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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1220–1222

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Heimbach-Steins, Marianne, Becka, Michelle, Frühbauer, Johannes, u. Gerhard Kruip [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Christliche Sozialethik. Grundlagen – Kontexte – Themen. Ein Lehr- und Studienbuch.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2022. 528 S. Kart. EUR 29,95. ISBN 9783791733227.

Rezensent:

Alexander Merkl

Dieses Studien- und Lehrbuch stellt ein Gemeinschaftswerk dar, das von vier deutschsprachigen katholischen Sozialethikern her-ausgegeben wird: Marianne Heimbach-Steins (Münster), Michelle Becka (Würzburg), Johannes Frühbauer (München) und Gerhard Kruip (Mainz). Es mag sich als Nachfolgewerk zum zweibändigen Lehrbuch »Christliche Sozialethik« verstehen lassen, das in den Jahren 2004 und 2005 von Marianne Heimbach-Steins herausgegeben worden war und bislang als einschlägiges Nachschlagewerk fungierte. Fast zwei Jahrzehnte später aber haben sich Kirche und Theologie, Gesellschaft und Welt in einer teils derart dramatischen Art und Weise verändert, dass ein neues, nun einbändiges Lehrbuch sinnvoll und auch nötig ist, um die gegenwärtigen »Zeichen der Zeit« im Spiegel des Evangeliums deuten zu können. Als Adressaten des Buches werden primär Studierende genannt, aber auch interessierte Personen, die sich in anderen Kontexten mit gesellschaftlichen Herausforderungen aus einer sozialethischen Perspektive beschäftigen wollen.

Neben den Herausgebern, die den Großteil der mehr als dreißig Einzelbeiträge verfasst haben, sind auch noch weitere Autoren und Autorinnen vertreten: Markus Vogt (München), Alexander Filipović (Wien), Christian Spieß (Linz), Anna Maria Riedl (Bonn) und Daniel Bogner (Fribourg). Die Lesenden kommen dadurch mit individuell unterschiedlichen Zugängen, Diktionen und Schwerpunktsetzungen in Berührung, was als gewinnbringend anzusehen ist. Dies bedeutet aber auch, dass sich je nach individueller Vorliebe manche Kapitel einfacher erschließen als andere. Als »rote Fäden« (19) durchziehen Leitideen wie »Gutes Leben und Gerechtigkeit«, »Verantwortung und Beteiligung« sowie »Theorie und Praxis« das Lehrbuch.

Dessen Aufbau ist klar strukturiert, mit dem vorrangigen Ziel, Zugänge zur christlichen Sozialethik als theologischem Fach zu eröffnen und zu einer zeitgemäßen sowie kompetenten Ausein-andersetzung mit sozialethischen Fragen zu befähigen. Ein umfangreicher erster Teil »Fundamentale Sozialethik« leistet neben Grundlegungen (A), welche die Sozialethik im Miteinander unter anderem zu verschiedenen Gesellschaftstheorien, zur Sozialphilosophie oder zur Theologie näher bestimmen, auch »Historische Vergewisserungen« (B). Die Verwurzelung der Sozialethik sowohl im Sozialkatholizismus als auch in der kirchlichen Sozialverkündigung wird überaus aufschlussreich und gut nachvollziehbar dargestellt, bisweilen auch tabellarisch veranschaulicht. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein dritter Block »Normative Orientierungen« (C). Hier werden zentrale Grundbegriffe und Prinzipien der christlichen Sozialethik wie Verantwortung, Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Menschenrechte, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit skizziert. Jedes dieser drei Teilkapitel beginnt mit einem Vorspann und schließt mit einer Synthese, welche die vorangegangenen Inhalte zusammenführt, Verbindungslinien aufzeigt und weiterführende Gedanken andeutet.

Ein zweiter großer Teilbereich widmet sich »Kontexten und Handlungsfeldern«. Es geht im Kern um die anwendungsbezogene Konkretion der zuvor behandelten fundamentalmoralischen Grundlagen. Hierfür werden zunächst einige Kontexte (D) beschrieben: Politik, Wirtschaft, Technik, Ökologie, Religion und Kultur. Daran schließen mehrere Handlungsfelder (E) an: Arbeit, Soziale Sicherung, Bildung, Medien, Lebensformen, Migration, weltweite Armut, Gesundheit, Klimaschutz, Frieden und Kirche. Die Differenzierung zwischen Kontexten und Handlungsfeldern mag überraschen. Mit dem Begriff »Kontexte« soll das Gewebe der zwar je für sich zu analysierenden, aber nicht unabhängig voneinander sich entwickelnden Dynamiken von Politik, Wirtschaft usw. ausgedrückt werden. Vor dem Hintergrund der Kontexte werden dann elf konkrete Handlungsfelder identifiziert: »Fragestellungen, die sich in den Kontexten stellen, kehren in den Handlungsfeldern querschnittsartig wieder.« (23)

