Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1214–1217

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

[Koch, Ernst]

Titel/Untertitel:

Fides, Confessio & Pietas. Studien zur Wirkungsgeschichte der Reformation. Festgabe für Ernst Koch zum 90. Geburtstag. Hgg. v. Ch. Barnbrock u. Ch. Neddens.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 392 S. = Glauben und Bekennen. Arbeiten zu Theologie und Leben der lutherischen Kirche in Geschichte und Gegenwart, 1. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783374067923.

Rezensent:

Ingo Klitzsch

Wer sich mit »Lutherischer Orthodoxie« oder thüringischer Kirchengeschichte beschäftigt, stößt unvermeidlich auf die fundierten Arbeiten von Ernst Koch. Mehr als 700 Titel umfasst sein Werk, in dem sich auch seine vielfältigen Wirkungsfelder widerspiegeln: Er war u. a. Rektor des Eisenacher Predigerseminars, Dozent des Leipziger Theologischen Seminars, Honorarprofessor an der Universität Jena und Dozent an der Lutherischen Theologischen Hochschule der SELK in Oberursel, wodurch es auch zu verstärkten Kontakten zum Concordia Seminary in St. Louis (Missouri) kam.

Anlässlich von Kochs 90. Geburtstag würdigt die Oberurseler Hochschule nun ihren langjährigen externen Dozenten mit dem Eröffnungsband der neuen Reihe »Glauben und Bekennen. Arbeiten zu Theologie und Leben der lutherischen Kirche in Geschichte und Gegenwart«. Vom Titel her ordnen die Herausgeber die versammelten Studien den Leitbegriffen »Fides«, »Confessio« und »Pietas« zu, zielen auf die »Wirkungsgeschichte« der Reformation. Diesem breiten Zugriff entsprechend bietet das Inhaltsverzeichnis die 16 Beiträge ohne weitere thematische Untergliederung. Da auch keine Register beigefügt wurden, stehen die einzelnen, zum Teil englischsprachigen Texte vorrangig für sich; die Autoren verdeutlichen gleichsam verschiedene Wirkkontexte des Geehrten.

Den Schwerpunkt bilden auf die »Lutherische Orthodoxie« bezogene Beiträge: Der renommierte amerikanische Kenner lutherischer Theologie, R. Kolb, erhellt die von Heidelberger Theologen im 16. Jh. vertretene Legende, dass Luther kurz vor seinem Tod seine Haltung in der Abendmahlsfrage revidiert habe, und deren Zurückweisung durch Joachim Mörlin (29–41). Sein Landsmann B. T. G. Mayes greift hingegen die Frage der Prädestination auf (103–129). Da diese im 19. Jh. im nordamerikanischen Luthertum intensiv diskutiert wurde, eignet dem Beitrag auch ein zusätzlicher Diskurskontext. Der Fokus liegt auf der orthodoxen Rezeption des als in sich als nicht kohärent verstandenen XI. Artikels der Konkordienformel, exemplarisch verdeutlicht an Johann Hülsemann (gest. 1661). Doch wird die Orthodoxie den Forschungen Kochs entsprechend nicht nur in ihrer dogmatischen, sondern auch in ihrer frömmigkeitsgeschichtlichen Dimension wahrgenommen. Der praktische Theologe Ch. Barnbrock analysiert exemplarisch die Predigtweise von Valerius Herberger (gest. 1627) und befragt diese nach potenziellen Impulsen für die aktuelle Homiletik (43–62). G. K. Fluegge wiederum will die Revision des Bildes der unbeweglichen, lebensfernen und lebendiger Frömmigkeit abträglichen Orthodoxie anhand einer Analyse des Werkes von Johann Gerhard weiter vorantreiben (63–77). Es bestehe kein Widerspruch zwischen dem »dogmatician« Gerhard und dem »caretaker of souls« (67). Vielmehr sei die Einheit zwischen beiden Wahrnehmungen des bedeutenden Jenaer Vertreters der lutherischen Orthodoxie von der Seite der Frömmigkeit her zu verstehen: »In both, he [i. e. Gerhard; I. K.] is the same theologian pastorally applying Scripture to the everyday lives of his readers.« (76) Der Neutestamentler A. Wenz wiederum geht »[a]uf Brautschau mit Salomo im Weinberg« (79–102). Er entfaltet die allegorische Auslegungstradition des Hohenliedes anhand von dessen Kommentierung in der Weimarer Kurfürstenbibel durch Salomon Glassius (gest. 1556), der hier das Werk Gerhards fortführt. Eine weitere Facette »Lutherischer Orthodoxie« entfaltet der Systematiker Ch. Neddens (233–262), der mit Blick auf das frühneuzeitliche Luthertum den Zusammenhang zwischen Rechtfertigungslehre und Sozialfürsorge untersucht. Neddens rekurriert auf Metaphern (Begegnung mit dem Gekreuzigten, Ehemotiv, Eltern-Kind) und verfolgt deren Ausprägung in Texten wie Bildern, um so erste Antworten auf die Frage nach deren Auswirkung auf die Wahrnehmung und Gestaltung des Sozialen zu geben. J. Rehr wiederum bietet erste Früchte seines kirchengeschichtlichen Promotionsprojektes zum Motiv des »Gnadenstuhles« (263–291). Er verfolgt dieses unter Rekurs auf das Gleichnis vom Schalksknecht zunächst anhand von Simon Musäus (gest. 1576) und damit in Hinblick auf die innerlutherischen Streitigkeiten der zweiten Hälfte des 16. Jh.s bzw. der lutherischen Bekenntnis- bildung. Es folgt ein nicht näher begründeter zeitlicher Sprung zu Johann Sebastian Bach. Vertieft wird die Verflochtenheit der Kan-tate »Ich armer Mensch, ich Sündenknecht« (BWV 55) mit der orthodoxen Theologie aufgezeigt. M. Richter greift das »sentenzhaft[e] Motto« (295): »Ante obitum obitum moriens non moriturus obit« vom Titelblatt von Johann Gerhards Enchiridion consolatorium […]. 1611 auf. Materialreich wird dessen Verbreitung in zahlreichen zeitgenössischen Gattungen aufgezeigt (293-307). V. Albrecht-Birkner wiederum bietet eine forschungsgeschichtliche Studie zu Paul Gerhardts Berliner Konflikt (131–171) – gesichtet wird die Literatur von 1800 bis in die Gegenwart.

