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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1196–1198

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Breytenbach, Cilliers

Titel/Untertitel:

Von Texten zu Geschichten. Aufsätze zur Konzeption und Geschichte der Wissenschaft vom Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. VIII, 215 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 448. Lw. EUR 114,00. ISBN 9783161595615.

Rezensent:

Felix John

Das Buch von Cilliers Breytenbach teilt seine 14 zwischen 1990 und heute entstandenen Aufsätze in eine Abteilung zu Grundsatzfragen der Exegese des Neuen Testaments und eine zur Forschungsgeschichte. Dabei entstehen bereichernde Schnittmengen, da B. sein Programm im Gespräch mit den Vorangegangenen entwickelt. So verweist der erste Text über die Grundlagen der neu-testamentlichen Wissenschaft auf eine von Schleiermacher bis Hein-rici verfolgte Linie, in der die Hermeneutik der historischen Kritik vorgeordnet war. Diesen Weg habe das 20. Jh. verlassen. Doch nicht die Anwendung der historisch-kritischen Methode garantiere die Wissenschaftlichkeit der Exegese, sondern ihre textsemiotische Grundlegung, durch welche Textinterpretatio-nen den kontextbezogenen Wahrnehmungsprozessen sprachlicher Zeichen und Strukturen nachspürten und sie intersubjektiv vermittelten.

Den Weg hin zu diesen Erkenntnissen zwischen Südafrika und Deutschland, grundlegend geprägt durch Andrie B. du Toit und Ferdinand Hahn, beschreibt ein autobiographisches Essay. Es blickt auf die Erarbeitung von Zugängen zu den Zugängen zu den frühchristlichen Texten zurück: erzählanalytisch, sprach- und texttheoretisch, lexikographisch, archäologisch.

Mit der Lebensgeschichte B.s verbunden ist der Zusammen-hang von Textinterpretation und ihrem Gebrauch, sei es im Kontext einer theologischen Fakultät, des ökumenischen Gesprächs oder wie gegen Ende der 1980er-Jahre in der kirchenpolitischen Diskussion im gegen die Apartheid kämpfenden Südafrika: »Die Exegese lässt sich gebrauchen«. (25) Im dritten Text ehrt B. Udo Schnelle und seine Einleitung durch eine Analyse deutschspra- chiger Einleitungswerke zum Neuen Testament. Nach einem erneuten forschungsgeschichtlichen Anlauf bei Baur wird das notwendige Grundproblem der Einleitungswissenschaft gezeigt: Sie müsse den Kanon voraussetzen und doch unter Ausblendung dieser Voraussetzung arbeiten. Der folgende Beitrag konzipiert eine Darstellung der Geschichte der Religion des Urchristentums. Es gehe darum, »auf religions-philologischer Basis zu fragen, wie die Religion der frühen Christen als kommunikatives Symbol- und Handlungssystem zusammenhängt« (60).

B. skizziert folgende Gliederung der Darstellung: Grundbedingungen der urchristlichen Religion (etwa Schöpfer- und Auferweckungsglaube); Handlungen; Orientierungen; Institutionen; Erfahrungen; Entwicklungen (beispielsweise die Trennungsprozesse vom Judentum). In einem anlässlich des 150. Geburtstags Heinricis gehaltenen Vortrag knüpft B. an dessen Paulus-Forschungen an. Zu Recht unterstreiche der Gelehrte die Paulusbriefe als Nucleus einer Darstellung der urchristlichen Religion. Mit Heinrici sei das Gesamtphänomen Paulus innerhalb seiner frühjüdischen wie paganen Kontexte nicht genealogisch, sondern qua Analogie zu erfassen. Den ersten Buchteil beschließt ein Beispiel für den bereits angesprochenen Gebrauch interpretativer Erkenntnisse: Neutestamentliche Aussagen zu »Vergebung« werden als Impulsgeber im Kontext der Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika vorgestellt.

