie die Frage nach der Originalität Jesu. Zum Wesen (geistes-)wissenschaftlicher Arbeit gehört es, dass die Entwicklung der Forschung aufgrund der Quellen- und Faktenbasis in Teilen konstant und stabil bleibt, in Teilen aber auch unvorhersehbar ist und Reibungspunkte bietet. Die Funde neuer textlicher oder materialer Quel- len – das machen die Entdeckung der Dead Sea Scrolls einerseits oder materiale Funde im Rahmen der Galiläa-Archäologie andererseits deutlich22 – erweitern und korrigieren unser Wissen insbesondere über den religiösen, sozialen, politischen oder kulturellen Lebensraum Jesu und seiner Anhänger und Anhängerinnen beständig. Dabei bleibt die Frage der Zuordnung Jesu zum Täufer Johannes und seiner Bewegung23 sowie dessen Stellung im Rahmen des Second Temple Judaism von grundlegender Bedeutung,24 wenn es darum geht, die frühe, möglicherweise initiale religiöse Prägung Jesu, seine »Selbstfindung« und die Selbstbestimmung seines Wirkens nachzuzeichnen. Der allgemeine Stand der Forschung samt vielen offenen Fragen lässt sich immer nur vorläufig abbilden. Das geschieht in der Jesus-Forschung regelmäßig – so z. B. durch Jens Schröter 2009 und 2014 an eben dieser Stelle in der ThLZ.25 Zur Reflexion des Forschungsstandes gehören auch selbstkritische Überlegungen zum »Progress« der modernen Forschung seit ihren Anfängen bei Reimarus sowie zu den ideologischen Kontexten, in denen sich die Forschung vollzog.26

II Identitätspolitische Tendenzen in der neutestamentlichen Wissenschaft

Kari Syreeni hat darauf hingewiesen, dass die in die Jesus-Forschung eingebrachte personal identity des Forschers/der Forscherin mit vielerlei Vorverständnissen verbunden ist, die deswegen keine »hindrance to the historical study of Jesus« darstellten, weil sie produktive Resonanzen auslösen können. Er weist z. B. mit Blick auf den postmodern queer approach auf »surprising ways«, »in which contemporary identities can resonate with the ethos of Jesus«.27 In anderen Worten: Hermeneutische Multiperspektivität bereichert die Jesus-Forschung und ihre Quellen- und Textwahrnehmung und ermöglicht Partizipation am Forschungsdiskurs. Nun scheint in jüngster Zeit eine zunehmende Politisierung des Wissenschaftsbetriebs, die in den Geistes- und Kulturwissenschaften bereits seit geraumer Zeit problematisiert28 und im Blick auf polarisierende gesellschaftliche Wirkungen kritisch wahrgenommen wird,29 verstärkt auch Einzug in die neutestamentliche Wissenschaft zu halten. An die Stelle multiperspektivischer Forschungsfragen und -ansätze tritt ein Deutungskampf, der auf dem Feld des politischen Identitätsparadigmas zu verorten ist. Davon sind in der neutestamentlichen Wissenschaft neben der Jesus- auch die Paulus- und die Evangelien-Forschung betroffen. Worum geht es?

In der Jesus-Forschung transformiert das identitätspolitische Paradigma (identity politics) – wie mir scheint – die (religions-) historisch motivierte Frage nach der biographischen und personalen Identität Jesu in ein wissenschafts- und gesellschaftspolitisch motiviertes Interesse an der »Heimholung Jesu« in das Judentum.30 An die Stelle der ergebnisoffenen, multi-perspektivisch motivierten, historisch-kritisch geleiteten Rekonstruktion der Identität Jesu im Rahmen von Second Temple Judaism, frühkaiserzeitlicher römischer Provinzialgeschichte und Vor- oder Frühgeschichte der Jesus-Christus-Bewegung tritt ein identitätspolitisches Forschungsprogramm. So wie es von Kathy Ehrensperger in der ThLZ 2021 als »Heimholung Jesu« ins Judentum in Grundrissen skizziert wurde,31 trägt es Züge einer »Projektidentität«.32 Denn die Rede von der »Heimholung Jesu« ist Teil eines größeren Diskursrahmens, der gegenwärtig auf den Begriff »within Judaism« gebracht wird – ein Begriff, der nicht deskriptive, sondern präskriptive Verwendung findet

1. Jesus-Forschung im Diskursrahmen des »within Judaism«

Das Within Judaism-Paradigma ist zunächst in der Paulus-Forschung greifbar. Hier ist es ursächlich von der »Radical New Perspective on Paul« inspiriert,33 wenn es auf die radikale Konstruktion eines Paulusbildes »within Judaism« zielt.34 Paulus wird – unter Hinweis auf religionsgeschichtliche Einsichten etwa zur Bedeutung des Gesetzes für den Pharisäer Paulus – konsequent in den Kontext einer »god-contested world of first-century Jewishness« gestellt.35 Diese Einordnung führt zu faktisch anmutenden historischen Bewertungen, die eine apodiktische Wirkung haben und Deutungsräume schließen, statt sie für den wissenschaftlichen Diskurs zu öffnen. Denn die Aussage: »Paul the zealous Pharisee dedicated himself to the strict observance of Jewish law«,36 wäre weiter zu diskutieren: Ist diese Beschreibung historisch valide? Paulus selbst äußert sich nur im Modus der Vergangenheitssprache zu seiner pharisäisch begründeten Toraobservanz (Phil 3,2 ff.). Über seinen gegenwärtigen persönlichen Umgang mit dem Gesetz als Apostel Jesu Christi (z. B. Röm 1,1) hingegen gibt er keine eindeutige Auskunft. Hier ist mehr, schon länger diskutierte37 Differenzierung nötig, die offene Fragen der historischen Rekonstruktion benennt und die Belastbarkeit von Plausibilitätsannahmen prüft und offenlegt.

Auch die aktuelle Matthäus- und Johannes-Forschung38 strebt eine religionshistorisch ausgerichtete Textinterpretation an, die die Evangelien im Lichte einer »reterritorialization of Jewish identity«39 oder »as a Jewish text«40 liest. Suchten der sog. Third Quest in der Jesus-Forschung oder die sog. New Perspective in der Paulus-Forschung im Wesentlichen die neutestamentlichen Schriften und ihre Protagonisten »against the background of Judaism and Jewish life« zu interpretieren, so beabsichtigt die Within Judaism-Perspektive – wie Anders Runesson und Daniel M. Gurtner pointiert darlegen –, diese Texte »as specific expressions of Judaism« zu verstehen.41 Die Vielstimmigkeit und Pluralität an Strömungen, die dem Second Temple Judaism unterstellt wird, erlaubt es in diesem Verstehensmodell, »New Testament texts more generally as expressions of specific forms of Judaism« zu sehen.42 Nicht, dass sich neutestamentliche Texte in den literarischen »Kanon« des Second Temple Judaism inkorporieren lassen, ist hier problematisch, wohl aber die Ausschließlichkeit, mit der dies Lesemodell eingefordert und zugleich die Frage nach dem Beitrag der Texte für die Entstehung der frühchristlichen Bewegung im 1. Jh. für überholt erklärt wird.43