Im Vergleich zu dieser breiten Thematisierung der Orthodoxie haben nur wenige Beiträge einen direkten Anhalt bei Luther selbst. Der Neutestamentler V. Stolle thematisiert das lutherisch-jüdische Gespräch. Subtil wird Luthers Exegese von Jer 23,6 und deren Rezeption bis hin zu Delitzsch verfolgt (9-27). Ch. Barnbrock versucht gemeinsam mit H.-J. Voigt, Bischof der SELK, den praktisch-theologischen Diskurs über Luthers Gottesdienstverständnis durch eine konsequente (historische) Kontextualisierung der berühmten Torgauer Predigt Luthers zu korrigieren, insbesondere mit Blick auf die Stellung der Sakramente (359–379).

Ein weiteres Themengebiet der Festschrift stellt der »Kirchenbau« dar. Der Hamburger Kirchenhistoriker J. A. Steiger bietet eine rezeptionsgeschichtliche Studie zu Arndts »Wahrem Christentum« bzw. zu in Ausgaben nach 1700 beigefügten Emblemen (309–337). Diese wurde gegen Mitte des 18. Jh.s – buchextern – in die Kirche St. Nikolai zu Kummerow als Bildzyklus übernommen. M. Beyer und A. Straßberger wiederum wenden sich der Schönbacher Kirche zu: Wahrscheinlich gemacht wird eine Identifikation einer inzwischen verlorenen, um 1900 aber den Kanzelaltar schmückenden Frauenfigur als allegorische Figur der »Religio« und nicht wie bisher angenommen als katholische Heiligendarstellung und damit als Zeugnis einer von der Aufklärung her beeinflussten Frömmigkeit (339–358). J. Schöne (†), ehemaliger Bischof der SELK, fordert eine theologisch begründete Kirchenarchitektur und betont aus seiner freikirchlichen Perspektive deshalb, dass »ein gelungener Kirchenbau […] fraglos auch ein Gemeindezentrum sein [soll], auch ein Predigtraum, aber primär ein Gotteshaus« (387).

Zudem bietet die Festschrift Studien, die Fragen der »Ökumene« gewidmet sind. Der Kirchenhistoriker J. Hund untersucht die Unionsgespräche zwischen Brandenburg und Hannover von 1697–1701 und legt den Fokus vor allem auf Fragen der Christologie und des Abendmahls (173–192). W. Klän stellt aus freikirchlicher Perspektive das Verhältnis zwischen selbständigen evangelisch-lutherischen Kirchen und lutherischen Landeskirchen nach dem II. Weltkrieg dar, was zu einer positionell-kritischen Sicht auf die Gründung der EKD und die Arnoldshainer Thesen bzw. die Leuenberger Konkordie führt (193–231).

Der Sammelband ist nicht die erste Festschrift für Koch, der sich – wie man den jeweiligen Vorworten entnehmen kann – solchen Ehrungen gerne entzieht. Dennoch ist es schade, dass die Festschrift bis auf wenige Andeutungen im Vorwort keine Angaben zum Geehrten enthält, auch Hinweise auf Schriften oder zumindest Oberurseler Lehrveranstaltungen sucht man vergeblich. Abhilfe bietet hier jedoch eine parallel erschienene Festschrift (»Musik der Menschen und Musik der Engel. Frömmigkeitsgeschichtliche Beiträge zur lutherischen Musikkultur«, mit einer Bibliographie der Schriften des Autors hg. v. S. Michel u. J. Schilling, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021). Weiterhin gilt, dass das mit dem vorliegenden Band eröffnete Panorama mit seinem immer wieder greifbaren Praxis- und Gegenwartsbezug gewiss mit Anliegen des Geehrten konvergiert. Punktuell erscheint dabei dem nicht freikirchlich sozialisierten Rezensenten der entstehungsgeschichtliche Hintergrund des Bandes aber zu dominant. Bereichert wird der Leser in besonderer Weise mit Blick auf die Orthodoxie– hier finden auch weniger allgemein bekannte Vertreter ihre Würdigung. Umso bedauerlicher ist das Fehlen eines Sach- und Personenregisters. Auch schmücken zahlreiche farbige Abbildungen den Band. Insgesamt bietet der Band dem Leser ein breites, die Grenzen der kirchengeschichtlichen Fachdisziplin und des deutschsprachigen Diskurses überschreitendes Panorama des Ringens um das Erbe der Reformation – vom 16. Jh. bis in die Gegenwart.