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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1198–1200

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Erlemann, Kurt

Titel/Untertitel:

Wunder. Theorie – Auslegung – Didaktik.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2021. 300 S. = UTB, 45657. Kart. EUR 29,90. ISBN 9783825256579.

Rezensent:

Christian Münch

Als ein »Fach- und Lehrbuch zugleich« (13) versteht Kurt Erlemann, Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Seminar der Evangelischen Theologie, Bergische Universität Wuppertal, sein als utb-Band veröffentlichtes Buch über die Wunder. Es ist E.s zweite Monographie zum Thema nach dem 2016 veröffentlichten populärwissenschaftlichen Band »Kaum zu glauben. Wunder im Neuen Testament«, dessen Faden er hier weiterführen will (15).

Gemäß seiner Anlage als Lehrbuch nimmt der Band das Themenfeld »Wunder« breit in den Blick und orientiert über Grundlegendes, entsprechend seiner Ausrichtung als Fachbuch führt er das Gespräch mit der Forschung und dient der Darstellung und Begründung von E.s eigener Position. E. präsentiert sein Werk dabei durchaus als eine Art Streitschrift: »Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die Wundertaten und Wundertexte von der Messlatte aufgeklärter Vernunft zu befreien und ihnen den Stellenwert in Wirklichkeit und Theologie zurückzugeben, der ihnen angemessen ist.« (30)

Zunächst zur Fachbuch-Perspektive: Wie ist der »anti-aufklärerische« Impetus zu verstehen? Die theologische Deutung der neutestamentlichen Wunderüberlieferung ist in den vergangenen Jahrhunderten in eine Spannung zwischen dem – in erzähltheoretischer Begrifflichkeit als »faktual« zu charakterisierenden – Anspruch der Texte, Ereignisse des Lebens Jesu zu erinnern und zu überliefern, und der modernen, aufgeklärten Vernunft geraten, der es schwerfällt, die erzählten Ereignisse als tatsächlich geschehen anzunehmen. Die Forschung ist verschiedene Wege gegangen, die Spannung aufzulösen oder zu mindern, die aber aus Perspektive der neutestamentlichen Texte je eigene Schwächen haben: Mal machen sie Abstriche an der Historizität und treffen damit den faktualen Anspruch, mal scheinen sie die theologische Bedeutung der Wunder zu relativieren.

In dieser Diskussion, die er nachzeichnet und auswertet (91– 119), bezieht E. markant Position. Er betont den hohen theologischen Stellenwert der Wunder, die er im Sinne eines eingreifenden, die weltlichen Ordnungen durchbrechenden Handelns Gottes versteht (27 f.151 f.), für den biblischen Gottesglauben (120–123). Zugleich möchte er keine Abstriche zulassen gegenüber dem Anspruch der Texte, ein historisches Wunderwirken Jesu sachgerecht zu erinnern und zu überliefern, und betont dessen leiblich-physische Dimension (114–118.123 f.). E.s Weg besteht darin, erstens die Erinnerung an ein Wunderwirken Jesu im Neuen Testament als historisch sachgerecht zu erweisen (79–83.117), zweitens für eine Mehrzahl gleichrangiger, komplementärer Wirklichkeitszugänge oder Wahrnehmungsarten der Wirklichkeit zu plädieren (123–136) und drittens die sog. religiös-mystische Wahrnehmungsart als den letztlich theologisch einzig geeigneten Zugang zu den Wundern zu erweisen, da dieser dem Wirklichkeitszugang der neutestamentlichen Texte selbst entspreche und wie diese mit dem Handeln göttlicher Mächte in der Welt rechne (136.152). Die typisch moderne, (natur-)wissenschaftlich-rationale Vernunft und ihre nüchtern-analytische Wahrnehmungsart sind E. zufolge dagegen für die Wunder ungeeignet (152), weil sie zu den Wundern als »weichen Fakten« (24–26.59 f.114.124.151) keinen Zugang bie- ten. Wunder hätten ihre eigene Rationalität und Logik (19.137–140). Mit den Mitteln wissenschaftlich-rationaler Vernunft unerklärbar zu sein, erscheint als ein wesentlicher Zug der Wunderdefinition E.s (29 f.151). Das Ganze steht im Horizont einer Theologie, für die die Wunder heilvolle Durchbrechungen (29.151) und »der letzte Ankerpunkt der Hoffnung da, wo es, nüchtern-rational betrachtet, nichts mehr zu hoffen gibt« sind (29; vgl. 152).

