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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1201–1204

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schröder, Michael

Titel/Untertitel:

Das Galiläa der Heiden. Untersuchungen zur Galiläakonzeption im Matthäusevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIII, 557 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 550. Kart. EUR 109,00. ISBN 9783161590726.

Rezensent:

Roland Deines

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation, mit der Michael Schröder 2018 an der TU Dortmund promoviert wurde. Zu der Zeit war er Dozent für Neues Testament und Griechisch an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Betreuer der Arbeit war Rainer Riesner.

Die umfangreiche Arbeit hat ihren Ausgangs- und Bezugspunkt in der Wendung »Galiläa der Heiden« (Γαλιλαία τῶν ἐθνῶν), die in Mt 4,15 als Teil des Zitats Jes 8,23–9,1 einmalig im Neuen Testament begegnet. Ziel ist zu klären, ob damit im MtEv eine historische Beschreibung Galiläas intendiert ist als einer Region mit starkem nichtjüdischen Bevölkerungsanteil, oder ob es sich um eine theologische Aussage handelt, die sich auf den Einschluss der »Heiden« in die Verheißungsgeschichte des Gottesvolkes bezieht. S. geht es in seiner Arbeit primär um die Frage, ob der Verfasser des ersten Evangeliums mit dieser Aussage »eine allgemein verbreitete Vorstellung auf[greift], dass die Bevölkerung Galiläas zur Zeit des Neuen Testaments teilweise heidnisch war« (2). Damit verknüpft ist als zweite Fragestellung, ob sich aus dem Jesaja-Zitat »eine besondere matthäische ›Galiläa-Konzeption‹« ableiten lasse und der Aufbau des Evangeliums möglicherweise davon geprägt ist. Daraus ergibt sich eine Dreiteilung der Arbeit: in einem knappen ersten Kapitel werden die wenigen Stellen behandelt, in denen hebr. gālîl im masoretischen Text (Jos 20,7; 21,32; 1Chr 6,61; 1Kön 9,11; 2Kön 15,29; Jes 8,23) bzw. Γαλιλαία in der Septuaginta vorkommen (außer den genannten Stellen noch in Jos 12,23; Joel 4,4; Ex 47,8; Jes 33,9; 1Kön 9,12). Daraus wird deutlich, dass damit ein Territorium im Norden Israels verstanden wurde (westlich des Jordans und des Sees Genezaret), das mit dem Stammesgebiet von Naphtali in Beziehung stand, auch wenn die genauen Grenzziehungen unklar sind. Spätestens ab dem 2. Jh. v. Chr. wird es dann zum Oberbegriff für die gesamte nördliche Region. Dieses Bild wird auch von den Galiläa-Belegen in der LXX bestätigt, die über den masoretischen Kanon hinausgehen (15 Stellen, davon 11 in 1Makk). Singulär ist dagegen die Wendung »Galil der Völker« in Jes 8,23. Hier scheint die ursprünglich hebr. Bedeutung »Bezirk, Kreis« noch durch, so dass hier mit »Kreis der Völker« zu übersetzen ist (35). Allerdings wird bei S. nicht deutlich, wie er sich diesen geographischen Raum vorstellt. Er lehnt lediglich die These ab, dass es sich um assyrische Provinzen handelt, macht aber selbst keinen Vorschlag. Er betont lediglich, dass der Text von Jerusalem aus nach Norden blickt. Er sieht darin die Verheißung, dass die Region, in der der Untergang des Nordreichs und damit ganz Israels mit allen zwölf Stämmen begonnen hat, auch als erste wieder hoffen darf, »dass das Heil für Gesamtisrael noch nicht verloren ist« (60). Teil dieses ersten Kapitels sind ferner Abschnitte über Galiläa bei Josephus und in der rabbinischen Literatur, einschließlich der Frage nach einer besonderen galiläischen Toraobservanz (was zu Recht abgelehnt wird).

Das zweite Kapitel ist forschungsgeschichtlich orientiert und bietet noch einmal eine ausführliche Geschichte der Galiläaforschung der letzten rund 150 Jahre, wobei auch die Archäologie ausführlich Berücksichtung findet. Dieser Teil enthält wenig Neues, fasst aber die Diskussion gut zusammen und verweist auch auf ältere Beiträge, die inzwischen oft vergessen werden. Am Ende steht das Ergebnis, »dass es so gut wie keine Anhaltspunkte für ein heidnisches Galiläa« gibt (202), d. h. S. bestätigt noch einmal die derzeit in der Forschung weit überwiegend präferierte Position, wonach Galiläa nach der assyrischen Eroberung im 8. Jh. weitestgehend entvölkert war und erst mit der hasmonäischen Eroberung Galiläas ab dem letzten Viertel des 2. Jh.s v. Chr. wieder großräumig besiedelt wurde. Damit verbunden ist die Überzeugung, dass die neuen Bewohner überwiegend aus Judäa stammten, »die das Land ihrer Vorfahren wieder in Besitz genommen haben« (165).