Hinter der Within Judaism-Perspektive steht das – durchaus berechtigte! – religionsgeschichtliche Anliegen, Jesus, Paulus und die Jesus-Christus-Bewegung noch nuancierter als schon unternommen in den Kontext des Second Temple Judaism und seiner vielgestaltigen Spielarten von Judaism einzuzeichnen.44 Im Zuge der Darlegung dieser Judaisms wird jedoch die Frage nach dem common ground des Second Temple Judaism, die u. a. Ed P. Sanders angestoßen hatte,45 zurückgestellt oder inzwischen gänzlich aufgegeben. Problematisch ist zudem, wie die Vertreter und Vertreterinnen des »within Judaism« – man müsste hier genauer von: »within Judaisms« sprechen – die Zielsetzungen ihres Paradigmas bestimmen. Es geht ihnen nach eigener Darstellung nicht nur um die Pluralisierung des antiken Judentums und um die Nuancierung religionshistorischer Fragen bei der Interpretation des Neuen Testaments, sondern auch darum – nun wiederum am Beispiel der Paulus-Interpretation gezeigt –, den Paul-within-Judaism-Diskurs so zu pointieren, dass der als Gegenbild dazu gezeichnete Paul-within-Protestantism-Diskurs beendet und das darin erhobene Bild eines »postethnic Paul« revidiert werden kann.46 Damit einher geht die programmatische Devalidierung der durch den Humanismus und die Reformation geförderten philologischen und später historisch-kritischen Forschungstradition, deren Prämissen Paula Fredriksen zuletzt wie folgt marginalisiert: »The scholarship rests on close exegesis of Pauline texts, the rhetoric and theology of which were forged in the heat of sixteenth-century anti-Catholic polemics.«47 Fredriksen wählt eine verkürzte Sicht auf die protestantische Paulus-Forschung seit dem 16. Jh., die wenig Vertrautheit mit der differenzierten deutschsprachigen Debattenkultur zeigt und eher Ausdruck einer unzureichenden Wahrnehmung dieser Forschung im anglo-amerikanischen Diskurs ist. Denn die enormen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen und paradigmatischen Veränderungen der deutschsprachigen Paulus-Forschung, wie sie z. B. sichtbar Eingang in die einschlägigen Paulusdarstellungen der Enzyklopädien fanden,48 blendet sie aus. Ihre – negative – Sicht auf die protestantische Forschungstradition ist geprägt von einer Sprache des Deutungskampfes, dessen eigentlicher Sitz im Leben der inner-anglo-amerikanische Diskurs ist.49

Nun kann man Fredriksen et al. zugutehalten, dass sie Paulus-Texte im akademischen Gespräch halten und nicht einer Cancel Culture oder einer Woke-Kultur ausliefern wollen, in der klassische Texte sukzessive aus den kanones der westlichen Welt gestrichen werden, weil sie als sexistisch, rassistisch, anti-judaistisch/-semitisch oder kolonialistisch anzusehen seien. Die hinlänglich bekannten judenfeindlichen oder gar anti-judaistischen Passagen bei Paulus (bes. 1Thess 2,14-16), Johannes (z. B. 8,44) oder Matthäus (bes. Kap. 23) oder die konventionelle Haltung des Paulus zur Sklaverei (s. Phlm) böten durchaus Gründe, neutestamentliche Texte diesen neuen Spielarten von (postkolonialer) Zensur, die ihrerseits wiederum die Gefahr eines neuen Antisemitismus bergen,50 anheimzugeben. Im Gebiet der Bibelwissenschaften findet die kritische Aufarbeitung von Anti-Judaismus, Anti-Semitismus oder Sexismus gegenwärtig – anders, als noch in Teilen der feministischen Theologie der letzten Generation51 – weithin in Beschäftigung mit und nicht ohne oder gegen die neutestamentlichen Texte statt.52

Der Within Judaism-Diskurs erweist sich gegenüber der Cancel oder Woke Culture sogar insofern als widerständig, als er Paulus als »ethnischen Essentialisten« wiederentdeckt53 und den Second Temple Judaism erneut verstärkt von seiner »ethnoreligious tradition« her bestimmt.54 Dies geschieht in Zeiten, in denen Konzepte von »postethnicity« und »multiple identities« verstärkt »affiliation« untersuchen und weniger essentialistische ethnos-Zuschreibungen vornehmen55 und so einerseits vielfältige Möglichkeiten eröffnet haben, die Kategorie der »ethnicity« auch für die Antike56 und die Bildung christus-gläubiger ἐκκλησίαι bzw. associations57 neu zu denken, und andererseits noch genauer zu beschreiben, wann, wo und warum in der Jesus-Christus-Bewegung mit der Kategorie »konstitutiver Ethnizität« gebrochen wurde.

2. Jesus-Forschung unter dem Vorzeichen der Identitätspolitik

Der Umstand, dass der Within Judaism-Diskurs nicht die neutes-tamentlichen Texte und ihre Autoren selbst einer ethisch oder politisch motivierten cancellation überstellt,58 sondern – über eine Benennung von Problemen und Irrwegen in der Auslegungsgeschichte59 hinausgehend – die Auslegungsgeschichte inkriminiert, muss indes seinerseits problematisiert werden. Im Fokus der Inkriminierung steht die protestantische Forschungsgeschichte, die grob gesprochen von Luther bis zu Bultmann und Käsemann60 oder zuletzt sogar Ulrich Luz reicht.61 Die Protestantismus-Kritik geschieht unabhängig von der Würdigung der kritischen Leistungen, die die evangelische Theologie erstens für die Entwicklung der modernen Bibelwissenschaften erbracht, zweitens jenseits von Infiltrierung oder Mitläufertum auch in ihrem Widerstand gegen die nationalsozialistische Ideologie gezeigt62 und drittens für die Aufarbeitung des Antisemitismus in der Kriegs- und Nachkriegszeit bisher geleistet hat.63 Kaum ein anderer Wissenschafts- oder Gesellschaftszweig (in Deutschland) hat so umfänglich wie die evangelische Theologie an der Aufarbeitung ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus gearbeitet. Werden diese Aspekte von protestantischer Selbstaufklärung und -kritik von Protestantismus-Gegnern mitbedacht? Dass Krister Stendahl, dem immerhin ein »momentary adjustment« in einer ansonsten verfehlten Geschichte der Paulus-Forschung zugesprochen wird,64 ein protestantischer, genauer: lutherischer Theologe war, wird jedenfalls von den Vertretern des »within Judaism« bei ihrer Sicht auf den Protestantismus weithin ausgeblendet.

Es geht dem »within Judaism« weder um das Cancel oder Woke von Quellentexten noch um eine ausgewogene Kritik der Forschungsgeschichte und ihrer Vertreter, sondern vielmehr um die Durchsetzung bestimmter Anliegen im identitätspolitischen Diskurs, wie er auch in den sog. Classics begegnet.65 Typisch für den identitätspolitischen Diskurs in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist es, eine – von den sozialpolitisch begründeten Identitätsfragen der Gegenwart her definierte und durch die postkoloniale Bewegung motivierte – Lektüresicht auf die antiken Texte aus der Perspektive vermeintlich minorisierter Gruppen zu fordern, ja allgemein vorzugeben.66 Diese »Spielart« der Identitätspolitik verschreibt sich weniger – so wie noch in den 1960er Jahren – der Aufhebung von Diskriminierung mit dem Ziel der Etablierung von Multikulturalismus67 als vielmehr einer »kulturrelativistischen Politik«, die sich »gegen die Werte der Aufklärung stellt und die Rechte des Einzelnen durch die Rechte imaginierter Gruppen ersetzen will«68 und im Bereich der interpretierenden Wissenschaften mit einer Neubestimmung historischer Faktizität einhergeht.

