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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1176–1178

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Chiarini, Sara

Titel/Untertitel:

Devotio malefica. Die antiken Verfluchungen zwischen sprachübergreifender Tradition und individueller Prägung = Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne, 15.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021. 339 S. m. 8 Abb. Kart. EUR 60,00. ISBN 9783515129732.

Rezensent:

Susanne Luther

Bei der Monographie handelt es sich um die überarbeitete Fassung von Sara Chiarinis Habilitationsschrift, die im Kontext der Erstellung des Thesaurus Defixionum entstanden ist – der ersten digitalen Online-Datenbank, die alle publizierten Urkunden der antiken Fluchpraxis mit Text, Übersetzung(en) sowie materiellen und inhaltlichen Angaben zugänglich macht (inzwischen als TheDefix online) und an der C. maßgeblich beteiligt war. Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, die in je zwei Kapiteln Analysen und Ergebnisse vorlegen.

Im ersten Kapitel (21–39) diskutiert C. die in der Forschung bislang vorliegenden Taxonomien für Fluchtexte (A. Audollent, R. Wünsch, E. Kagarow, K. Preisendanz, C. A. Faraone, J. G. Gager u. a.) und betont, dass eine gattungsbasierte Kategorisierung anhand der in den Texten angedeuteten Anlässe einerseits nicht für alle Texte eine Zuordnung erlaubt, andererseits Anlass und Ziel einer Verfluchung unzureichend unterschieden werden, sodass »quere Fluchangriffe« (26), bei denen ein Vermittler den Fluch verfasst oder ein Anlass nicht mit dem Ziel koinzidiert, keine Berücksichtigung finden. Formelbasierte Taxonomien hingegen greifen entweder nicht alle in den Texten belegten sprachlichen Elemente auf oder sie beziehen sich nur auf griechische oder lateinische Texte. Demgegenüber stellt C. eine innovative Formeltaxonomie vor, die sich auf die sprachlichen Strukturen sowohl in griechischen als auch in lateinischen Texten applizieren lässt und die das »transkulturelle Wesen der antiken Fluchpraxis besonders zum Vorschein« bringt, indem analysiert wird, »wie jede Formel in den verschiedenen Zeit-, Raum- und Sprachgebieten übernommen und elaboriert wurde« (39).

Das zweite Kapitel (40–202) bietet zunächst eine auf sprach- und literaturwissenschaftlichen Vorarbeiten basierende Bestimmung des Begriffs »Formel«, der die Aspekte Form, Funktion, Situationsgebundenheit und Gebrauchsfeld berücksichtigt. C. geht vom dreiteiligen Aufbau der Formeln aus und untersucht jeweils »das Objekt oder, besser, Ziel, des Schadensrituals (patiens)«, »die Handlungen, die sowohl das Ritual als auch seine konkrete Auswirkung bestimmen (actio)« und »die Akteure, die die erwähnten Handlungen ausführen sollen (agentes)« (15). Der Fokus liegt dabei sowohl auf Übereinstimmungen als auch auf den spezifischen individuellen Variationen und lokalen Charakteristika der Verfluchungen im Lauf der Jahrhunderte. C. kann dadurch unterschiedliche Entwicklungen aufzeigen, die hier nur beispielhaft wiedergegeben werden können: z. B. lässt sich erkennen, dass konkrete sprachliche Elemente der Fluchformeln vorwiegend mit bestimmten inhaltlichen Charakteristika der Texte korrelieren. Anhand der Anordnung patiens-actio-agens lässt sich die Entwicklung der Fluchformeln von chronologisch betrachtet zunächst knappen zu immer ausführlicheren Fluchtexten nachzeichnen, wobei die Benennung des Objekts die Kernform des Fluchtextes darstellt, während die Handlungen und die Angaben über die Ausführenden mit der Zeit häufiger und ausführlicher ergänzt werden; zudem wird eine narrative Verschiebung von unpersönlichen Fluchformeln zu ausführlicheren Gebetstexten deutlich, die die Bedeutung der Betei- ligten (sowohl der Autoren und Autorinnen der Fluchtexte als auch der göttlichen Ausführenden der Verfluchungen) zunehmend hervorheben. Dass für die Bezeichnung Letzterer auch auf jüdisch-christliche Bezugsquellen rekurriert wird, lassen insbesondere die auf den Ursprung der Welt bezogenen Formulierungen erkennen (175 f.).