Schon vor der eigentlichen Lektüre wird damit ersichtlich, dass das Programm des Bandes umfassend und das Vorhaben, die christliche Sozialethik in Lehrbuchform auf 500 Seiten darzustellen, gewiss ambitioniert ist. Letztlich ist es aber immer ein Wagnis, ein Studien- und Lehrbuch zu verfassen und dabei die richtige Balance zwischen zu viel und zu wenig zu finden, Studierende zu motivieren und nicht abzuschrecken, einzuführen und doch auch Weiterführendes anzudeuten, die Lesenden zu fordern, aber nicht zu überfordern. Schnell wird sich für das vorliegende Buch jedoch der Eindruck verfestigen, dass den Beitragenden dieser Spagat gleichsam durchgehend gelungen ist.

Es handelt sich somit um ein Lehrbuch, das ohne jeden Zweifel vielseitig in der Lehre einsetzbar ist und seinen Platz im Fach bereits gefunden haben dürfte. Beiträge wie zum Verantwortungsbegriff oder zum Handlungsfeld Medien, um nur zwei Beispiele zu nennen, könnten Studierenden guten Gewissens direkt zur Lektürearbeit vorgelegt werden. Manche Teilkapitel erweisen sich dabei auch für fortgeschrittene Lesende als anregend. Die gewählte Struktur ermöglicht eine gezielte inhaltliche Recherche. Als für Lernende besonders hilfreich erweisen sich die regelmäßigen Merksätze, die gleichsam im Sinne einer »Take-Home Message« zentrale Inhalte nochmals prägnant zusammenfassen. Dies erleichtert nicht nur den Lesefluss und das Verstehen, sondern prüft auch das eigene Verständnis und fördert die Motivation. Hier ordnen sich auch die Leitfragen ein, die zu Beginn jedes Kapitels formuliert werden. Durch Querverweise werden sachliche Bezüge zwischen den Einzelkapiteln markiert. Weiterführende Literatur wird ebenfalls, wenngleich sehr sparsam, angegeben.

Die Grenzen des Lehrbuchs, wie sie zumeist in der Natur der Sache liegen, werden letztlich von den Herausgebern selbst klar erkannt und benannt (5). Möglicherweise wären vereinzelte Passagen etwas knapper, ohne inhaltlichen Substanzverlust, möglich gewesen. Vielleicht hätte mit Blick auf die weiterführende Literatur am Ende jedes Einzelkapitels noch breiter gestreut werden können. Manche äußerst wirkmächtigen Theorien wie die Rawlssche Gerechtigkeitstheorie oder der Capability Approach von Martha Nussbaum werden, gewiss formal bedingt, nur äußerst knapp behandelt (211–213). Ob dies den Denkansätzen gerecht wird und für Studierende wirklich nachvollziehbar ist, kann angefragt werden. Gerade auch im Hinblick auf die vielen konkreten Handlungsfelder muss letztlich vieles ungesagt bleiben oder kann allenfalls angerissen werden. Hier ist schlichtweg anzuerkennen, dass »im Rahmen eines Lehrbuchs nur Skizzen angeboten werden können« (23). Ein Lehrbuch braucht immer den Mut zur begründeten Lücke und gibt damit zwangsläufig Anlass zur Rückfrage, warum dies oder jenes so und nicht anders umgesetzt worden ist, ohne damit aber von echten Defiziten sprechen zu wollen oder zu können.

Gut lesbare, kompakte, adressatenorientierte, konzeptionell überzeugende und inhaltlich kompetente Lehrbücher sind heute, mit Blick auf eine sich seit einigen Jahren doch deutlich verändernde Studierendenlandschaft, und nicht erst seit der Corona-Pandemie notwendiger denn je. Immer wieder stellt sich für Lehrende die Frage, welche Lehrbücher Studierenden gerade in den ersten Semestern ihres Studiums und noch dazu für das häusliche Eigenstudium zugemutet und zur Anschaffung empfohlen werden können. Für die christliche Sozialethik kann diese Frage vorerst als beantwortet gelten.