Die Parallelen zum »within Judaism«-Paradigma in der neutes-tamentlichen Wissenschaft liegen auf mehreren Ebenen. Erstens: Wie schon angesprochen, verbannen identitätspolitische readings die Texte – schon aus Eigeninteresse am Fortbestehen der eigenen Wissenschaftsdisziplin – nicht. Sie inkriminieren zweitens bestimmte Forschungs- und Auslegungstraditionen. Wie die identitätspolitischen readings in den Classics nehmen auch die vergleichbaren Forschungsdiskurse in der neutestamentlichen Wissenschaft drittens ihren Ausgangspunkt in der anglo-ameri-kanischen Welt und beziehen von hierher ihre Dynamik69 und machen viertens Lektürevorgaben, die nicht allein für den Umgang mit eminenten Texten aus der Vergangenheit sensibilisieren sollen, sondern fünftens auf die Revision von Geschichtsbildern zielen. Geht es in den identitätspolitischen Debatten der Classics darum, das Bild von der klassischen Antike als geschichtsbegründender Epoche zu dekonstruieren,70 so zielt das Within Judaism-Paradigma darauf, die Interpretation der neutestamentlichen Texte von der Frage nach der Entstehung des frühen Christentums abzukoppeln.

Ähnlich wie Fredriksen und Runesson/Gurtner formuliert Kathy Ehrensperger: »Auch die neutestamentlichen Texte gehören wie ihre Protagonisten in die Welt des Judentums um die Zeitenwende.«71 Ehrensperger stellt die Jesus-Forschung nicht nur konsequent in den Diskursrahmen des »within Judaism«, sondern versucht auch, als Trendsetter vorauszugehen. In ihrem Aufsatz »Jesus der Jude« formuliert sie gewissermaßen ein wissenschafts- und gesellschaftspolitisches Programm zur »Heimholung Jesu« in das Judentum. Damit ist die Forderung verbunden, nicht nur »den sogenannten irdischen Jesus« im Judentum seiner Zeit zu verorten oder als Juden zu verstehen, sondern auch die Jesus-Christus-Deutungen als »Variante der messianisch-eschatologischen Diskurse des antiken Judentums«, d. h. die »nach innen gerichteten Vergewisserungen und Christus-Bekenntnisse in den neutestamentlichen Texten« als »Variante jüdischer Tradition« zu begreifen.72 Auch Ehrensperger formuliert hier assertorisch, ohne die Validität ihrer historischen Beschreibung zur weiteren Diskussion zu stellen. Es bleibt aber die wesentliche Frage offen, ob und wie sich die in den neutestamentlichen Texten sichtbaren Christologoumena– ein Phänomen jenseits einer pauschalen Einordnung in den eschatologischen Messianismus – plausibel verstehen lassen, wenn sie allein »als Variante jüdischer Tradition« begriffen werden, die dann folgerichtig nicht »im Gegensatz zu anderen jüdischen Traditionen« stehen kann.73

Ehrensperger ist darin zuzustimmen, dass der Jesus-Christus-Diskurs in den neutestamentlichen Schriften »nicht uniform, sondern vielfältig« ist.74 Damit sind aber zwei Konsequenzen verbunden. Erstens lassen sich die auf die Osterereignisse bezogenen christologischen Aussagen im Neuen Testament ebenso wenig eindimensional fassen und auf eine messianisch-eschatologische Deutungslinie reduzieren, so wie schon die Deutungen des Todes Jesu vielfältige sind.75 Zweitens ist zu diskutieren, wie weit sich – das schon in sich heterogene76 – messianisch-eschatologische Motivinventar im Second Temple Judaism dehnen lässt: Wieweit erlauben antik-jüdische messianische Endzeithoffnungen Vorstellungen von einem auferstandenen Jesus als kosmokratischem Kyrios, der zuvor gekreuzigt und begraben wurde und dann – in Folge erlebter Einzel- und Gruppenepiphanien – proskynetisch zu verehren war (bes. Phil 2,6-11; Mt 26,18-20)? Und Paulus, selbst Jude, verweist wie folgt auf seine Erfahrung in der »Völkermission«: Für die Ἰουδαίοι ist das Kreuz Christi ein σκάνδαλον (1Kor 1,23). Wie weit also entfernte sich in effectu eine solche »juden-christliche«77 Sondergruppe vom common ground der Judaisms? Nach Martin Goodman ist die »Auferstehung der Schlüssel für die Fortsetzung« der Jesus-Christus-Bewegung: »Nichts in der Vorgeschichte des Judentums hatte darauf vorbereitet.«78

Wenn Ehrensperger von einer »Heimholung Jesu« ins Judentum spricht,79 so nimmt sie damit einerseits vielfache Impulse ihres Potsdamer Kollegen Walter K. Homolka auf,80 der die defizitäre Rezeption jüdischer Jesus-Forschung seit Abraham Geiger beklagt und nachträgt.81 In der Tat profitiert die historische Jesus-Forschung – so wie die Paulus- oder die Evangelien-Forschung – grundlegend davon, dass jüdische Forscher und Forscherinnen ihre Sicht auf Jesus, den Täufer, Paulus und die neutestamentliche Literatur so wie auf die Qumran-Gemeinschaft, Philo oder Josephus in den Forschungsdiskurs zum Second Temple Judaism und zur Entstehung der frühchristlichen Bewegung einbringen. Wie Homolka bemängelt Ehrensperger Einseitigkeiten oder Unzulänglichkeiten der bisherigen Jesus-Forschung und trägt so zum hermeneutischen Diskurs über die Dekonstruktion von Jesus-Bildern und die immer neu zu stellende historische Frage nach der Identität Jesu von Nazareth bei. So weit wäre auch Ehrenspergers Plä-doyer zu begrüßen, wenn es sich nicht – ähnlich wie bei Fredrik-sen in Bezug auf Paulus zu beobachten (s. o.) – in erster Linie an inner-anglo-amerikanischen Debatten, die die deutschsprachige Forschung vielfach verkürzt wahrnehmen, abzuarbeiten schiene.82 Problematisch bleibt der Begriff »Heimholung« – insbesondere dann, wenn er mit Exklusivitätsansprüchen einhergeht.83