Der dritte Teil, beginnend mit Kapitel 3, beschäftigt sich mit dem MtEv und der Frage, ob Galiläa in der Heilstopographie des ersten Evangeliums eine besondere Rolle spielt. Den Auftakt bilden »Einleitungsfragen zum Matthäusevangelium« (205–231), das keine neuen Aspekte bringt und sich in dieser Ausführlichkeit und Umständlichkeit nur erklärt, wenn man den Hintergrund des Autors an einer evangelikalen Hochschule in Betracht zieht. Hier wird sehr viel Lehrbuchwissen wiederholt, um am Ende dann doch dahin zu gelangen, dass Mt und Lk »wahrscheinlich Mk als Vorlage« hatten und »auf eine Redenquelle sowie auf je eigenes Sondergut zurückgreifen konnten« (215).

Bei der Datierungsfrage ringt S. um die Möglichkeit, Mt vor 70 anzusetzen, was aber mit der von ihm akzeptierten Mk-Priorität in Konflikt gerät, weil er Mk in die Zeit 66–68 ansetzt (221). Auf die Frühdatierung von Mk auf Anfang der 40er Jahre, wie von James Crossley und Maurice Casey vorgeschlagen (und früher schon von Günter Zuntz), geht S. nicht ein. Sein eigener Versuch, Mt »um 70 n. Chr.« zu datieren (226, etwas abschwächend 231), d. h. maximal fünf Jahre nach Mk und zwar im Kontext »überwiegend judenchristliche[r] Gemeinden« im Bereich von »Syrien«, vermag nicht wirklich zu überzeugen. Weder erklärt er, warum Mt so schnell nach Mk seinen eigenen Jesusbericht meinte verfassen zu müssen (die Frage nach einem hebr. Mt wird nicht erwogen), noch wird über den Verfasser mehr gesagt als dass er »im Judentum beheimatet« war und sich »durch eine hohe Kompetenz in Fragen der Schriftauslegung« auszeichnete (229). Mit Ulrich Luz verortet er den Verfasser intra muros, d. h. er schreibt für eine Gemeinde, die sich selbst als eine Art »innerjüdische Alternative« (229) versteht. Ziel sei es gewesen, Antwort auf die Fragen zu geben, »wie sie ihren Glauben an Jesus Christus mit ihren jüdischen Wurzeln in Einklang bringen kann und welchen Platz die Mission an Juden und Heiden einnimmt« (231). Eine solche Verortung ist durchaus plausibel und wird vielfach vertreten, aber sie passt nicht zu einer Datierung um 70. In der Zeit der Belagerung und Eroberung Jerusalems (der die Eroberung und teilweise Zerstörung Galiläas voranging) sind solche Überlegungen für eine ›christliche‹ Gemeinde innerhalb Syriens – und Schröder scheint mehr an Palästina als an Antiochia zu denken – schwer vorstellbar.

Auf die Einleitungsfragen folgt ein informatives Kapitel über »Die geographischen Angaben bei Matthäus und Markus« (233–306, auch die lk Stellen sind verzeichnet), die nach einem fünfteiligen Klassifikationssystem übersichtlich dargeboten werden, auch wenn manche Auslassungen (s. u.) erstaunen. Die Zusammenstellung zeigt, dass die Galiläa-relevanten Stellen sich vor allem in Mt 1–4 und 26–28 befinden, die dann im 5. Kapitel detailliert gegliedert und exegesiert werden. Eine zusätzliche »Gliederung nach geographischen Aspekten« (315) ist stark von dem Bemühen geprägt, Galiläa zu einem zentralen Thema zu machen. Das führt gelegentlich zu Interpretationen, die nicht zu überzeugen vermögen (etwa die Parallelität von Mt 1–2 mit 3–4 auf S. 316). Problematisch ist jedoch, dass die Fokussierung auf Galiläa dazu führt, dass Judäa und Jerusalem in ihrer Bedeutung so stark vernachlässigt werden, dass es zu auffälligen Auslassungen und Fehlern kommt (Einzelheiten können beim Rezensenten erfragt werden).

