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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1172–1173

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Sommer, Urs Andreas

Titel/Untertitel:

Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2022. 272 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 9783451391675.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Eines kann man Urs Andreas Sommer gewiss nicht ankreiden: mangelndes Selbstbewusstsein. Sagt er doch im Nachwort von sich selbst, dass er »mit souveräner Gleichgültigkeit all die Studien nicht gelesen (habe), die die empirische Sozial- und Politikforschung in den letzten Jahren hervorgebracht hat […] Das Buch verlässt sich auf die eigene Anschauung, das eigene Denkvermögen und vor allem auf das Gespräch mit anderen ›Nichtfachleuten‹.« (232) Und so kommt der Text auch daher: schnell und klar argumentierend, gut übersichtlich und darin stets »souverän«, oft ohne größere Begründungen behauptend. Elegant wird man in die Argumentation hineingezogen, die sich in fünf Teilen plus einigen Rahmenstücken entfaltet: Was heißt Repräsentation? Was heißt Partizipation? Warum soll man politisch teilhaben? Wer soll politisch teilhaben? Und: Wie soll man politisch teilhaben?

Ein besonders schönes Beispiel: »Konsum um seiner selbst willen ist Partizipationsersatz.« (118) Begründung: Der Konsum sei der Ersatz für die Teilhabe am Ganzen, die verwehrt sei. »Würde der Konsument in der Partizipation Selbstwirksamkeit empfinden, könnte er dem selbstzweckhaften Konsum Lebewohl sagen.« (119) Und dies dann auch grundsätzlicher: »Lebewesen streben nicht primär nach Macht, sondern nach Partizipation.« (61) Das ist mehr als Wunschdenken, denn hinter dieser These steckt die ganze Philosophie des Autors, die immer wieder durchschlägt: Die Welt sei dem Menschen gegenüber gleichgültig. »Aktive Partizipation soll der Gleichgültigkeit der Welt trotzen, sie umgestalten und dadurch überwinden. Sie soll die Welt nostrifizieren. Aktive Partizipation heißt sich die Welt zu eigen zu machen.« (87)

Natürlich kann man das auch völlig anders sehen: Ist nicht gerade passives Empfangen Konstituens des Menschen und gerade das aggressive Sich-Aneignen der Welt die Quelle der aktuellen Zerstörungen? Derartige Zweifel kommen nicht auf und sollen es auch nicht. Allerdings gilt auch: Identität, ein Selbst gibt es nicht. Ich bin der Schnittpunkt der Rollen, die ich spiele. »Was ich bin, bin ich im Austausch mit all dem, was mir entgegentritt« (31), weiß der Autor. Dennoch: »Niemand kann auf Dauer an meiner Stelle stehen.« (87) – wer etwas delegiert, hat schon verloren. »Der Staat, das Gemeinwesen ist nichts anderes als die Partizipation seiner Bürgerinnen und Bürger.« (67) Und zwar der »Jetztzeitmenschen«, die endlich die Macht übernehmen sollen. Herkules ist nichts gegen den Autor. Wiederum souverän wischt er z. B. das Argument der gewaltigen Transaktionskosten im Fall der Einführung einer direkten partizipativen Demokratie vom Tisch. Es ginge gar nicht um wenig Kosten als solche: »Das Politische ist vielmehr genau das, was die Ökonomie unter ›Transaktionskosten‹ fasst: die Prozesse, die am Ende schließlich zu einer Entscheidung führen.« (175)

Manche Passagen erinnern mit ihrer präzisen Polemik an den Aufschrei von Querdenkern. Vieles ist »grober Unfug«; es geht um das »altabendländische Demokratiedogma mit lückenloser Genealogie« (106). Warum ginge man nicht gleich nach Nordkorea oder China? Usw. Aber ganz so schlimm ist es denn doch nicht. Der Autor argumentiert sachlich und sucht immer wieder nach plausiblen Anschlussmöglichkeiten. Ausdrücklich grenzt er sich von Rechtspopulisten, die ja ebenso direkte Demokratie fordern, ab: Sie missbrauchten diese Forderung!