Ehrenspergers Aufsatz legt zudem eine doppelte Problemstellung offen, die der identitätspolitischen Aufladung ihrer Jesus-Perspektive geschuldet ist: Hier wird ein historisches Bild von Jesus und der Jesus-Bewegung vor dem Hintergrund einer spezifischen Sicht auf den Second Temple Judaism zu implementieren versucht, das sich – unter Hinweis auf seine gesellschaftspolitische Bedeutung etwa für die Rehabilitierung jüdischer Forschungsperspektiven oder auf die gegenwärtigen Erfordernisse des jüdisch-christlichen Dialogs84 – der weiteren, ergebnisoffen geführten wissenschaftlichen Diskussion entzieht. Damit wird die Erforschung der historischen Jesus-Gestalt faktisch dem Deutungsrahmen jüdischer Interpretation unterstellt. Das gilt auch für den Bereich der Christologie.85 Man darf hier prospektiv fragen: Werde ich als weiße protestantische europäische Forscherin künftig noch über den historischen Jesus sachkundig sprechen dürfen? Oder definiert der identitätspolitische Diskurs, welcher Forscher was über die neutestamentlichen Texte und ihre Protagonisten erforschen darf?86 Wenn dem so wäre oder dies so würde, wären die Regeln wissenschaftlicher Erkenntnis in den Geistes- und Kulturwissenschaften außer Kraft gesetzt. Denn an die Stelle von hermeneutischer Multiperspektivität und produktiver Wahrnehmung von Vorverständnissen (s. o.), die immer unvermeidlich sind und nur auf einem methodengeleiteten common ground historisch-kritisch geleiteter Forschung ergebnisoffen diskutiert werden können und dabei beständig dekonstruiert werden müssen, träte ein identitätspolitisches reading, das eine vermeintlich »politisch korrekte« Textlektüre vorgibt und so den Diskursrahmen schließt.

III Drei Perspektiven für die historische Jesus-Forschung

Die Forderung der »Heimholung« Jesu schließt – so, wie sie Ehrensperger skizziert – eine weitere Tür im geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskurs zweier Jahrtausende über die sachgemäße Jesus-Deutung. Wo sich Jesus-Interpreten seit den Evangelienschreibern und kritische Jesus-Forscher seit Reimarus an der Frage reiben: Wie genau lässt sich die Identität Jesu mit Hilfe von seinerzeit etablierten Sprach- und Deutungsangeboten beschreiben (vgl. etwa schon Mk 6,14–16; 8,27–30), und wie besonders oder original war Jesus als historische Person?,87 ebnen das »Heimholungs«- und Within Judaism-Paradigma die Phänotypologie Jesu und der sich auf ihn berufenden Bewegung vollständig ein. Die »Suche nach etwas Speziellem im Leben dieses Mannes aus Nazareth«, das auch seine eminente Nachwirkung within and beyond Judaism berücksichtigt, wird für obsolet erklärt.88

Nun mögen christus-gläubige Juden im Jerusalem der 50er und 60er Jahre – religionssoziologisch betrachtet – »nicht sonderbarer als andere« Gruppierungen gelebt haben.89 Die von den Römern frühzeitig und eher mit Unverständnis oder Abschätzigkeit90 wahrgenommene distinkte Wirkung der Jesus-Christus-Bewegung im gesamten Mittelmeerraum lässt sich allerdings nicht übersehen, aber kaum adäquat beschreiben, wenn Jesus und seine Anhängerschaft so gezeichnet werden, dass sie in einem pluralen religiösen Milieu der sog. Zeitenwende diffundieren. Goodman weist zuletzt darauf hin, dass von sämtlichen Aspekten »des Lebens Jesu, die ihn von anderen jüdischen religiösen Gestalten unterscheiden«, die »Tatsache am bemerkenswertesten« sei, dass eine nach ihm benannte Gruppe (vgl. Apg 11,26; 24,5; 26,9) nach seinem Tod weiterexistierte. Ähnliche Phänomene sind sonst nur außerhalb des Judentums (z. B. griechisch-hellenistische Philosophenschulen) bekannt. Im Falle der Jesus-Christus-Bewegung gründeten Loyalität und Begeisterung der Anhängerschaft wohl in Jesu Charisma und seiner eschatologischen »Rede von einem bevorstehenden Königtum Gottes«.91

Wie also lässt sich erstens die immense persönliche Wirkung Jesu historisch plausibel erklären und als Forschungsfrage so offenhalten, dass Vergleiche und Unterscheidungen mit und von Zeitgenossen bemerkt werden können? Die Wirkung der Person Jesu reichte jedenfalls weit über seine unmittelbaren Anhänger und Anhängerinnen hinaus. Sie übertrug sich auf Personen wie Paulus und prägte sowohl deren religiöse Selbsterfahrung (z. B. Phil 1,21–26) als auch ihr theologisches Denken.92 Schon Wellhausen hielt fest: »Seine Person, deren Umgang sie im täglichen Leben genießen durften, hat auf seine Jünger wohl noch stärker gewirkt als seine Lehre.«93 Neben den charismatischen Zügen (z. B. Ausstrahlungskraft, Beauftragungswille, Unkonventionalität, Gegnerschaft)94 dürften die Vielzahl der Sprecherrollen (z. B. Prophet, Lehrer, Gleichniserzähler, Wundertäter) sowie das Ethos der Liebe zu Gott und den Menschen Faszination ausgelöst und verbreitet haben. Der bekannte Vorwurf, dem religiösen »Superses-sionismus« werde schon dadurch das Wort geredet, dass die Frage nach der historischen Originalität oder der besonderen Wirkung einzelner Personen auf ihre Um- und Nachwelt nicht aufgegeben, sondern als produktiver Reibungspunkt der Forschung begriffen wird, ist heuristisch kaum zulässig. Denn der Rekonstruktion und Interpretation der historischen Jesus-Gestalt ist – im Blick auf ihre unvergleichliche Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte durch zwei Jahrtausende – weder methodisch noch sachlich schon dadurch Genüge getan, dass sie ausschließlich von der Suche nach analogiebasierten Bezugspunkten zu den Second Temple Judaisms des 1. Jh.s geleitet und begrenzt ist. Wer Jesus war und was er wollte, historisch zu rekonstruieren und zu interpretieren, erfordert die Beachtung hermeneutischer Multiperspektivität und die Anwendung aller zur Verfügung stehenden methodischen Mittel, die die historische Bibelkritik im Laufe der Jahrhunderte bis zur Postmoderne hervorgebracht hat: von der Quellenkritik zur Dekonstruktion. Die Frage nach der Eigenart und Unterscheidbarkeit Jesu bleibt dabei ein unverzichtbarer Forschungsgegenstand.

