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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1224–1226

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lincoln, Ulrich

Titel/Untertitel:

Prekäre Geschöpflichkeit. Beiträge zum theologischen Gewaltdiskurs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIII, 506 S. = Religion in Philosophy and Theology, 107. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783161601132.

Rezensent:

Rebekka A. Klein

Warum sollte die Theologie sich mit der Wirklichkeit der Gewalt beschäftigen und warum wird sie eine andere Theologie sein, nachdem sie dies getan hat? Antworten auf diese Fragen formuliert das vorliegende Buch von Ulrich Lincoln. In ihm wird die These vertreten, dass Gewalt als ein fundamentaltheologisches Thema in der Systematischen Theologie systematisch vernachlässigt worden ist und dass daher mit einer gehaltvollen Thematisierung der Gewalt ein fundamentaler Paradigmenwechsel im Selbstbild und Selbstverständnis ebendieser Disziplin und Denkform verbunden sein muss. Insofern handelt es sich bei diesem Buch nicht um einen »Beitrag« zum theologischen Gewaltdiskurs, sondern um den Versuch zu dessen Revolutionierung und Umstürzung.

L. wählt in seinem Buch konsequent einen Ausgangspunkt der Theologie, von dem her es unmöglich wird, ihr Fragen, Nachdenken und Verstehen vorschnell in ethische Leitbilder einzufügen und das Wesen der Religion zu moralisieren. Die Wirklichkeit, von der seine Theologie lebt und zu der sie sprechen möchte, ist keine gewaltfreie oder nur marginal durch Gewaltphänomene an ihren Rändern bedrohte Wirklichkeit. Gerade darin ist sie politische Wirklichkeit. Es macht diese Wirklichkeit L. zufolge aus, dass sie von Erfahrungen der Gewalt durchzogen und in diese verstrickt ist, ohne sich ihnen final entziehen zu können. Von ihr ausgehend möchte er daher das eigene Recht einer »Theologie des Politischen« (10) begründen, die den politischen Sinn des Glaubens am Ort der Gewalt und nicht jenseits von ihm eruiert.

Mit seinem Buch schließt L. zunächst eng an die Diagnose Ch. Taylors an, dass die Glaubwürdigkeit des Christentums im Zuge der andauernden Modernitätsdynamiken erheblich daran hänge, dass die Frage der Gewalt im Gespräch mit dem säkularen Bewusstsein durchgearbeitet werde. Er konstatiert, dass die gesellschaftliche Reflexivität der Gewalterfahrungen insbesondere des 20. Jh.s, aber auch die interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Gewaltforschung der letzten Jahrzehnte theologisch noch nicht eingeholt seien. Dort sei das Thema der Gewalt vor allem deshalb in den Vordergrund gerückt worden, weil Gewalthandeln im Zusammenhang mit modernen Gesellschaften in besonderer Weise erklärungsbedürftig geworden sei. In den internen theologischen Debatten werde dies jedoch vor allem deshalb gar nicht registriert, da diese im Geiste der Aufklärung stets nach dem ethischen und nicht nach dem politischen Sinn des Glaubens fragen. In verdienstvollen, aber die Gewalt abblendenden Publikationsoffensiven zur Friedensethik und zum gerechten Frieden (FEST) in den vergangenen Jahren komme die Gewalt nicht an sich selbst, sondern nur als zu überwindendes Moment auf dem Weg zum Gewaltverzicht in den Blick. Daher drohe die »Thematisierung des Gewaltverzichts zugleich das Interesse an der theologischen Aufklärung des Gewaltphänomens« (35) aufzuheben. Gewalt sei in den friedens-ethisch ausgerichteten Diskursen der Systematischen Theologie nur noch als »bereits Überwundenes« im Blick, es werde ihr ein eigenes ontologisches Gewicht abgesprochen (so z. B. in Meireis 2018). Die Theologie habe sich damit dem »Geschichtsbild einer im Ziel gewaltfreien Moderne« (36) verschrieben und erliege dem von H. Jonas vorgebrachten Vorwurf einer Bagatellisierung der Gewalt. Wo sie im und am Kreuz direkt mit Gewalt konfrontiert sei, unterlaufe sie dies durch das theologische Interpretament des Leidens Jesu und seiner Universalität. Ihr Gewaltbegriff sei zudem phänomenologisch unterbestimmt und »auf ein instrumentelles Gewaltverständnis beschränkt« (81).