Allerdings räumt er den Querdenkern eine valide Existenzberechtigung ein. Sie seien nämlich ein markantes Indiz dafür, dass die Menschen längst über repräsentative Formen der Demokratie hinausgereift seien und mehr wollten. Die Entfesselung der Sprachgewalt in den sozialen Medien wäre zu begrüßen, denn nun maßten sich Menschen endlich einer Selbstwirksamkeit an, »die aus Sicht der berufenen Unkenrufer dazu nicht autorisiert sind.« (22) Deswegen ist sie weder gut noch böse, sondern ein »Symptom dafür, dass die Menschen nicht die Weltwirksamkeit haben, die ihnen als freien und mündigen Individuen eigentlich zukommen müsste.« (23)

Und darum geht es: die Proklamation der Notwendigkeit direkter Demokratie auf allen Ebenen. Das Urübel unseres Gemeinwesens sei das repräsentative Prinzip, was bedeutet, dass andere für mich stehen. »Das ist dem Stand der Selbstaufklärung des Menschen nicht angemessen.« (12) Seine Selbstwirksamkeit könne so nicht wirklich freigesetzt werden und es sei eben diese Blockade, die Misstrauen und Frustration an der Demokratie schüren würde. Aufklärung bedeute, »dass es keine Stellvertretung mehr gibt« (13)– so die pointierte These, die das Buch entfaltet. Obwohl der Autor ansonsten glaubt, völlig frei von metaphysischen Annahmen zu argumentieren (das seien alles »Mythen« oder »Mystik«), baut er hier eine epochale menschheitsgeschichtliche Argumentation ers-ten Ranges auf. Die »Selbstermächtigung des Jetztzeitmenschen« (110) hätte ihren Höhepunkt erreicht. Die »direkt-partizipatorische Demokratie ist die privilegierte Möglichkeit, sich permanent im Gebrauch von Möglichkeiten einzuüben.« (116)

Was bleibt am Ende? Der Eindruck eines wahrhaft gewaltigen Gestaltungsdrucks, den der Autor auf die einzelnen Menschen legt. Für jeden und jede gebe es eine Weltgestaltungspflicht (207). »Jeder ist aufgefordert, aus seinem Leben etwas zu machen, seine Sicht einzubringen, seine Welt zu gestalten.« Das ginge nur direkt demokratisch. »Niemand kann mich in meinem politischen Tun vertreten.« (208) Der einzige Fixpunkt in diesem Gefüge bin ich selbst. Deswegen stehen auch alle stabilen Strukturen dauernd infrage: es gibt nirgendwo »außerhalb« einen Halt. Jederzeit kann alles verändert werden. Nur so blieben die Einzelnen frei von Frus-trationen.

Aber ist das mehr als eine radikal bürgerliche Wunschvorstellung? Reicht dafür das Bedingungslose Grundeinkommen als materielle Basis aus? Wo bleibt der Rechtsstaat mit seinem Allerheiligsten, dem Eigentum? Immerhin scheitert in S.s optimistischem Zukunftsbild 2058 eine Abstimmung zur Einführung einer Vererbungslotterie! Was ist mit der ökonomischen Grundlage, dem Kapitalismus? Blauäugig wird versichert: »Wenn jeder politisch mitentscheiden kann, verliert das Geld an Wertigkeit […] wie weit die Macht des Kapitals reicht und wie weit nicht«, hänge dann von politischer Willensbildung ab. Das Geld verliere seine bestimmende Bedeutung, »falls alle Menschen über das Wesentliche ihres Lebens selbst bestimmen können« (83). »Geldarmut entmündigt nicht. Im Gegenteil: Sie beflügelt das Partizipationsbestreben, wenn man sie nur lässt.« (84)

Dies alles ist eine Sammlung von Fiktionen und Träumereien. Sie haben ihren berechtigten Ausgangspunkt in der überall sichtbaren Krise des repräsentativen Prinzips. Da liegt der harte Kern von S.s Argumentation, dem man trotz aller Übertreibungen nicht ausweichen darf. In der Tat muss das repräsentative System verändert werden: Bürger wollen verbindliche Resonanzen auf ihre Vorschläge erhalten. Praktikable Vorschläge dafür finden sich am Ende des Buches durchaus. Und vielleicht hilft ihnen ja auch sein Pathos vom Anbruch eines neuen Zeitalters des selbstmächtigen Individuums zum Durchbruch und schadet ihnen nicht.