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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1222–1224

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kieslinger, Kristina

Titel/Untertitel:

Ethik, Kontemplation und Spiritualität. Thomas Keatings ›Centering Prayer‹ und dessen Bedeutung für die theologische Ethik.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag; Basel u. a.: Schwabe Verlag 2019. 470 S. = Studien zur theologischen Ethik, 155. Kart. EUR 80,00. ISBN 9783429054618 (Echter); 9783796540455 (Schwabe).

Rezensent:

Peter Zimmerling

Die zu besprechende Untersuchung wurde 2018 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation im Bereich Moraltheologie angenommen. Die Verfasserin Kristina Kieslinger leitet heute die Arbeitsstelle Theologie und Ethik im Deutschen Caritasverband e. V. in Freiburg i. Br.

Die Beschäftigung mit der Mystik hat seit einigen Jahrzehnten sowohl im katholischen als auch im evangelischen Raum Konjunktur. Spätestens seit dem berühmt gewordenen Ausspruch Karl Rahners von 1966, dass den Mystikerinnen und Mystikern die Zukunft der Kirche gehören wird, findet sie auch in der wissenschaftlichen Theologie Beachtung. Der Reiz des vorliegenden Buches besteht darin, dass es eine spirituelle Übung aus dem Bereich der Mystik auf ihre Bedeutung für die Theologische Ethik hin untersucht. Das Zweite Vatikanische Konzil in den 1960er Jahren hat nicht nur die Mystik im Katholizismus demokratisiert, d. h. sie von der Vorstellung befreit, eine Ausnahmeerfahrung nur weniger Gläubiger zu sein. Es hat der katholischen Ethik auch aufgetragen, das Wesen der christlichen Berufung zum Handeln aus dem Glauben zu durchdenken.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile, denen ein Vorwort und eine Einleitung voran- und ein Resümee nachgestellt sind. Im ersten Hauptteil werden unter der Überschrift »Vorüberlegungen« die Prämissen und die Hermeneutik einer Kontemplativ Induzierten Ethik vorgetragen. Im zweiten Hauptteil geht es um die Darstellung des Centering Prayers von Thomas Keating. Der dritte Hauptteil hat die Aufgabe, einen wissenschaftlichen Bezugsrahmen für eine von Keating inspirierte Kontemplativ Induzierte Ethik zu erstellen. Die Vfn. zieht dazu die Strukturphilosophie des früheren Würzburger Philosophen Heinrich Rombach (1923–2004), Überlegungen des früheren Tübinger Moraltheologen Alfons Auer (1915–2005) zur autonomen Moral und Karl Rahners (1904–1984) Existenzialethik heran. Im vierten Hauptteil legt die Vfn. den Entwurf einer Kontemplativ Induzierten Ethik vor, indem sie die spirituelle Praxis der Kontemplation nach Thomas Keating einer Relecture auf dem Hintergrund der drei systematisch-theologischen bzw. philosophischen Ansätze von Rombach, Auer und Rahner unterzieht.

Ausgangspunkt der Arbeit Kieslingers ist das kontemplative Gebet, speziell des Centering Prayers, von Thomas Keating OCSO (1923–2018), eines US-amerikanischen Trappistenmönchs und Abts. Seine mystisch geprägte spirituelle Praxis zeigt, dass ein kontemplatives Leben nicht zu verwechseln ist mit einer weltabgewandten Haltung. Gemäß der zahlreichen spirituellen Schriften Keatings führt ein kontemplatives Leben im Gegenteil zu einer gesteigerten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Man könnte die von Keating vertretene Mystik mit einem Ausdruck von Johann B. Metz mit »Mys-tik der offenen Augen« bezeichnen. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis des »That which is«, wie Keating die alles umgreifende und durchdringende Wirklichkeit Gottes nennt. Im Gefolge dieser Erkenntnis wird der Mensch in die Lage versetzt, die Liebe Gottes in seinem Leben zu verwirklichen. Dabei ist die gelebte Stille, verstanden als »Muttersprache Gottes«, die Innenseite der Außenseite des geschäftigen Alltags. Methodisch grundlegend für das Center-ing Prayer ist, jeden Tag für die Dauer von zweimal 20–30 Minuten in der Stille zu sitzen. Äußere Voraussetzung dafür sind ein Zeitpunkt, an dem die Betenden wach und aufmerksam sind, und ein Ort, an dem sie in relativer Ruhe in einer angenehmen Position verweilen können. Um die sich dabei einstellenden Gedanken gering zu halten, empfiehlt Keating den Betenden ein »Heiliges Wort«, in dem sie ihre Absicht ausdrücken können, für Gott offen zu sein. Das Ziel der Übung besteht darin, Gott im Innersten als anwesend und wirksam zu erleben. Aus den Schriften Keatings wird deutlich, dass es ihm darum geht, dass es den Betenden gelingt, die kontemplative Praxis des Centering Prayers in den Alltag zu integrieren. Es handelt sich um eine alltagsverträgliche Weise spiritueller Übung. Für den spirituellen Weg Keatings sind dabei vier Aspekte zentral: der Glaube an die göttliche Einwohnung in jedem Menschen; die Erfahrung der göttlichen Präsenz als liebevoll, heilsam und transformierend; die wachsende Fähigkeit, die Beziehung zu dieser Präsenz Gottes sowohl im Gebet selbst als auch im alltäglichen Leben zu genießen; das Erleben des kontemplativen Weges nicht als spirituelle Vervollkommnung des betenden Individuums, sondern des mystischen Leibes Christi und darüber hinaus der ganzen Menschheitsfamilie.

