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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1207–1210

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lanzinger, Daniel [Hg.]

Titel/Untertitel:

Das Leben des Weisen. Philon von Alexandria, De Abrahamo. Eingel., übers., komment. u. m. interpretierenden Essays versehen v. M. Adrian, M. Forschner, D. Lanzinger, H.-G. Nesselrath, M. R. Niehoff, F. Oertelt, S. Seibert u. N. Sinai.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIII, 334 S. = Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia, XXXVI. Lw. EUR 84,00. ISBN 9783161575372.

Rezensent:

Gudrun Holtz

Mit dem von Daniel Lanzinger herausgegebenen Band wird eine ebenso bekannte wie bedeutende Schrift Philons von Alexandrien neu zugänglich gemacht. Er umfasst neben einem einleitungswissenschaftlichen Beitrag den leicht veränderten griechischen Text von L. Cohn (1902; zu den Änderungen vgl. die Übersicht S. 30) mit neuer deutscher Übersetzung und Anmerkungen, fünf Essays zu Philon sowie, den Vorgaben der Reihe entsprechend, einen Beitrag zur Wirkungsgeschichte, in diesem Fall zu Abraham im islamischen Kontext. Bis auf zwei Beiträge, in denen der Schwerpunkt auf Passagen aus De Abrahamo (Abr.) liegt, sind die Essays allgemeineren literatur-, philosophie- und religionsgeschichtlichen Fragen gewidmet und orientieren sich teilweise stark an De vita Mosis (Mos.). Ein knappes Literaturverzeichnis sowie verschiedene Register runden den Band ab.

Die »Einführung in die Schrift« von Daniel Lanzinger (3–30) erörtert auf der Basis einer eng ausgewählten Literatur einleitungswissenschaftliche Fragen zu Abr.: Ort von Abr. in Philons Gesamtwerk; Zeit, Ort und Umstände der Abfassung; Adressaten, Gattung und Aufbau der Schrift; ihre zentralen Themen (Tugend-erwerb durch Belehrung; Jüdisches Gesetz und Universalgesetz; Frömmigkeit und Menschenliebe); Philons allegorische Schriftauslegung. Methodisch geht es L. darum, den Bogen von der Schrift De Abrahamo, die er Philons Spätwerk zuordnet, zu seiner frühen Schaffensphase zu schlagen, für die er De migratione Abrahami heranzieht. So soll »anhand einiger Motive die Entwicklung von Philons Gedankenwelt« nachgezeichnet werden (3). Der Leser erhält damit vielfältige Einblicke in dessen Gesamtwerk sowie in die zeitlichen Umstände und die geistesgeschichtlichen Kontexte, in die es gehört, allerdings auf Kosten des konkreten Befundes von Abr. So konzentrieren sich etwa die Ausführungen zur Schriftauslegung Philons auf die für das Frühwerk charakteristische allegorische Deutung; zu den für Abr. ähnlich wichtigen sog. Nacherzählungen gibt es nur einige wenige Bemerkungen. In der viel diskutierten Adressatenfrage von Abr. folgt L. den Thesen Niehoffs (7–10; s. u.).

