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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1187–1189

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schumann, Daniel

Titel/Untertitel:

Gelübde im antiken Judentum und frühesten Christentum.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2021. X, 463 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 111. Geb. EUR 132,00. ISBN 9789004441842.

Rezensent:

Günter Stemberger

Daniel Schumann hat sich schon in einem früheren Band mit der Thematik der Gelübde in der frühen rabbinischen Tradition befasst (Die Tosefta. Seder III: Naschim. 2 Nedarim – Nezirut, Stuttgart 2014). In diesem Band, der überarbeiteten Fassung seiner Dissertation (Münster 2018, Betreuer Lutz Döring), bietet S. eine Gesamtdarstellung des Themas von der Bibel über die Literatur des Zweiten Tempels und das Neue Testament bis hin zu den frühen rabbinischen Texten. Gleich eingangs bemüht er sich zu rechtfertigen, warum er die rabbinischen Zeugnisse vor dem Neuen Testament einordnet, »da diese wohl noch am ehesten von der Beobachtung und Auseinandersetzung einer lebendigen Praxis des Gelübdebrauchtums herrühren dürften« (7). Welches Minenfeld er damit betritt, ist ihm wohlbewusst, weswegen er auch ausführlich auf die Methodenfrage eingeht und das Bemühen der Rabbinen um Traditionssicherung in der Mischna/Tosefta-Ordnung Kodaschim betont, abzulesen an den vielen Passagen mit »nach der Zerstörung des Tempels« (11 f.). Eine gewisse Tendenz, möglichst viele Texte dem Zweiten Tempel zuzuordnen, ist nicht zu übersehen, doch kann man S. sehr wohl ein ausgewogenes Urteil zugestehen. Fälle, die man anders beurteilen könnte, bleiben genug.

Im zweiten Kapitel, »Das Gelübdewesen und seine theologischen, religionsgesetzlichen, soziologischen und anthropologischen Zusammenhänge«, geht es S. vor allem um die Klärung von Begriffen, Wendungen, mit denen man ein Gelübde ablegt (»Inaugurationsformular«), und die Abgrenzung von Gelübde und Schwur, in hellenistischen Texten beide als εὐχή bezeichnet und eng verbunden, auch wenn Philo sie klar unterscheidet, beide eher negativ beurteilt und vor Schwüren außer bei Gericht warnt, damit auch schon auf das Neue Testament vorausweist. Einer detailreichen Besprechung von Gelübden und Schwüren in Qumran folgt die Diskussion der möglichen Annullierung von Gelübden und Eiden, wobei Rabbinen bei fehlender Intention von Gelübden entbinden bzw. diese retroaktiv als nichtig erklären und damit früher priesterliche Kompetenzen an sich ziehen, was teils schon bei Philo anklingt.

Unter dem Titel »Gelübde als bedingte Votivgabenweihe« bespricht S. im dritten Kapitel Jakob in Betel (Gen 28), das Gelübde Jiftachs (Ri 11) und die Gelobung des Feldes (Lev 27). In späterer Zeit scheint man dessen möglichen Missbrauch zu betonen, so schon in Qumran (CD A 6), wenn Priester sich daran ausbeuterisch bereichern, aber auch, wenn man mit Verbotsgelübden das Leben der Gemeinschaft schädigt. Neben Philo und Josephus bespricht hier S. auch den epigraphischen Befund, Stiftungsinschriften aus der Diaspora (Bosporus, Sardes), sich klar bewusst, wie problematisch die nähere Auswertung dieser Belege ist. Bei den Rabbinen ist nach Zerstörung des Tempels nur noch das Verbotsgelübde praktizierbar, dessen Missbrauchsmöglichkeit man sehr wohl sieht und von dem (als Neuerung) rabbinische Gelehrte entbinden können.