Die zweite Abteilung wird eröffnet durch eine Würdigung von Boussets Kyrios Christos. Benannt werden dem Werk zugrunde liegende Prägungen, wie etwa die »Spätjudentum«-Theorie Wellhausens, aber auch Diskussionen innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule. Die Wirkung von Kyrios Christos lasse sich bis hin zu Bultmann und Hahn nachvollziehen. Bleibendes Vermächtnis des Buches sei die – bis heute nicht wieder realisierte – grundlegende Orientierung an der Kultpraxis der frühen Christusgläubigen. Es folgt ein Rückblick auf Albert Schweitzers Rede von der Ehrfurcht vor dem Leben. Sie fuße auf Jesu Selbsthingabe-Ethos der Bergpredigt. Obwohl Schweitzer bewusst die spezifische Wirklichkeitsauffassung Jesu nicht zur Grundlage einer modernen Ethik gemacht habe, lasse sich die Entfaltung der Ehrfurcht vor allem Leben mit den frühjüdischen und frühchristlichen Schöpfungstraditionen verbinden. Bei Adolf Deissmann findet B. Grundstrukturen, die im Laufe der Lektüre des vorliegenden Bandes bereits begegnet waren: Grundlage exegetischer Arbeit sei die Religionsphilologie, aus ihr folgten literatur-, dann religionsgeschichtliche Betrachtung. Deissmann habe auch eine kulturgeschichtliche Einordnung des Urchristentums erarbeitet und damit wie vielem anderen der heutigen sozialgeschichtlichen Exegese den Weg bereitet. Gerhard Delling wird vorgestellt als mit philologischer Akribie arbeitender Exeget, der in manchem dem exegetischen Bewusstsein seiner Zeit voraus gewesen zu sein scheine. Ihm komme das Verdienst zu, in den Nachkriegsjahrzehnten die religionsgeschichtlich orientierte Exegese hochgehalten zu haben und damit einen wichtigen Beitrag für die gesamte neutestamentliche Wissenschaft im deutschsprachigen Raum geleistet zu haben. Ihm steht gewissermaßen der im Folgebeitrag gewürdigte Abraham J. Malherbe zur Seite, der parallel zu Delling das Heinrici-Erbe, ihm vermittelt über van Unnik, aufgegriffen und dann in die USA gebracht habe, um dort drei Jahrzehnte lang schulbildend zu wirken. Im rund 40-jährigen Rückblick auf das Vaticanum II versammelt B. gegenseitige Bereicherungen evangelischer und römisch-katholischer Exegeten. Die katholische Exegese habe auf die Notwendigkeit methodischer Weiterentwicklung hingewiesen; Offenheit etwa gegenüber linguistischen Ansätzen habe sie vorgelebt. Von Projekten wie dem EKK gingen Impulse für die gesamte Disziplin aus. Nicht zuletzt habe auf dem Hintergrund des ökumenischen Gesprächs auch das Frühkatholizismus-Paradigma überwunden werden können. Mit einer tiefgehenden Würdigung der Theologie des Neuen Testaments Hahns, insbesondere des um das Aufzeigen der Einheit innerhalb der ntl Theologien bemühten zweiten Teils, schließt sich der Kreis zu den grundsätzlichen Überlegungen B.s zur Exegese und zu einer eigenen Darstellung der frühchristlichen Religionsgeschichte. Mit seinem bis zu einer Schnittstelle mit der Systematischen Theologie vordringenden Werk habe Hahn das in seiner Antrittsvorlesung formulierte Schaffensprogramm vollendet. Es sucht seinesgleichen und wird es noch lange, so B.

Die Aufstellung Berliner neutestamentlicher Qualifikationsschriften lässt noch einmal die dieses Buch durchziehende intensive und hochreflektierte Wertschätzung der forschungsgeschichtlichen Vorgänger wie der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an den Wirkungsorten B.s sowie weit darüber hinaus aufleuchten. Die eigenen Positionen (ent)stehen im permanenten Austausch. Kein Ich zum Du ohne Du zum Ich. Aus den Texten werden (Lebens-)Geschichten. Der Band enthält wohldosierte, oft implizite Autobiographica, etwa die Würdigung der Münchner Berufung (27, Anm. 40) oder die Verbundenheit mit A. J. Malherbe nicht zuletzt durch die gemeinsame südafrikanische Heimat. Wer darüber hinaus an forschungsgeschichtlichen Einsichten und/oder Reflexionen zu den Grundbegriffen der neutestamentlichen Wissenschaft interessiert ist, wird hier reichlich fündig.