Die durch hilfreiche Zwischenüberschriften in Sinnabschnitte gegliederte Übersetzung von Daniel Lanzinger (32–127) sucht den Text in eine zeitgemäßere Sprache zu übertragen, als dies in der offenbar konsultierten Übersetzung von L. Cohn der Fall ist (in: L. Cohn et al. [Hgg.], »Philo von Alexandrien. Werke in deutscher Übersetzung« [Bd. 1, 1908/1962]), und erleichtert damit die Lektüre. Die Übersetzung Cohns bleibt aber relevant, da terminologische Sachverhalte dort teilweise deutlicher erkennbar werden. L.s Übersetzungen sind teilweise ungenau oder missverständlich. So geht etwa bei der Wiedergabe der Wendung τῆς φύσεως οὐκ ἀπᾴδει in Abr. 5 mit »nicht naturwidrig« der emphatische Begriff der philosophisch verstandenen Natur verloren (Cohn: »mit der Natur im Einklang stehen«); πρῶτοι wird missverständlich mit »die ersten (Menschen)« wiedergegeben (Cohn sachgemäß »die Früheren«); aus der »ungeschriebenen Gesetzgebung« wird etwas überraschend ein »ungeschriebene(s) Gesetzbuch«. In Abr. 6 meint περί ... τῶν ἐκ τύχης im Gegenüber zu »mit Absicht« nicht »bei allen Schicksalsschlägen« (ebenso Cohn), sondern, wie lexikalisch naheliegend, »bei den (Verfehlungen), die zufällig, von ungefähr (= unabsichtlich) geschehen«. In Abr. 170 wird die Wendung πάντα ὅσα συγγενείας ὀνόματα καὶ φίλτρα missverständlich mit »alle Vorwände und Leidenschaften, die sich aus einem engen Verwandtschaftsverhältnis (ergeben)«, paraphrasiert; gemeint ist, dass Abraham aufgrund seiner Gottesliebe alles überwindet, was verwandtschaftliche Bindung und Liebe fordern. Wenn L. den Satz: οἱ γὰρ ἔμψυχοι καὶ λογικοὶ νόμοι ἄνδρες ἐκεῖνοι γεγό-νασιν, mit: »Denn die lebendigen und vernünftigen Gesetze – das sind diese Männer« (Abr. 5), wiedergibt, geht das dynamische Moment verloren, dass jene Männer selbst zu diesen Gesetzen geworden sind.

Die anschließenden »Anmerkungen zur Übersetzung« (128–144), die abgesehen von einigen wenigen, von Heinz-Günter Nesselrath verfassten, ebenfalls von L. stammen, bieten kurze Erläuterungen zu inhaltlichen Einzelfragen.

Maren R. Niehoffs Beitrag »Philon als Biograph« (147–168) erörtert »Bio-graphische Konventionen bei Philon und Cicero«, »De Abrahamo als Biographie« und »Philons Leistung als Biograph in interdisziplinärer Perspektive«. Es handelt es sich dabei um eine leicht gekürzte, sprachlich gelegentlich modifizierte und um einen kurzen Rekurs aufÜberlegungen Lanzingers (159.164) erweiterte Version der entsprechenden Passagen ihrer Untersuchung: »Philon von Alexandrien. Eine intellektuelle Biographie«, Tübingen 2019 (130–142.147–153), ohne dass dies entsprechend vermerkt würde (vgl. 149 Anm. 5). Der hier besonders interessierende zweite Teil beschränkt sich im Wesentlichen auf die Nachzeichnung der biographischen Teile vonAbr. unter dem Aspekt der Schrift als Biographie. Deren Gattungsmerkmale gewinnt N. vorwiegend anMos. (149–158). Demgemäß reflektiert sie die beiden anderen Teilgattungen vonAbr., Kommentar und Enkomion, nicht unter gattungsspezifischen Gesichtspunkten. Ob Philons dreijähriger Rom-Aufenthalt tatsächlich dazu führte, dass er, wie N. meint, in einer für ihn neuen Gattung an ein neues griechisch-römisches Publikum schrieb, das sie offenbar unter Intellektuellen vermutet, die dem Judentum Sympathien entgegenbrachten (150), scheint zweifelhaft (verwiesen sei hier nur auf die Bemerkungen Lanzingers S. 15 zuSomn. I 168 sowie den Beitrag von Forschner [170 f.; s. u.]; zudem ist es angesichts von Philons umfassender Kenntnis philosophischer Literatur kaum plausibel zu machen, dass er erst nach Rom reisen musste, um über Cicero auf Panaitios zu stoßen, wie N. impliziert).