In der Wunderforschung knüpft E. mit seiner Position an Klaus Berger an, von dem er z. B. den Begriff der weichen Fakten und den Ansatz bei den Wirklichkeitszugängen übernimmt, aber auch an Stefan Alkier und Ruben Zimmermann, die ebenfalls den theologischen Rang der Wundertexte hoch schätzen und intensiv die Wirklichkeitsreferenz der Texte reflektieren.

E.s Position wird in Teilen der Einführung (13–64) thesenartig skizziert und dann vor allem in Kapitel 3 vor dem Hintergrund der Forschungsgeschichte profiliert und begründet (91–155). Das Kapitel enthält zudem noch einen neuen Vorschlag zur formkritischen Beschreibung und Systematisierung der Wundertexte (142–149). Andere Teile des Buches sind zwar durchaus im Sinne von E.s Verständnis der Wundererzählungen ausgerichtet, haben jedoch stärker Lehrbuchcharakter. Die Einführung nimmt Klärungen des Wunderbegriffs vor, verschafft einen Überblick über die Textgrundlage und erläutert einige für das Buch wichtige wunderspezifische Termini. Das zweite Kapitel widmet sich his-torischen Fragestellungen (65–90). Es beleuchtet das antike Umfeld der Wunder Jesu (Welt- und Menschenbild, antike Heilkunst, antike Wundertäter) und zeichnet dann nach, wie das neutestamentliche Bild vom Wundertäter Jesus entsteht. Kapitel 4 widmet sich Fragen einer Deutung der Wundertexte. E. beschreibt hier, die Forschungsgeschichte aufgreifend, Sinnebenen, auf die hin Wundererzählungen gedeutet werden können (physisch-leiblich, spirituell, psychisch, sozial, …), und typische theologische Themen, die in Wundertexten eine Rolle spielen (die Schöpfermacht Gottes, christologische Themen wie die Vollmacht Jesu, ekklesiologische Themen wie Nachfolge, Wunder und Glaube, …). Zudem skizziert er das Wunderprofil einzelner Schriften und Schriftgruppen (157–214). Das Kapitel spiegelt E.s ausgeprägtes theologisches Interesse an den Wundertexten. Anschließend analysiert er konzentriert und exemplarisch acht Wundertexte verschiedener Typen und zeigt dabei, wie seine Überlegungen zu Sinnebenen und theologischen Themen exegetisch fruchtbar zu machen sind (215–257). Daran schließen sich didaktische Impulse mit übergreifenden didaktischen Überlegungen und kurzen Skizzen zu Unterrichtsreihen und -stunden für verschiedene Klassenstufen und Schulformen an (259–331). Auch der didaktische Ansatz ist durch E.s Wunderverständnis deutlich geprägt: »Die Wahrheit von Wunder(texte)n lässt sich nur im Modus religiös-mystischer Wirklichkeitswahrnehmung vermitteln und verständlich machen.« (260) Ein Serviceteil mit u. a. einem Glossar, einer Übersicht über neutestamentliche Wundertexte und Literatur schließt den Band ab (333–372).

E. hat in verschiedener Hinsicht ein sehr anregendes Buch geschrieben: Es nimmt die Wunderüberlieferung theologisch sehr ernst und leistet – auch als Lehrbuch – einen wichtigen Impuls zu einer theologischen Deutung der Wunder und der Wundertexte. Es stellt noch einmal klar die Frage nach der Ereignisdimension der Wunder – und damit letztlich nach dem Handeln Gottes – und bezieht pointiert Stellung zum Problem eines geeigneten Zugangs zu ihnen. Es provoziert aber auch Rückfragen und Widerspruch aus binnentheologischer wie interdisziplinärer Perspektive: z. B. mit dem Begriff der weichen Fakten, seiner scharfen Frontstellung gegen die sog. wissenschaftlich-rationale Vernunft oder der normativen Bindung der theologischen und religionsdidaktischen Auseinandersetzung mit den Wundern an das Wirklichkeitsverständnis der neutestamentlichen Texte. Auf die Rezeption des Buches darf man deshalb gespannt sein.