Die damit offengelegte Lücke der theologischen Forschung möchte L. nun schließen. Dazu müsse in der Innenperspektive des Glaubens anerkannt werden, dass dieser Glaube »bis in seinen Grund hinein der Gewalterfahrung nicht entkommt« (474). Das im Glauben bezeugte Bild des Christus am Kreuz sei ein Bild der Gewalt. Es sei die Leibhaftigkeit des Kreuzes und der in ihm verdichteten Gewalterfahrung, welche in das inkorporierende Handeln der Kirche eingehe, aber auch als Einweisung in ein militärisches Handeln der Politik seit Konstantin gewirkt habe. Im ersten Fall werde das Bild der Gewalt jedoch durch die Perspektive der Auferstehung sofort wieder unterlaufen, im zweiten als erneute Einweisung in ein gewaltsames Handeln missbraucht. Im verleugnenden und im affirmierenden Gebrauch des Gewaltbildes »Kreuz« zeige sich jedoch zugleich die für das Christentum konstitutive Rolle des Dritten neben Opfer und Täter der Gewalt, an die auch L. theologisch anschließen möchte: die Macht des Zeugnisses der Gewalt.

Dessen Rolle und Vollzugsform ist nun nach L. neu zu bestimmen: So dürfe das Zeugnisgeben von der Gewalt dem Dasein der Gewalt nicht ausweichen und sich nicht in Gewaltblindheit der Verleugnung hingeben. Mythische Bilder der finalen »Erlösung von der Gewalt« dürften darum im Zeugnis nicht reproduziert werden. Die Rolle des Zeugnisses sei vielmehr so zu verstehen, dass es inmitten der anhaltenden Gewalt stets auf den Ruf der Nicht-Gewalt als einem Anderen der Gewalt höre und diesem gemäß von der Gewalt spreche. Dies erfordere – wie L. gegen H. Theissen und G. Thomas formuliert – ein Verständnis der Zeugenschaft, welches diese mit P. Ricœur als Selbst-Bezeugung und nicht als Gewissheit begreift. Mit Rahner deutet L. Zeugenschaft zudem als eine geschöpfliche Möglichkeit der Freiheit, die als »geschöpfliche« zugleich immer das Moment der Brüchigkeit, des Risses im Zeugnis und seiner Fraglichkeit an sich trägt. Vorgebildet sei eine solche Zeugenschaft in der Form einer indirekten Mitteilung der Gewalt im Werk S. Kierkegaards.

Der eigene theologische Vorschlag von L. besteht sodann darin, im Leitbild prekärer Geschöpflichkeit und humaner Verletzlichkeit über Gewalt nachzudenken und die Aufgabe von Theologie und Kirche darin zu sehen, in einer bestimmten Form ein Zeugnis der Gewalt zu geben (anstatt diese zu verleugnen). Dieses Zeugnis dürfe nicht die Form einer »Mystik des Leidens« (so bei J. B. Metz) annehmen und sich auch keinesfalls der »moralischen Ökonomie« der Erinnerung und der Stellvertretung »der Opfer« (im Singular) verschreiben, wie es gegenwärtig oft der Fall sei. Vielmehr sei dieses Zeugnis »im Kreuz« und damit weniger als selbstgewisse denn als brüchige Erinnerung der dem Glauben eigenen (!) Gewaltverstrickung zu vollziehen. In der Anerkennung ihrer eigenen Fraglichkeit könne diese prekäre Zeugenschaft der Glaubenden die theologische wie kirchliche (moralische) Selbstüberhöhung und -immunisierung gegen die Gewalt überwinden. Die auf dieser Linie der selbstkritischen Argumentation sich ebenfalls auftuende Frage, inwiefern der Glaube nicht nur die Gewalt zwischen Menschen bezeugt, sondern von einer ihm selbst zueigenen Gewalt der Transzendenz (und ihrer Säkularisierung am Ort der Moral) getrieben ist, leuchtet hier am Horizont auf, wird jedoch von L. nicht mehr eigens diskutiert.

Das Buch L.s ist ausgesprochen lesenswert. Es lebt von einer entschlossenen Herangehensweise an sein Thema, denn es fordert nichts Minderes als einen radikalen Perspektivwechsel der Theologie ein. Damit stellt es den Leser vor einige Herausforderungen, nämlich umzudenken, was ihm liebgeworden ist. Der Entschlossenheit der Herangehensweise korrespondiert eine ungemeine Fülle an Überlegungen und eine geradezu Schwindel erregende Verknüpfung von weit auseinanderliegenden Diskursen, die L. miteinander ins Gespräch zu bringen sucht. Dabei behält er gleichwohl immer den roten Faden und damit sein Thema an der Hand. Der Autor hat mit seiner Arbeit ein – insbesondere für die Diskurse der politischen Theologie – wichtiges Thema neu angestoßen: eine Beschäftigung mit der Gewalt statt nur mit dem Gewaltverzicht. Er zeigt, dass politische Theologie, die nicht mit Ethik zur Deckung kommt, ein eigenes Erkenntnisinteresse und eine eigene Berechtigung hat. Ihre Aufgabe ist es, in (Nicht-In-)Differenz zur Ethik den Eigensinn des Wirklichen gegenüber jenen Formen religiöser und theologischer Rede zu verteidigen, welche die Per-sistenz der Gewalt permanent verleugnen.