Maximilian Forschners Beitrag »Philo philosophus?« (169–191) stellt angesichts einiger in der Forschung vorgenommener Bestimmungen zu »Philons Verhältnis zur Philosophie« fest, dass der für Philon die Philosophie verkörpernde Mose wenn überhaupt, dann ein griechischer Philosoph »von ganz eigener Art« sei, da er seine Weisheit der Offenbarung Gottes verdanke (171). Ziel sei für ihn nicht »die (dauerhaft) erfüllende Erkenntnis Gottes«, für die auf die allegorische Schriftauslegung Philons verwiesen wird, »sondern« – mitAbr. formuliert – »der Glaube an das wahrhaft Seiende« bzw. an Gott (172 f.). F. schließt sich deshalb der von H. A. Wolfson 1947 vorgenommenen, in der Forschung strittigen Bestimmung der Philosophie bei Philon alsancilla theologiae an. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen wendet sich F. verschiedenen Einzelthemen vonAbr., Gesetz, Tugend sowie Gefühle und Affekte, zu, die er in die Breite der griechisch-hellenistischen philosophischen Tradition einzeichnet. Philon knüpft demnach an unterschiedliche Traditionen, vor allem aber an die stoische, die aristotelische und die platonische Philosophie an. Erweist er sich weithin als traditionsabhängig, so durchbricht er in Bezug auf die Tugend philosophische Ethik insofern, als Abraham in dem irrationalen Akt der Gottesliebe, den er bei der Opferung Isaaks unter Beweis stellt, griechische Tugendvorstellungen hinter sich lässt. Im Blick auf den »philosophischen Aspekt« von Abr. bestimmt F. mit großen Teilen der aktuellen Forschung »Philon als Plato- niker«, der einem »etwas schlichten Koinē-Platonismus« verpflichtet sei (188 f.). InAbr. spiegele sich dies in Abrahams Liebe zum Himmlischen wider, die mit einer Absage an das Vergängliche einhergehe. Insgesamt sieht F.Abr. als »Synthese von Platonismus, jüdischer Frömmigkeit und hellenistischer φιλανθρωπία« (190).

Es folgen zwei Kapitel, die sich schwerpunktmäßig mit Aspekten vonAbr. beschäftigen. Der Beitrag vonSimone Seibert zu Abr. 7–46 »Der Weg des Weisen. Der Dreischritt Hoffnung – Umkehr – Gerechtigkeit in PhilonsDe Abrahamo, mit Vergleichen zurTabula Cebetis, Joseph und Aseneth und derPsychomachie von Prudentius« (193–232) benennt im Titel die Schwerpunkte ihrer Ausführungen. Nach einer Darlegung des exegetischen Verfahrens Philons, der Allegorese, und einer »Einordnung des Dreischritts in Philons Allegorese des Buches Genesis« werden die genannten drei Tugenden, teilweise mit kurzen Seitenblicken auf die Traditionsgeschichte, im größeren Zusammenhang der Ethik Philons inhaltlich näher bestimmt. S. zeichnet die Trias der Tugenden, die durch Enosch, Henoch und Noah repräsentiert werden, überzeugend in eine durch Einzelne verkörperte Entwicklungsgeschichte der Tugend des gesamten Menschengeschlechts von der Schöpfung bis hin zu Joseph ein, die Philon mittels der Allegorese dem Buch Genesis entnehme. Mit den Patriarchen beginne im Vergleich mit der ersten Triade vorbildhafter Männer »etwas völlig Neues«: Als Gerechte bedürfen sie nicht mehr der Umkehr, sondern nur noch der weiteren Ausbildung der Tugend (210 f.). Unter der Überschrift »Ideengeschichtliches, Rezeption, Entwicklungen« entfaltet S. anhand der drei im Titel genannten Schriften aus der paganen und jüdischen Umwelt bzw. der christlichen Spätantike die Bedeutung Philons für die antike Tugendlehre, vermehrt um Ausblicke auf das christliche Mittelalter. Dabei werden Kontinuitäten und Transformationen aufgezeigt.

Friederike Oertelts Beitrag wendet sich mit dem Thema »Philons Frauenbild. Die Darstellung Saras und Hagars inDe Abrahamo« (233–252) einer breit erforschten Fragestellung zu. Sie befasst sich mit der Darstellung Saras in zwei narrativen Passagen und in der allegorischen Auslegung. Für die allegorisch als Tugend gedeutete Sara stellt sie heraus, dass diese in Bezug auf Abraham, der den Geist repräsentiert, die aktive Rolle einnimmt. Sofern sie seinen Geist fördert, verbleibt sie aber dennoch in der dienenden Rolle, die sie auch in den narrativen Passagen hat, wo sie, römischen Ehevorstellungen entsprechend, als treue Ehefrau erscheint, die ihrem Mann bedingungslos nachfolgt (247 f.). Auch für Hagar, deren Rolle bei Philo O. insgesamt als marginal bestimmt, arbeitet sie den Unterschied zwischen ihrer Deutung in narrativen und allegorischen Texten heraus.

