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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1238–1240

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Etzelmüller, Gregor, u. Claudia Rammelt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Migrationskirchen. Internationalisierung und Pluralisierung des Christentums vor Ort.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 724 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374067695.

Rezensent:

Benjamin Simon

Seit Ende des letzten Jahrtausends ist im deutschsprachigen Raum der Fokus zunehmend auf die Pluralisierung der christlichen Konfessionen gerichtet worden. Durch Migration und Zuzug verschiedenster Provenienz haben sich Menschen heterogener Herkunft, bedingt durch sehr unterschiedliche Motivationen, im deutschsprachigen Raum niedergelassen. Zu einem Großteil handelt es sich um Menschen christlichen Glaubens. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass die christliche Vielfalt inzwischen im deutschsprachigen Kontext Europas angekommen ist. Diese Vielfalt an Konfessionen gehört inzwischen zum christlichen Pluralismus vor Ort – auch wenn dies nur begrenzt wahrgenommen wird. Erfreulicherweise sind in den letzten zwei Jahrzehnten etliche Einzelstudien zu diesem Themenfeld erschienen.

Die Herausgeber des vorliegenden Bandes, Gregor Etzelmüller und Claudia Rammelt, legen einen voluminösen Sammelband vor, der sich ausgiebig und in ausgewogener Form mit der Thematik auseinandersetzt.

Das Werk ist in drei Teile untergliedert: In den ersten Teil zu »Migration als Thema der Theologie« (31) führt Gregor Etzelmüller ein. Der Begriff der Migrationskirchen erfährt hier seine Legitimation, da es Kirchen in Europa gibt, die es »ohne Migrationsprozesse nicht gäbe« (16). Diesen Kirchen unterschiedlicher Traditionen und Herkunft soll »Ekklesialität« zuerkannt werden. Weiterhin umfasst diese Einführung u. a. einen Forschungsüberblick, der leider recht kurz geraten ist und den Forschenden erster Generation zu dieser Thematik nicht gerecht wird. Dagegen wartet die Reflexion über die religionsproduktive Kraft von Migrationsgemeinden mit guten Ansätzen auf. Dieses erste Kapitel umfasst acht Artikel von namhaften Kollegen und Kolleginnen, die sich aus verschiedensten theologischen Perspektiven mit der Thematik auseinandersetzen. Sie bringen das Themenfeld der Migration ins Gespräch mit dem Alten Testament (Döhling), dem Neuen Testament (Wick, Kahl), der Christentumsgeschichte (Becker, Frei), dem Diasporaverständnis (Burlacioiu), aber auch mit Fragen der Macht (Jahnel) und Innovation (Polack).

Der zweite Teil des Werks wird eingeführt durch Claudia Rammelt und ist überschrieben mit: »Migrationskirchen – Einblicke und Gegenwartsanalysen« (187). Hat der erste Teil eine theologische Fundierung geliefert, will der zweite, um vieles umfangreichere Teil mit zweiundzwanzig Beiträgen den konkreten Bezug zu den »Migrationsgemeinden« schaffen; er will »Einblicke und Gegenwartsanalysen in den Reichtum all der Christentümer« geben, »die als Migrationskirchen bzw. postmigrantische Gemeinden bezeichnet werden« (192). Dieses Kapitel macht die Diversität dieses ekklesiologischen Phänomens deutlich. Die vielfältigen Beiträge aus orthodoxen (Rammelt, Gorgis, Önder, Kaplan, Thon, Mihoc) und katholischen (Thränhardt/Winterhagen, Muziazia) Kontexten, aus dem afrikanischen (Matawana), lateinamerikanischen (Baumann-Neuhaus), arabischen (Josua) oder asiatischen (Höfer, Pham/Gia Vo, Liu) Raum sowie aktuelle Entwicklungen der zweiten Generation (Kahl) und ihre Vernetzungsstrategien bis hin zu Bibelhermeneutik führen vor Augen, dass das Phänomen der Migrationsgemeinden und -kirchen von eminenter Bedeutung ist und eine aktuelle Aufgabe christlicher Theologie und angrenzender Disziplinen darstellt, will man den christlichen Kontext im Europa des 21. Jh.s verstehen und eine ökumenische Vernetzung bzw. ein konviviales Miteinander etablieren.

Der dritte und letzte Teil, der von Claudia Hoffman eingeleitet wird, handelt von »Migrationskirchen als Chancen und Herausforderungen der vor Ort etablierten Kirchen« (539). Nach Hoffman verdeutlichen diese Beiträge, dass »alle Kirchen, seien es nun etablierte Landeskirchen, klassische Freikirchen oder Migrationskirchen, sich heute und auch in Zukunft noch in einer Pendelbewegung zwischen ökumenischer Beziehungsarbeit und interkultureller Öffnung befinden« (541). Dabei gilt es nicht, diese Spannung aufzu- heben, sondern den Kirchen zu ermöglichen, sprachfähig zu werden. Mit berechtigter Kritik konstatiert Hoffman, dass es den meisten Kirchen stets um Integrationsarbeit – in Gesellschaft und Kirche – geht, weniger um die ökumenische Frage nach zwischenkirchlichen Beziehungen auf Augenhöhe. Folglich widmet sie dieser weiterführenden Fragestellung einen Teil ihrer Einführung.

Dieser letzte Teil umfasst neun Beiträge. Darunter ist der Artikel von Johannes Weth mit Überlegungen zu einer interkulturellen Ekkklesiologie, wobei er vier Dimensionen von Differenzerfahrungen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellt (561 ff.), ausführlich nachzulesen in seiner Dissertationsschrift. Bendix Balke geht konkret durch seine EKD-Erfahrungen sowie Gemeindeerfahrungen auf »empirische Beobachtungen« ein (633) und stellt 18 weiterführende Fragen. Andrea Bieler und Tabea Eugster-Schaetzle nehmen den Gottesdienst und die Seelsorge in den Blick und teilen erste Erkenntnisse aus ihrem zukunftsweisenden Forschungsprojekt an der Universität Basel zu differenzsensibler Ekklesiologie, um aufzuzeigen, »in welchem Spannungsfeld diverse Gemeinden stehen« (696).

Dieser Sammelband birgt Schätze, die man in einer kurzen Rezension nicht alle zu heben vermag. Die Diversität der ausgewählten Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge zeichnet bereits die Bandbreite des Themenfeldes ab.

Es bleibt die Hoffnung, dass ein solch beeindruckender Band nicht nur in der kirchlichen Landschaft, in der diese Thematik schon eher angekommen ist, seinen Einfluss ausüben wird, sondern insbesondere auch in der akademischen Theologie, die bedauerlicherweise die Thematik der »Migrationskirchen« samt all ihrer Themenfelder bisher vernachlässigt hat. Der Band eignet sich durchaus, um ihn als Grundlage für eine akademische Lehrveranstaltung heranzuziehen.

Zu guter Letzt ein Desiderat: Wohl wissend, dass in der Schweiz der Begriff der Migrationskirchen offiziell verwendet wird, wäre es doch angebracht gewesen, gemeinsam mit den Vertretern und Vertreterinnen dieser Gemeinden und Kirchen nach einem Begriff zu suchen, der ihre Identität widerspiegelt und sie nicht auf eine Vergangenheitserfahrung reduziert. Spätestens für die zweite Generation, die inzwischen losgelöst von der ersten Generation und deren kulturellen Prägungen ihre eigenen Gemeinden und Kirchen eröffnet, ist die Reduzierung auf Migration ein No-Go.

Ein hilfreiches Autorenregister rundet das Werk ab.