Gleichwohl gilt auch zweitens: Mit der kritisch-dekonstruierenden Aufarbeitung der Forschungsgeschichte geht seit Langem die Einsicht einher, dass wir – trotz aller seit der Aufklärungstheologie erlernten historischen Ambition, der historischen Jesus-Gestalt des 1. Jhs. möglichst nahekommen zu wollen – uns immer werden eingestehen müssen, dass uns jede historisch rekonstruierte Gestalt entgleitet und entzogen ist. Die eminente historische Person bleibt gewissermaßen nur mittels »Fußabdruck«, fingerprint, impact oder Wirkung auf ihre Nachwelt – und d. h. bis zu uns – greifbar. Ich paraphrasiere damit den Gedanken, den schon Schweitzer prominent zum Abschluss seines Werkes formuliert hatte.95 Was Schweitzer hier meint, ist: Die Bedeutung der Person Jesu von Nazareth erschließt sich zuletzt jenseits historischer Rekonstruktion und rationalistischer Deutung – nämlich im Rahmen religiöser Erfahrung, theologischer Deutung und ethischer Praxis. Auch plurale religiöse Erfahrungen bei der Jesus-Deutung sind – sogar gesellschaftspolitisch betrachtet – insofern durchaus »berechtigt«, als sie »identitätspolitische Dominanzstrategien« jedweder Art in ihre Schranken weisen.96

So ist drittens auch die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Jesus-Gestalt ein wertvoller Schlüssel zu ihrer Interpretation. Wer könnte Amos Oz die immense Wirkung der neutestamentlichen Texte auf seine Person, als es zur Erstbegegnung mit ihnen kam, absprechen?97 Wer wollte Johann Wolfgang von Goethe seiner Jesus-Erfahrung berauben, die er bei seinem ersten Romaufenthalt 1786 gemacht hatte und die er in seiner »Italienischen Reise« mit der Eintragung vom 3. November wie folgt beschrieb: »Hat doch Christus schon als Knabe durch mündliche Auslegung der Schrift und in seinem Jünglingsleben gewiß nicht schweigend gelehrt und gewirkt; denn er sprach gern, geistreich und gut, wie wir aus den Evangelien wissen …«.98 Goethes Beschreibung ist – in ihrem Kontext betrachtet – nicht nur als Kritik am römischen Katholizismus seiner Zeit zu lesen. Sie verrät auch eine tiefe Bewunderung für die Gestalt Jesu und ein Zutrauen zu den Evangelisten als denjenigen Autoren, die – jenseits der Frage, wieweit sie im Einzelnen historisch zuverlässig gearbeitet haben – die Person Jesu in einem gewissen Sinne für alle Zeiten literarisch festgehalten haben.

Wem also »gehört« Jesus von Nazareth? Er »gehört« niemandem, besser aber: allen, die sich mit ihm beschäftigen. Die neutestamentliche Wissenschaft ist als Forschungszweig der Geistes- und Kulturwissenschaften darauf verpflichtet, die Rekonstruktion und Interpretation der historischen Jesus-Gestalt nach allen Regeln ihrer Disziplin vorzunehmen und vorzulegen. Identitätspolitische Programme oder »Projektidentitäten« schließen Diskurse, regulieren Forschungsergebnisse und verhindern Partizipation. Sie widerstreben im Kern den Prinzipien von Wissenschaft. Wer dagegen Forschungstraditionen in ihrer Vielfalt und Komplementarität würdigt und im Spiegel von Multiperspektivität betrachtet, wird auch die Frage offenhalten: Wer war Jesus, und was wollte er? und so die Forschung antreiben – in der Gegenwart und in Zukunft.

Abstract



This article explores the question of where historical Jesus research, as well as Pauline or Gospel research, is headed if it follows the paradigms of »Within Judaism« or »bringing Jesus home« (»Heimholung Jesu«) to Judaism. These paradigms are loaded with identity politics and formulate exclusivity claims that risk limiting the multi-perspectival study of New Testament texts. It is not that New Testament texts can be incorporated into the literary »canon« of Second Temple Judaism that is problematic here, but rather the exclusivity with which this reading model is demanded and at the same time the question of the contribution of the texts to the emergence of the early Christian movement in the 1st century CE is declared obsolete. Instead, the article promotes a culture of scholarship that is grounded in a hermeneutics of constant reconstruction and deconstruction, critically questioning identity politics goals of any kind in scholarly work.

Fussnoten:

1) Vgl. immer noch: G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 42011/32001; J. Roloff, Jesus (Beck’sche Reihe 2142), München 52012; P. Bilde, Den historiske Jesus, Kopenhagen 2008. Vgl. zuletzt z. B. M. Wolter, Jesus von Nazaret, Göttingen 2019.

2) Vgl. zahlreiche Einzelbeiträge in: T. Holmén/S. E. Porter (Eds.), Handbook for the Study of the Historical Jesus (HSHJ Vol. 1–4), Leiden 2011; J. Schröter/C. Jacobi (Hgg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017. – Zur Kriterienfrage z. B.: G. Theißen/D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung: Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium (NTOA 34), Göttingen 1997; J. P. Meier, Basic Methodology in the Quest for the Historical Jesus, in: T. Holmén/S. E. Porter (Eds.), Handbook for the Study of the Historical Jesus (HSHJ 1), Leiden 2011, 291–332.

3) Vgl. A. Reinhartz, Jesus im Film, in: D. Burkett (Ed.), The Blackwell Companion to Jesus, Malden/Oxford 2010, 519–531.

4) So z. B. M. Müller, Jesu-Liv-Litteratur i Danmark. Jesusbilleder eller tidsbilleder?, Kopenhagen 2008; D. Burkett, Images of Jesus: An Overview, in: D. Burkett (Ed.), The Blackwell Companion to Jesus, Malden/Oxford 2010, 1–9.

5) Vgl. S. Scholz/T. Schmitz/M. Schönleben/G. W. Bertram, Dekonstruktion, in: LBH (2009/2013), 126–129.

6) Vgl. K. Syreeni, The Identity of the Jesus Scholar: Diverging Preunder-standings in Recent Jesus Research, in: S. Byrskog/T. Holmén/M. Kankaaniemi (Eds.), The Identity of Jesus. Nordic Voices (WUNT 2/373), Tübingen 2014), 1–16, 15.

7) Vgl. zur neuen Frage nach der Identität Jesu verschiedene Beiträge in: S. Byrskog/T. Holmén/M. Kankaaniemi (Eds.), The Identity of Jesus. Nordic Voices (WUNT 2/373), Tübingen 2014.

8) Vgl. etwa J. Côté, Identity Studies: How Close Are We to Developing a Social Science of Identity? – An Appraisal of the Field, in: Identity 6 (2006), 3–25. – Zu den Paradoxien der Identitätsbestimmung im Sinne der Frage von sozialer Zugehörigkeit vgl. die instruktiven Überlegungen von K. A. Appiha, Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, Berlin/München 2019.

9) So auch festgehalten bei E. Käsemann, … Hat doch wohl die Aufklärung zum ersten Male in der Kirchengeschichte das Problem des historischen Jesus thematisch entdeckt und es, aus der Dialektik des Chalcedonense entnommen, zum Maß der Christologie gemacht, in: EVuB Bd. 2 (1964), 40. – Vgl. zuletzt ausführlich: E. D. Schmidt, Jesus in Geschichte, Erzählung und Idee. Perspektiven der Jesusrezeption in der Bibelwissenschaft der Aufklärung, der Romantik und des Idealismus (HUTh 86), Tübingen 2022.

10) Vgl. zuletzt dazu: P.-G. Klumbies, Neutestamentliche Debatten von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 2022.

11) Vgl. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1906 / Nachdr. der 7. Aufl. (UTB 1302), Tübingen 1984.

12) Vgl. dazu besonders P. Bilde, The Originality of Jesus: A Critical Discussion and a Comparative Attempt (SANt 1), Göttingen/Bristol 2013, bes. 180–245.