In seinem Beitrag »Schrift – Orakel – Prophetie« (253–273) untersuchtMatthias Adrian das Verständnis des bei Philon häufigen Begriffs des Orakels, der »vor dem Hintergrund paganer Auffassungen von Mantik und Orakelkult erklärungsbedürftig« (253) sei. Textgrundlage sind die dafür zentralen Stellen ausMos.; das Bemühen, den Befund vonAbr. in die Darstellung einzubeziehen, erschwert die Lesbarkeit des Beitrags. Die vielen Einzelbeobachtungen sind wohl dahingehend zu verstehen, dass Philon zur Deutung Moses partielle Anleihen an Sprache und Verständnis paganer mantischer Figuren macht, um so seinen »Entwurf jüdischer Prophetie« von einem »subversiven Ansatz« konkurrierender Gruppierun- gen abzugrenzen. A. denkt dabei an die ebenfalls aus »jüdischen Kreisen Alexandrias« stammenden, von Philon allerdings nicht explizit erwähn-ten Sibyllinischen Orakel (267). Sein eigener, in Mose verkörperter Ansatz basiert auf der Schrift, die für ihn eine exklusive Sammlung von Orakelsprüchen und damit auch das Kriterium zukunftsbezogener Weisungen sei. Darin sieht A. im Anschluss an T. H. Tobin eine Kritik an den Sibyllinen mit ihren außerbiblischen Orakeln. Deren antirömische Polemik solle durch Orakel ersetzt werden, die für griechisch-römische Ohren anschlussfähig seien.

Der Band schließt mit einem interpretationsgeschichtlichen Beitrag von Nicolai Sinai: »Von Philon zu Ibn ‘Arabī. Abraham im islamischen Kontext« (275–296), der »auf deskriptive und einigermaßen quellennahe Weise an Grundzüge und Vielgestaltigkeit« der islamischen »Abrahambilder« heranführen will (277). Der zweiteilige Beitrag arbeitet zunächst ausgehend vom Bibeltext und im steten Gespräch mit Philon und anderen frühjüdischen Autoren vom Jubiläenbuch bis hin zur rabbinischen Literatur das Abrahambild im Koran heraus. Anhand dreier Hauptepisoden der koranischen Tradition – »Abrahams Konflikt mit Volk und Vater, seine Bewirtung der Engel samt Empfang einer Sohnesverkündigung und [...] die Beinahe-Opferung seines Sohnes« (286) – sollen das Eigenwort des Koran und die Akzentverschiebungen zur vorausgehenden Tradition dargestellt werden. Ohne direkten Bezug dazu sei die einer späteren Koranschicht zugehörige Mekka-Episode, die die Gründung des Ka‘ba-Heiligtums mit Abraham und Ismael in Zusammenhang bringt. Der zweite Teil erörtert die Deutung Abrahams im nachkoranischen Islam. In der Gattung der sog. Prophetengeschichten identifiziert S. zwei Methoden: Die Redaktoren (bis zum 11. Jh.) schmückten die koranischen Abrahampassagen entweder mit jüdisch-christlichem Bibelwissen und parabiblischem Überlieferungsgut aus oder sie beantworteten exegetische Probleme »in Gestalt einer Refokussierung auf den koranischen Text selbst« (291). Die islamische Adaption jüdisch-christlicher Traditionen habe aber teilweise auch auf die beiden älteren Traditionen zurückgewirkt (293). Rumi und Ibn ‘Arabī im 13. Jh. vertieften die Abrahamdeutung wie Philon allegorisch.

Der vorliegende Band dürfte dazu beitragen, dass eine bedeutsame Schrift Philons von Alexandrien wieder stärkere Beachtung findet. Die einzelnen Beiträge beleuchten verschiedene Facetten seines Schreibens und Denkens. Leider fehlt ein Beitrag, der sich mit Abraham, dem Namensgeber und wichtigsten Protagonisten der Schrift, im philonischen Kontext eingehend befasst. Auch die Profilierung der jüdischen Frömmigkeit der Schrift reduziert sich auf einige wenige verstreute Bemerkungen. So leistet der Band der Gefahr Vorschub, Philon erneut vor allem im Kontext der griechisch-hellenistischen Welt zu interpretieren, ohne sein biblisch-jüdisches Profil, wie es sich z. B. im Verständnis der Gottesliebe oder der Vernunft zeigt, auch jenseits seiner Schriftauslegung hinreichend zu berücksichtigen.