Nach S. ist mit »Syrien« in Mt 4,24, wozu Galiläa als heilstopographischer Mittelpunkt gehört (4,25, obwohl Galiläa in dieser Liste keinerlei Betonung erfährt), nicht die römische Provinz gemeint, sondern das Gebiet, das »dem Volk Israel als Erbe verheißen wurde« (427, vgl. Gen 15,18–21; Dtn 7,1 u. a.). Aus allen Regionen, in der Juden in den Grenzen des einst verheißenen Landes wohnen, kommen Menschen zu Jesus nach Galiläa, womit »sich die Verheißung zu erfüllen beginnt, dass das endzeitliche Geschehen seinen Anfang nimmt« (432), d. h. was Jesaja verheißen hat, beginnt mit Jesu Wirken in Galiläa (435). In diesem Sinn versteht er die Jesusgeschichte als symbolhafte »Wiederherstellung des alttestamentlichen Gottesvolkes« (417 u. ö.).

In der Passions- und Ostergeschichte wird an diesen Anfang durch die zweimalige Aussage angeknüpft, dass Jesus nach der Auferstehung seinen Jüngern nach Galiläa vorausgehen werde (26,32) bzw. gegangen ist (28,7). Hier, in Galiläa, soll »die Sammlung des Volkes Israel, zu dem nun die Heiden hinzutreten können«, ihren Anfang nehmen (457). Wie in 4,12–25 identifiziert S. auch 28,7–20 ein auffälliges Galiläa-Cluster mit drei Belegen (28,7.10.15). Da der Missionsbefehl auf einem Berg in Galiläa gegeben ist, schließt dieses Kapitel mit einer Exegese dieser Verse (460–499). Von die- sen knapp 30 Seiten geht aber nur knapp eine Seite auf Galiläa ein (485 f.) – alles andere beschäftigt sich mit den derzeit strittigen Fragen in der Exegese von Mt 28,16–20. Das Ergebnis ist, dass Jesus den Jüngern in Galiläa begegnet, weil »von dort, wo zum ersten Mal das Land verheert wurde« (gemeint ist: in der Zeit der Assyrer), nun »das Licht der Hoffnung für ganz Israel« aufleuchtet (485). Mit Stuhlmacher nimmt S. an, dass es sich bei dem Zug der Jünger nach Galiläa »um eine symbolische Wiederherstellung (Groß-)Israels nach der Katastrophe des Gerichts« handelt, »das über den Hirten und seine Herde gekommen ist« (485). Ich muss gestehen, dass ich mir darunter schlicht nichts vorstellen kann. Die Wiederherstellung Israels, die möglicherweise am Anfang von Jesu Wirken eine Rolle spielte, tritt bei Mk und Mt schon in der zweiten Hälfte ihrer jeweiligen Evangelien auffällig zurück. Zudem: wenn Mat-thäus wirklich kurz vor oder um 70 geschrieben hat, dann weiß er, dass der Beginn der Gemeinde und der Mission in Jerusalem und Antiochien lag; dann weiß er, dass es eine Restitution Israels nicht gegeben hat; dann weiß er, dass Galiläa gerade von den Römern erobert und teilweise zerstört wurde, einschließlich einer blutigen Seeschlacht auf dem See Genezaret. Wenn Galiläa für Matthäus – so die letzten Sätze der Arbeit – »der Ort« ist, »wo das jüdische Volk das Heilsangebot Gottes im Lehren und Handeln Christi erfahren kann […] und zugleich der Ort [ist], der zum Hoffnungszeichen für die Völker wird« (499), dann stellt sich die Frage, was man sich darunter konkret vorzustellen hat: wie kann ein gerade zerstörtes Kriegsgebiet »zum Hoffnungszeichen für die Völker« werden? Eine solche Interpretation ließe sich m. E. nur behaupten, wenn man den Zug nach Galiläa als eine sehr frühe Tradition gelten lässt, die noch vor der Mission von Jerusalem und Antiochia aus und vor der Zerstörung Jerusalems hoffte, dass die Verkündigung des nun Auferstandenen von Galiläa aus doch noch die erhoffte Hinwendung Israels zu seinem Messias bewirken würde.

An einer Stelle (314) fragt S.: »Findet man nicht genau das, was man (gerne) finden möchte?« Im Hinblick auf seine Arbeit ist diese Frage wohl zu bejahen. Sie findet zu viel und übersieht dabei, was gegen diese Position spricht. Die auffällige Vernachlässigung von Jerusalem ist m. E. der Hauptgrund, dass die von ihm sehr deutlich herausgearbeitete »Galiläakonzeption im Matthäusevangelium« (so der Untertitel der Arbeit) nicht völlig überzeugt. Für den Umgang mit Ortsangaben bei Matthäus bzw. den Synop- tikern generell ist die Arbeit jedoch ein willkommener Begleiter, indem sie dafür sensibilisiert, die Ortsangaben nicht nur als his-torische Information, sondern als mögliche theologische Wegweiser wahrzunehmen.