13) Vgl. dazu H. B. Moller, The Vermes Quest: The Significance of Geza Vermes for Jesus Research (LNTS 576), London 2017, bes. 75–108.

14) Vgl. a. a. O., 123 (mit Verweis auf J. P. Meier). Vgl. dazu besonders P. Bilde, The Originality of Jesus, (s. Anm. 12), bes. 36–39.261–263. Darauf, dass ebendiese Frage nach der Originalität Jesu von einem Teil der Jesus-Forschung für »obsolet« erklärt wird – so behauptet von K. Ehrensperger, Jesus der Jude. Beobachtungen zu den jüdisch-christlichen Beziehungen in der gegenwärtigen Forschung, in: ThLZ 146 (2021), 21–36, 25 – und dass diese Positionierung sich hemmend auf die weitere Jesus-Forschung auswirken könnte, komme ich später zurück (s. u.).

15) Vgl. J. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 21911, 102: »Jesus war kein Christ, sondern Jude …«.

16) R. Bultmann schrieb nahezu wortgleich zu Wellhausen in: Das Urchris-tentum im Rahmen der antiken Religionen, München/Zürich 1949 – dtv: München 1992, 87: »In den Rahmen der jüdischen Religion gehört auch die Verkündigung Jesu. Jesus war kein ›Christ‹, sondern ein Jude, und seine Predigt bewegt sich im Anschauungskreis und in der Begriffswelt des Judentums …«. Gleichwohl benannte Bultmann hier auch Aspekte von Differenz zum zeitgenössischen Judentum.

17) Bahnbrechend hat hier z. B. auch John P. Meier in seinem monumentalen Werk, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Vol. I–V (AYBRL), New Haven 1991–2016, gewirkt.

18) Darauf weist auch M. Goodman, Die Geschichte des Judentums. Glaube, Kult, Gesellschaft (übers. v. S. Held), Stuttgart 2020, 253, hin.

19) Vgl. etwa S. Mason, Josephus, Judea, and Christian Origins. Methods and Categories, Peabody 2009, bes. 7–43.329–373. Ich selbst habe z. B. darauf hingewiesen, dass Mk 12,35–37 einen raren Beleg für die Entwicklung des Davidssohn-Titels im Zusammenhang messianischer Erwartungen »in schriftgelehrten Kreisen im 1. Jh.« darstellt: E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006, 280.

20) So z. B. zuletzt in der Tendenz vertreten von C. S. Keener, Christobiography. Memory, History and the Reliability of the Gospels, Grand Rapids 2019. – Die Kritik am ersten Band des Jesus-Buches des damaligen Papstes Benedikt XVI. Joseph Ratzinger (Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg u. a. 2007) bezieht sich in ähnlicher Weise auf dessen positivistischen Umgang mit den Evangelien als Geschichtsquellen. Vgl. dazu verschiedene Beiträge in: T. Söding (Hg.), Das Jesus-Buch des Papstes: Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg u. a. 2007. – Zur Diskussion über den zweiten Band (Benedikt XVI. Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg u. a. 2011) vgl. verschiedene Beiträge in: T. Söding (Hg.), Tod und Auferstehung Jesu: Theologische Antworten auf das Buch des Papstes, Freiburg u. a. 2011.

21) Vgl. dazu allgemein: E.-M. Becker, The Birth of Christian History: Mem-ory and Time from Mark to Luke-Acts (AYBRL), New Haven 2017.

22) Pionierarbeit haben hierbei seinerzeit z. B. Seán Freyne und James H. Charlesworth geleistet: S. Freyne, Galilee from Alexander the Great to Hadrian: A Study of Second Temple Judaism, Wilmington 1980; J. H. Charlesworth, Jesus Research and Archaeology: A New Perspective, in: J. H. Charlesworth (Ed.), Jesus and Archaeology, Grand Rapids 2006, 11–63. – S. dazu auch: E.-M. Becker, Jesus and Capernaum in the Apostolic Age: Balancing Sources and Their Evidence, in: S. Byrskog/T. Hägerland (Eds.), The Mission of Jesus: Second Nordic Symposium on the Historical Jesus, Lund, 7–10 October 2012 (WUNT 2/391), Tübingen 2015, 113–139.

23) Vgl. z. B. K. Backhaus, Jesus und Johannes der Täufer, in: J. Schröter/ C. Jacobi (Hgg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 245–252.

24) Vgl. z. B. A. L. Baumgarten, The Baptism of John in a Second Temple Jewish Context, in: J. H. Ellens et al. (Eds.), Wisdom Poured Out Like Water: Essays in Honor of Gabriele Boccaccini, Berlin/Boston 2018, 399–414.

25) Vgl. J. Schröter, Jesus im Kontext. Die hermeneutische Relevanz der Frage nach dem historischen Jesus in der gegenwärtigen Diskussion, in: ThLZ 134 (2009), 905–928; ders., Zur neueren Jesus-Forschung, in: ThLZ 139 (2014), 388–406.

26) Vgl. P. Bilde, Can It Be Justified to Talk about Scholarly Progress in the History of Modern Jesus Research since Reimarus?, in: S. Byrskog/T. Hägerland (Eds.), The Mission of Jesus. Second Nordic Symposium on the Historical Jesus, Lund, 7–10 October 2012 (WUNT 2/391), Tübingen 2015, 5–24; ; H. Moxnes, Jesus and the Rise of Nationalism. A New Quest for the Nineteenth-Century Historical Jesus, London/New York 2012.

27) K. Syreeni, The Identity of the Jesus Scholar (s. Anm. 6), 15.

28) Das gilt besonders in Hinsicht auf die Entstehung neuer Fundamentalismen: Vgl. z. B. T. Meyer, Identitätspolitik. Vom Mißbrauch kultureller Unterschiede, Frankfurt 22015/12002), bes. 90–116.

29) Vgl. z. B. J. Richardt (Hg.), Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt 2018.

30) Zum Begriff s. u.

31) Vgl. K. Ehrensperger, Jesus der Jude (s. Anm. 14).

32) Zum Begriff: T. Meyer, Identitätspolitik (s. Anm. 28), 111.

33) Vgl. zur Forschungsgeschichte: J. P. B. Mortensen, Paul Among the Gentiles. A »Radical« Reading of Romans (NET 28), Tübingen/Basel 2018, 21–43.

34) Vgl. etwa: M. D. Nanos/M. Zetterholm (Eds.), Paul within Judaism: Res-toring the First-Century Context to the Apostle, Minnepaolis 2015. Vgl. zuletzt: P. Fredriksen, What Does It Mean to See Paul »within Judaism«?, in: JBL 141 (2022), 359–380. Eine umfassende kritische Auseinandersetzung bietet zuletzt O. Wischmeyer, A Plea for an Intellectual Biography of Paul: Paul after the New Perspective and the Radical New Perspective, in dies., Paulus. Beiträge zu einer intellektuellen Biographie, hg. v. E.-M. Becker/S. L. Jónsson (WUNT 491), Tübingen 2022, 11-41.

35) A. a. O., 359. – Zu den grundsätzlichen Möglichkeiten und Grenzen der religionsgeschichtlichen Arbeit an neutestamentlichen Texten vgl. M. Tilly, Frühchristliche Religion als Wahrnehmungsobjekt und Erkenntnisprozess. Möglichkeiten und Grenzen eines religionsgeschichtlichen Zugangs zum Neuen Testament, in: EvTheol 74 (2014), 6–21.