C. verwendet für die untersuchten Texte die Bezeichnungen »Fluch- oder Schadensritual« bzw. »-gebet«, devotio malefica anstatt der üblichen Bezeichnung defixio. Dies liegt in der Wahrnehmung begründet, dass all diese Texte im Zusammenhang religiöser Praxis stehen und auf eine Kommunikation mit dem Göttlichen bezogen sind. C. argumentiert auf Grundlage der zuvor analysierten linguistischen Merkmale – in Weiterführung der einst von H. S. Versnel vorgeschlagenen Untergattung »Gebete um Gerechtigkeit« – dafür, sämtliche devotiones maleficae unter der Gattung »Gebet« zu verorten. Denn die in der Forschung lange dominierende Position, dass »Druck und Zwang gegenüber den Gottheiten nicht zu einem gebetsartigen Text« gehörten, sondern vielmehr »ein demütiges Register kennzeichnend für die Gebetssprache« sei (192), sei zu überwinden. Sie konkludiert:

»Alles in allem erweist es sich als sinnvoller, einen extensiven Ansatz gegenüber der Aufnahme aller antikendevotiones maleficae in die Gebetsgattung zu verfolgen […]. Die Kategorie Gebet bietet sich nämlich viel eher als Oberbegriff zur Bezeichnung des gesamten Phänomens der antiken Verfluchungen denn als spezieller Terminus zur Klassifizierung bestimmter Ausdrücke innerhalb einer Fluchinschrift an. Das Gebet stellt die Form dar, die Abfassung und Struktur einer antiken Verfluchung bestimmte.« (202)

Im dritten Kapitel (205–286) richtet C. den Blick auf die Bestandteile des Fluches, die von den Verfassern individuell hinzugefügt wurden und die einen Einblick in das breite Spektrum der persönlichen Umstände und Haltungen gegenüber dem Fluchritual bieten. Unter dieser Perspektive werden hinsichtlich der situativen Ebene die Bedingungen der Entstehung des Rituals, sein Gelegenheitscharakter und seine je individuelle Gestaltung beleuchtet, hinsichtlich der emotionalen Ebene wird die sich von den formelhaften Bestandteilen abhebende individuelle Adaption des Repertoires (Beschimpfung, Klage, Schutzbitte, Segensbitte) gemäß der Gemütslage oder des Anliegens in den Blick genommen und hinsichtlich der rechtlichen Ebene werden Umfang und Arten von zugedachten Bestrafungen untersucht.

Im abschließenden Kapitel (287–299) rekapituliert C., welche grundlegende Motivation hinter der Formulierung von Fluchgebeten steht. Sie geht davon aus, dass das allen devotiones maleficae zugrundeliegende Anliegen in der Überzeugung der Verfasser und Verfasserinnen zu finden sei, dass sie einen weder durch das geltende öffentliche Rechtssystem noch durch gesellschaftlich anerkannte Verhaltenskodizes gewährten subjektiven Rechtsanspruch vertreten sowie einen dezidierten Willen zur Bestrafung aufweisen. Anklage und Urteil basieren auf einer subjektiven Gerechtigkeitsvorstellung, die – so C. – anzeige, dass es sich bei den Fluchgebeten um ein paralleles, sich auf eine göttliche Instanz berufendes Rechtssystem handele, nicht um eine letzte Alternative zum institutionalisierten Rechtssystem, auf das die Betroffenen keinen Anspruch hatten oder für den Fall, dass die legalen Wege bereits ausgeschöpft waren. C. bezeichnet die devotiones daher als »Gebete um subjektive Gerechtigkeit« (299).

Die Monographie stellt einen bedeutsamen Beitrag zu den in den letzten Jahren interdisziplinär vieldiskutierten Themen der antiken Fluchtafeln und der antiken Magie dar. Wenngleich C. sich nicht in der kontroversen Debatte über Magie und Religion in der Antike positionieren möchte und auch die geographische und chronologische Verortung der Texte in den Hintergrund tritt, so bietet der innovative linguistisch-literaturwissenschaftlich ausgerichtete, sprachübergreifende Zugang zu den Texten grundlegende neue Erkenntnisse über Formen, Pragmatik und Entwicklung der Fluchformeln über die Jahrhunderte. Für Theologie und Exegese kann darüber hinaus insbesondere die Einordnung der devotiones in die Gattung der Gebete wichtige neue Impulse setzen.