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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1217–1218

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wolgast, Eike

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts als kodifizierte Reformation.

Verlag:

Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2021. VIII, 213 S. = Heidelberger Akademische Bibliothek, 6. Geb. EUR 19,90. ISBN 9783520900067.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Im Jahr 2020 wurde ein wichtiges reformationsgeschichtliches Editionsprojekt zu Ende gebracht: die 1902 von Emil Sehling begonnene Sammlung der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jh.s. In 24 Bänden liegt dieses wichtige Quellenkorpus nun vor. Eike Wolgast hat die Bearbeitung der letzten Bände als Leiter der zuletzt an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelten Forschungsstelle betreut. Seine Monographie blickt auf das Forschungsprojekt zurück und fasst Ergebnisse von mehr als hundert Jahren Forschung an den Kirchenordnungen zusammen.

Neun zumeist kurz gehaltene Kapitel erörtern die wichtigsten Aspekte der Quellengattung der evangelischen Kirchenordnung. Themen sind die »obrigkeitliche Einführung der Reformation als Voraussetzung der Kirchenordnung« (Kap. 1), das Verhältnis der Kirchenordnungen zur diözesanbischöflichen Ordnungsstruktur der spätmittelalterlichen Kirche (Kap. 3), die Benennung der Kirchenordnungen (Kap. 4), die »Begründungen für den Erlass von Kirchenordnungen« (Kap. 5) und die »Verfasser und Adressaten« der Kirchenordnungen (Kap. 6). Ausgewertet werden dafür alle Bände des »Sehling«, vor allem aber die in der Heidelberger Projektphase entstandenen. So wird deutlich, dass die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jh.s eine neuartige Textgattung bilden, die gleichwohl über die Jahrzehnte der kirchlichen Erneuerung hinweg eine Entwicklung und formale und inhaltliche Varianz aufweist. Zwei Kapitel fallen deutlich länger aus: die Darstellung der »Legitimationsstrategien der weltlichen Obrigkeit« (Kap. 2: 12–58), die durch die Reformation ja an Macht gewinnt, das aber theologisch und politisch absichern muss, und die Erschließung des »Inhalt[s] der Kirchenordnungen« (Kap. 7: 97–173), also der Regelungen zu Bekenntnis, kirchlichem Leben und Organisation. Immer wieder wird Martin Luther in den Mittelpunkt gerückt (31–35.174–183 u. ö.), dessen Überlegungen und Stellungnahmen zur Frage kirchlicher Ordnung von grundlegender Bedeutung waren. Ein inhaltliches Schlusskapitel blickt auf die Diskussion des frühneuzeitlichen Protestantismus um die Kirchenverfassung (Kap. 9) und ein weiteres Kapitel rekapituliert die »Geschichte der Edition« (Kap. 10).

Was W. damit vorlegt, ist das neue Standardwerk zu den evangelischen Kirchenordnungen des Reformationsjahrhunderts. Dank seiner Kürze und Prägnanz eignet das Buch sich vorzüglich als Einführungslektüre in das Thema. Es finden sich aber immer wieder auch Anstöße für die weitere Forschung, beispielsweise wenn W. knapp feststellt: »Die Herstellung von ›Kirchenordnungsfamilien‹ und von Filiationen ist […] nicht ganz selten ein bloßes Konstrukt« (92). Der generalisierende Zugang zu den Kirchenordnungen wird allerdings damit erkauft, dass die einzelnen Texte als Teil des nachträglich konstituierten Korpus der Kirchenordnungen vorgestellt und nicht aus ihren jeweiligen Entstehungszusammenhängen heraus verstanden werden. So sehr die einzelnen Kirchenordnungen und die ihnen verwandten Texte Teil einer Gattung sind und darum vergleichend betrachtet und auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht werden können, so sehr gehören sie doch jeweils auch in eine bestimmte geschichtliche Situation, die sich in den Texten widerspiegelt.

Das Literaturverzeichnis (211–213) weist nicht alle angeführten Titel nach, sondern bietet eine Auswahlbibliographie. Was die für die Darstellung herangezogene Forschungsliteratur angeht, so hat W. bewusst auf die »Auswertung einschlägiger Literatur« verzichtet und sich auf die Heranziehung »einiger, jeweils grundlegender Arbeiten« beschränkt (6). Angesichts des Charakters des Buchs, das nichts weniger als eine Synthese des aktuellen Forschungsstands bietet, ist das bedauerlich. Es wäre nicht schwierig gewesen, die Forschungsliteratur breiter zu berücksichtigen und nachzuweisen. In der vorliegenden Form wundert man sich über manchen Literaturtitel, der Berücksichtigung findet, vermisst aber andere, die eigentlich hätten angeführt werden müssen. Manches aus der neuesten Forschung, etwa zu den brandenburgischen Kirchenordnungen, scheint W. nicht bekannt zu sein. Bedauerlich ist das Fehlen eines Personen- und eines Sachverzeichnisses. Die Fülle des verarbeiteten Materials und der angesprochenen Themen lässt sich nur unzureichend mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses erschließen. An einigen Stellen mangelt es an begrifflicher Präzision. Wenn etwa die Leitlinie der kirchlichen Neuordnung mit Rückgriff auf die klassische Formel des 7. Artikels des Augsburgischen Bekenntnisses formuliert wird, darf das Objekt nicht fehlen: Es muss heißen »pure docere euangelium et recte administrare sacramenta« (20), wie es auch die von W. zuvor und anschließend angeführten Zitate besagen. Denn in den evangelischen Kirchenordnungen geht es nicht primär um die Wahrung der Reinheit der Evangeliumspredigt und der Rechtheit der Sakramentsverwaltung, sondern darum, dass das geschieht, worin Kirche Gestalt gewinnt: eben Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung – die allerdings inhaltlichen und formalen Kriterien unterliegen, die in den Kirchenordnungen kodifiziert sind.