36) P. Fredriksen, What Does It Mean to See Paul »within Judaism«? (s. Anm. 34), 359.

37) Vgl. z. B. die verschiedenen Beiträge in: D. Sänger/M. Konradt (Hgg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS für C. Burchard zum 75. Geburtstag (NTOA 57), Göttingen 2006.

38) Vgl. etwa A. Runesson/D. M. Gurtner (Eds.), Matthew within Judaism. Israel and the Nations in the First Gospel (Early Christianity and Its Literature 27), Atlanta 2020; W. V. Cirafesi, John within Judaism. Religion, Ethnicity, and the Shaping of Jesus-Oriented Jewishness in the Fourth Gospel (Ancient Judaism and Early Christianity 112), Leiden 2021.

39) So z. B. W. V. Cirafesi, a. a. O., 185 ff.

40) A. Runesson/D. M. Gurtner, Introduction: The Location of the Matthew-within-Judaism Perspective in Past and Present Research, in: Ders. (Eds.), Matthew within Judaism. Israel and the Nations in the First Gospel (s. Anm. 38), 1–25, 1.

41) A. a. O., 3.

42) A. a. O., 2.

43) Vgl. z. B. K. Ehrensperger, Jesus der Jude (s. Anm. 14), 26: »Das aber bedeutet, die neutestamentlichen Texte als Teil jüdischer Geschichte und Tradition im 1. Jh. zu betrachten.«

44) Zur Forschungsgeschichte der Terminologie vgl. K. Schmid, The Interpretation of Second Temple Judaism as »Spätjudentum«, in: Christian Biblical Scholarship, in: A. Lange/K. Mayerhofer/D. Porat/L. H. Schiffman (Eds.), Confronting Antisemitism from the Perspectives of Christianity, Islam, and Judaism, Berlin/Boston 2020, 141–153.

45) Vgl. zur kritischen Würdigung der Suche nach demcommon Judaism: W. O. McCready/A. Reinhartz (Eds.), Common Judaism: Explorations in Second-Temple Judaism, Minneapolis 2008 – darin: E. P. Sanders, Common Judaism Explored, 11–23.

46) P. Fredriksen, What Does It Mean to See Paul »within Judaism«? (s. Anm. 34), 361.

47) Ebd.

48) Vgl. O. Wischmeyer, Paulusinterpretationen im 20. Jahrhundert. Eine kritische relecture der ersten bis vierten Auflage der »Religion in Geschichte und Gegenwart«, in: P.-G. Klumbies/D. S. du Toit (Hgg.), Paulus – Werk und Wirkung. Festschrift für Andreas Lindemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, 649–685. Vgl. im Blick auf einige differenzierende Überlegungen zur protestantischen Paulusexegese auch: E.-M. Becker, Philip Melanchthon’s reading of Paul’s letter to the Philippians and contemporary exegesis, in: Dies., Der Philipperbrief des Paulus. Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29), Tübingen/Basel 2020, 35–45.

49) So weist H. B. Moller, The Vermes Quest (s. Anm. 13), 76 – zu Recht – z. B. auf die verkürzte Sicht auf die Geschichte der historischen Jesus-Forschung hin, wie sie N. T. Wright präsentiert hat.

50) Vgl. z. B. M. Brumlik, Postkolonialer Antisemitismus?: Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. Bestandsaufnahme einer Diskussion, Hamburg 22022.

51) Vgl. dazu etwa die Arbeiten von Mary Daly.

52) Vgl. etwa den Band: A. Lange/K. Mayerhofer/D. Porat/L. H. Schiffman (Eds.), Confronting Antisemitism from the Perspectives of Christianity, Islam, and Judaism, Berlin/Boston 2020, der als zweiter Band in einer bisher fünfbändigen Reihe »An End to Antisemitism!« derselben Herausgeber von 2019 bis 2021 erschienen ist.

53) Vgl. P. Fredriksen, What Does It Mean to See Paul »within Judaism«? (s. Anm. 34), 359 u. ö.

54) Vgl. A. Runesson/D. M. Gurtner, Introduction (s. Anm. 40), 3.

55) Vgl. dazu etwa D. A. Hollinger, Postethnic America: Beyond Multicultu-ralism, New York 1995/2000, bes. 1–17.

56) Vgl. E. S. Gruen, Ethnicity in the Ancient World – Did it Matter?, Berlin/Boston 2020.

57) Der Bereich der Erforschung der frühchristlichen Bewegung vor dem Hintergrund religiöser Vereine z. B. arbeitet mit der Kategorie der »affiliation«: J. S. Kloppenborg, Christ’s Associations: Connecting and Belonging in the Ancient City, New Haven/London 2019; M. Öhler, Cultic Meals in Associations and the Early Christian Eucharist, in: EC 5 (2014), 475–502.

58) Vgl. etwa F. W. Horn, Götzendiener, Tempelräuber und Betrüger. Polemik gegen Heiden, Juden und Judenchristen im Römerbrief, in: O. Wischmeyer/ L. Scornaienchi (Hgg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte (BZNW 170), Berlin/New York 2011, 209–232, bes. 229 f.

59) Vgl. z. B. H. W. Attridge, Johannesevangelium, in: RGG4 4 (2001), 552–562, 557.

60) S. o. P. Fredriksen (s. Anm. 34); vgl. auch A. Runesson/D. M. Gurtner, Introduction (s. Anm. 40), 9.

61) Vgl. A. Runesson/D. M. Gurtner, Introduction (s. Anm. 40), 9.

62) Im Sinne einer Selbstaufklärung des Fachs ist hier z. B. auf die – im Unterschied zu Martin Heidegger – nachweislich kritische Sicht Bultmanns (und seiner Marburger Kollegen wie Hans von Soden) auf den Nationalsozialismus hinzuweisen, die Konrad Hammann detailliert nachgezeichnet hat: K. Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 2009, bes. 255–295. Hammann legt hiereinerseits die komplexe Auseinandersetzung Bultmanns mit der – im Kern anti-christlich gesinnten – nationalsozialistischen Ideologie dar: »Neben dem Rassenwahn gehörten eine utilitaristische Auffassung des menschlichen Lebens, das nackte Streben nach ökonomischem Erfolg vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer Überzeugungen sowie die Instrumentalisierung der Technik für die Beherrschung – letztlich: die Zerstörung – der Natur zu den tragenden Elementen der nationalsozialistischen Weltanschauung.« (A. a. O., 273)Andererseits arbeitet Hammann den persönlichen Einsatz Bultmanns für Juden und das Judentum sowie den Protest gegen die rassistische Diskriminierung der Juden seit 2. Mai 1933 nuanciert heraus: a. a. O., 275 ff.; ders., Bultmanns Begegnung mit dem Judentum, in: Ders., Rudolf Bultmann und seine Zeit. Biographische und theologische Konstellationen, Tübingen 2016, 41–76. – S. aber zugleich die nächste Anm.