Ausführlich geht S. auf das Naziräergelübde auf Basis von Num 6,1–21 ein (4. Kapitel). Die Erzählungen von Samuel und Simson sieht S. gemeinsam redigiert, wobei das lebenslange Naziräat Simsons eine literarische Fiktion ist, das Samuels erst im griechischen Bibeltext explizit wird, dann in Sir 46, wo Samuel ריזנ genannt wird. Philo (Spec. Leg. 1,247–265) bezeichnet das Naziräat als das »große Gelübde«, da die Weihung seiner selbst die größtmögliche Gabe ist; wie dann auch Josephus (Ant. 4,70–72) verbindet er es mit den Erstlingsgaben, damit wohl mit dem Wochenfest, an dem Juden aus der Diaspora am ehesten dieses Gelübde im Tempel auslösen konnten. Josephus belegt auch erstmals beim Naziräat Berenikes dessen übliche Dauer von dreißig Tagen (rabbinisch dann mNaz 1,3 usw.). Rabbinisch beschränkt sich S. auf Texte, die in Bezug zur Zeit des Zweiten Tempels stehen könnten, so tNaz 4,7 über den Hirten aus dem Süden bei Simeon dem Gerechten, einen vom hellenistischen Motiv des Narziss beeinflussten Text. Ein lebenslängliches Naziräat, biblisch nie belegt (auch nicht für Simson, der ja Wein trinkt und sich an Toten verunreinigt), wird in tSot 3,16 für Absalom aus 2Sam 15,7 f. abgeleitet. Im Neuen Testament diskutiert S., ob Johannes der Täufer in Parallele zu Samuel als Naziräer verstanden wird (Lk 1,15) – wenn schon, in theologischer Deutung, nicht historisch. Wenn Jesus (Mt 2,22 f.) nach Prophetenwort Nazoräer genannt wird, bezieht dies S. wohl zu Recht auf Jes 11,1 רצנ, somit als messianische Bezeichnung und nicht in Bezug auf das Naziräat. Auch der Nachfolgespruch von Mt 8,21 par. ist kaum mit Naziräatsvorstellungen verbunden, ebensowenig der Weinverzicht Jesu in Mk 14,25 par. Anders ist es bei Paulus, der laut Apg 18,18 sich »in Kenchreä aufgrund eines Gelübdes den Kopf kahlscheren« ließ, was ein Naziräer eigentlich nur beim Tempel tun dürfte (Num 6,18); doch ist ein Scheren des Naziräers auch in der Diaspora belegt (tNaz 4,6); offenbar gab es dazu im ersten Jahrhundert verschiedene halakhische Positionen, auch wenn das Vorgehen bei Paulus sich kaum schlüssig erklären lässt. Auch die Übernahme des Opfers für vier Naziräer (Apg 21,23 ff.) und warum sich Paulus mit ihnen weihen lassen soll, lässt sich kaum kohärent erklären. Dass Paulus nach dem Gelübde von Apg 18,18 sich jetzt ausweihen sollte, doch inzwischen unrein geworden ist, eventuell durch seine »Teilnahme am Ritual der Verbrennung der Roten Kuh zur Bereitstellung des Reinigungswassers« (298), ist, wie S. selbst feststellt, reine Spekulation. Es ist höchst fraglich, ob der Ritus zu seiner Zeit je stattgefunden hat; laut mPara 3,5 war dies von Esra an nur fünf oder sieben Mal!

Kapitel fünf ist dem Verbotsgelübde gewidmet, womit man sich oder auch anderen in Form eines Gelübdes etwas, etwa den Kontakt oder den Genuss seines Besitzes verbietet, was von Beginn an als anfällig für Missbrauch verstanden wurde, wie schon Philo (Spec. Leg. 2,16), Josephus (Apion 1,166 f.) und dann Mischna Nedarim belegen, am bekanntesten jedoch Mk 7,9–13 mit dem Ausdruck Korban, der auch auf Ossuarien aus dem Kidrontal belegt ist. Später wurde der Ausdruck gern vermieden, vielleicht durch die Umschreibung konam (mNed 1,2 u. ö.) ersetzt (336–339, sehr hypothetisch). Die Tannaiten sehen wie die Tradition des Zweiten Tempels (S. 348 verbindet das zu Recht äußerst vorsichtig mit der pharisäischen Bewegung) das Verbotsgelübde als Form des Weihegelübdes, das biblisch begründet und trotz allen Unbehagens, dass es auch eine Dispensation von Torapflichten (wie der Elternehrung) nach sich ziehen kann, nicht zu verbieten ist (S. 348 f. sieht hierin, anders als für Jesus, einen Vorrang der kultischen vor der sozialen Tora). Das kurze letzte Kapitel bespricht das Banngelübde (Lev 27,29 םרח), das in Gal 1,8 f. als ἀνάθεμα aufgenommen wird, als unerfüllbare Selbstweihe auch in Röm 9,3).

Das Buch umfasst eine gewaltige Fülle an Themen und Texten, die hier auch nicht annähernd referiert werden konnten. S. legt mit diesem Werk ein umfassendes Handbuch zum Themenkreis vor, auf das alle, die mit Gelübden irgendwelcher Art in der biblisch-jüdisch-frühchristlichen Tradition zu tun haben, noch lange zurückgreifen werden. Dass viele Aussagen im Bereich des Hypothetischen bleiben, liegt in der Natur vieler Texte. Man mag eine unnötig komplizierte Sprache, übergroße Vorliebe für Fremdwörter und nicht allgemein vertraute Fachbegriffe (z. B. 35 u. ö. Gelübde als »kommissiver Sprechakt«, »das Hyperonym רדנ« usw.; 244 »differgierenden Traditionen«) bedauern. Doch insgesamt ist Schumann eine hervorragende Studie gelungen.