Die Schwierigkeit der Vfn. bestand darin, mystische Erfahrung und theologische Ethik nicht nur material, sondern auch erkenntnistheoretisch zusammenzudenken. Wie die Vfn. betont, hat Keating selbst die kontemplative Erfahrung nicht in wissenschaftlicher Weise reflektiert und dargestellt. Um dessen spirituellen Ansatz für eine Kontemplativ Induzierte Ethik fruchtbar zu machen, war es deshalb nötig, sich erkenntnistheoretischer Einsichten anderer, eben der bereits genannten drei katholischen Denker Rombach, Auer und Rahner, zu bedienen. Als besonders fruchtbar für eine Kontemplativ Induzierte Ethik erwiesen sich in diesem Zusammenhang das Wirklichkeitsverständnis Keatings und das sich daraus ergebende Gott-Mensch-Verhältnis. Für die dem Centering Prayer zugrundeliegende Theologie sind die Aspekte von Erkenntnis und Beziehung grundlegend. Durch das Centering Prayer ereignet sich im Menschen ein Reinigungsprozess, der zu einer neuen Haltung der »non-possessiveness« führt, die es erlaubt, die Dinge der Welt zu genießen, ohne sich an sie zu verlieren. Die Kontemplation führt zu einem umfassenden Transformationsprozess, der es dem Menschen erlaubt, aus einer inneren Freiheit heraus zu handeln. Ein Mehr an Erkenntnis führt zu einem Besser des Handelns. Im Kontext der Kontemplation gründet das Sittliche in der Erkenntnis eines »That Which Is«. Das bessere Handeln hat seinen Ort nicht mehr in universalen Normen, sondern in der individuellen Entscheidung des einzelnen Christen. Nicht das Sein als Faktizität, sondern die darin enthaltene ungegenständliche Wirklichkeit, das »That Which Is« und deren existentielle Dimension, konstituieren den sittlichen Anspruch.

Zweifellos macht der Versuch, die kontemplative, mystische Erfahrung in ihrer Bedeutung für die Theologische Ethik zu untersuchen, das vorliegende Buch interessant. Die Vfn. arbeitet in überzeugender Weise heraus, dass Mystik und Ethik keine Gegensätze darstellen müssen – so ein lange vertretenes und bis heute sich hartnäckig haltendes Fehlurteil der liberalen evangelischen Theologie an der Wende vom 19. zum 20. Jh. Im Gegenteil birgt die regelmäßige Praxis der Kontemplation Handlungspotenziale, die Menschen sonst verschlossen bleiben. Der evangelische Mystiker Dag Hammarskjöld (1905–1961), der langjährige zweite Generalsekretär der UNO, ist ein herausragendes Beispiel dafür.

Als von Luthers Theologie geprägter Rezensent fiel mir die dezidiert katholische Prägung des Ansatzes der Arbeit immer wieder auf. Dazu gehörte die Ineinssetzung von Offenbarung und Vernunft. Vor allem aber fehlte mir eine deutlichere Berücksichtigung der Tatsache, dass auch die mystische Erfahrung nicht eo ipso die Selbstlosigkeit des menschlichen Handelns garantiert. Auch eine kontemplative Lebensführung führt den Gläubigen nicht über das Simul iustus et peccator-Sein hinaus.