63) Vgl. die fortgesetzte Aufarbeitung des nationalsozialistisch motivierten Antisemitismus in der neutestamentlichen Wissenschaft (s. Geschichte des ThWNT [z. B. G. Kittel] oder des sog. Entjudungsinstituts in Eisenach [W. Grundmann]) und ihren angrenzenden Feldern (s. Geschichte des RAC).

64) P. Fredriksen, What Does It Mean to See Paul »within Judaism«? (s. Anm. 34), 360.

65) Zur Definition der Ansätze und Ziele von »Identitätspolitik« vgl. D. Nohlen, Identitätspolitik, in: Ders./R.-O. Schulze (Hgg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. 1, München 32005, 360.

66) Der Heidelberger Altphilologe Jonas Grethlein spricht inzwischen von einem »Kulturkampf« an den für dieClassics renommierten Orten wie Oxford oder Princeton: Vgl. verschiedene Beiträge zu diesem Themenkomplex von Grethlein in der FAZ vom 10.3.21 (Kulturkampf in den Altertumswissenschaften) und vom 23.6.22 (Joshua Katz, ein neuer Sokrates?) und zuletzt: J. Grethlein, Antike und Identität. Die Herausforderungen der Altertumswissenschaften, Tübingen 2022.

67) So noch D. Nohlen, Identitätspolitik, 360.

68) S. Laurin, Willkommen im Zeitalter der Postidentitätspolitik, in: J. Ri-chardt (Hg.), Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt a. M. 2018, 113–122, 119.

69) Vgl. I. U. Dalferth, Ideologische Selbstzerstörung. Kritische Anmerkungen zur allgemeinen Entwicklung an den Universitäten in den USA, in: https://zeitzeichen.net/node/8764.

70) Vgl. auch kritisch S. Rebenich, Weiße Gelehrte unerwünscht, in: FAZ, 26.11.2020.

71) K. Ehrensperger, Jesus der Jude (s. Anm. 14), 26.

72) A. a. O., 34 f.

73 A. a. O., 35.

74) Ebd.

75) Vgl. die Beiträge in: J. Frey/J. Schröter (Hgg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005.

76) Vgl. z. B. K. E. Pomykala, Messianism, in: J. J. Collins/D. C. Harlow (Eds.), The Eerdmans Dictionary of Early Judaism, Grand Rapids/Cambridge 2010, 938–942.

76) Zur Problematik des Begriffs besonders in Hinblick auf die Begriffs- und Forschungsgeschichte vgl. M. Jackson-McCabe, Jewish Christianity. The Making of the Christianity-Judaism Divide (AYBRL), New Haven/London 2020.

78) M. Goodman, Die Geschichte des Judentums (s. Anm. 18), 260.

79) Der Begriff »Heimholung« geht auf den Erlanger Gelehrten Hans-Joachim Schoeps und dessen Monographie: Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 304, zurück und wird entsprechend bei S. Meißner, Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus (WUNT 2/87), Tübingen 1996, z. B. 85, so hergeleitet und in die Diskussion eingebracht – vgl. dazu auch die Rezension von H. D. Betz, in: Journal of Religion 79 (1999), 467–468, 467. In ihrem Beitrag begründet Ehrensperger den Begriff von W. Homolka her (s. nächste Anm.) und erklärt und problematisiert ihn nicht näher.

80) Vgl. z. B. W. Homolka, Wie gut, dass Jesus Jude war. Das Jesus-Bild im Judentum, in: Herder Korrespondenz Spezial 1 (2007), 14–18; ders., Der Jude Jesus. Eine Heimholung, Freiburg i. Br. 2020. – Vorwürfe wegen Machtmissbrauchs am Abraham Geiger Kolleg, die dessen Rektor Homolka im Frühjahr 2022 veranlasst haben, alle Ämter ruhen zu lassen, werden im Folgenden nicht berücksichtigt, da sie zur Zeit der Abfassung des vorliegenden Beitrages juris-tisch noch nicht aufgearbeitet sind.

81) W. Homolka, Der Jude Jesus (s. Anm. 80), 58 ff. – Vgl. allerdings bereits die Hinweise bei S. Meißner, Die Heimholung des Ketzers, 5.

82) S. o. Anm. 49.

83) Vgl. diesbezgl. kritisch auch M. Brumlik: https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-jude-jesus-versuche-einer-heimholung-100.html, der zuletzt u. a. auch eine Biographie über H. J. Schoeps verfasst hat: M. Brumlik, Preußisch, konservativ, jüdisch. Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk, Wien u. a. 2019.

84) K. Ehrensperger, Jesus der Jude (s. Anm. 14), bes. 34–36.

85) Vgl. C. Danz/K. Ehrensperger/W. Homolka (Hgg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum. Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser (Dogmatik in der Moderne 30), Tübingen 2020.

86) Vgl. dazu auch S. Laurin, Willkommen im Zeitalter der Postidentitätspolitik (s. Anm. 68), 120 f.

87) So noch einmal von P. Bilde, The Originality of Jesus (s. Anm. 12), kritisch auf den Punkt gebracht (s. o.): Er hält Jesus nicht »in an absolute sense«, aber im Profilvergleich verschiedener features für »original« (s. bes. 267 f.).

88) K. Ehrensperger, Jesus der Jude (s. Anm. 14), 25.

89) M. Goodman, Die Geschichte des Judentums (s. Anm. 18), 262.

90) Vgl. die einschlägigen Belege: TacitusAnn. 15,44; SuetonClaud. 25,4; Plinius Ep. 10,96,2 (dort:Christianus ... nomen ipsum!); LukianDe morte Peregrini 11 und 13. – Möglicherweise geht auch die Bezeichnung der μαθηταί als Χριστιανοί in Apg 11,26 (vgl. auch 1Petr 4,16) auf römische Behördensprache zurück – vgl. z. B. M. Öhler, Geschichte des frühen Christentums (UTB 4737), Göttingen 2019, 175; zur Darstellung der Diskussion zuletzt: D. Marguerat, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 2022, 449–451.

91) M. Goodman, Die Geschichte des Judentums (s. Anm. 18), 255.257.

92) Die Wirkung der Person Jesu auf Paulus lässt sich sogar am sog. pneumatologischen Denken des Apostels erkennen: E.-M. Becker, Jesus Christus und der Geist Gottes. Neutestamentliche Denkansätze zu einer christusbezogenen Pneumatologie, in: B. Dahlke/C. Dockter/A. Langenfeld (Hgg.), Christologie im Horizont pneumatologischer Neuaufbrüche. Bestandsaufnahmen und Perspektiven (Quaestiones disputatae 325), Freiburg u. a. 2022, 95–118, bes. 108 f.

93) J. Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien (s. Anm. 15), 103.

94) Vgl. G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus, 20013 (s. Anm. 1), 216 ff.

95) A. Schweitzer, Geschichte (s. Anm. 11), 630: »Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat … Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist.«

96) T. Meyer, Identitätspolitik (s. Anm. 28), 225.

97) Vgl.: https://www.deutschlandfunk.de/amos-oz-judas-war-vielleicht-der-einzige-christ-der-welt-100.html.

98) J. W. von Goethe, Tagebuch der italienischen Reise (Insel-Taschenbuch 176), Frankfurt a. M. 19876, 169.