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Ausgabe:

Dezember/2022

Spalte:

1170–1171

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Sander, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Europäische Identität. Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 272 S. Geb. EUR 25,00. ISBN 9783374070190.

Rezensent:

Thomas Martin Schneider

Der emeritierte Gießener Sozial- und Erziehungswissenschaftler Wolfgang Sander hat ein gut lesbares, kluges Buch vorgelegt, das sowohl eine kritische Analyse des gegenwärtigen Standes der europäischen Einigung bietet als auch einen Reformvorschlag unterbreitet, wie diese Einigung zukunftsfähig gestaltet werden könnte. Ungeachtet ihres essayistischen Charakters ist S.s Argumentation wissenschaftlich fundiert und zeugt auch von theologischer und insbesondere kirchenhistorischer Kompetenz.

S. stellt die Bedeutsamkeit der europäischen Einigungspolitik heraus, zugleich aber deren »konzeptuelle Schwäche«, die zu einer schwindenden Akzeptanz führe. Eine europäische Identität könne und dürfe freilich nicht »der Bevölkerung« von »politische[n] Institutionen« aufoktroyiert werden (33). Damit distanziert der Autor sich von konservativ-restaurativen, autoritären christlichen Staats-ideen etwa des ausgehenden 19. Jh.s. Ebenso deutlich grenzt er sich ab von der »politisch rechte[n] Okkupation des Identitätsbegriffs […] im neuen Rechtspopulismus« wie von »spiegelverkehrt[en] […] identitätspolitische[n] Konzepte[n], die sich in der politischen Linken in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr durchgesetzt haben« (27). Historisch sei Europa, so S., letztlich ein Konstrukt, das durch »drei große Traditionslinien« geprägt worden sei, die »sich intensiv wechselseitig beeinflusst« hätten (14) und mit den »drei metaphorischen Städtenamen Athen, Rom und Jerusalem« bezeichnet werden könnten (24). Prototyp eines Europäers sei Paulus gewesen, der als christlicher Theologe zugleich »griechisch gebildeter Jude« und »römischer Bürger« gewesen sei und die antike Sozialordnung mit ihren unveränderbaren »Rollenzuweisungen und kollektiven Identitäten« in Frage gestellt habe (57). S. wertet dies als eine »moralische Revolution« (53), die »lange vor der europäischen Aufklärung und der Moderne« das hervorgebracht habe, was heute als »europäische Werte« bezeichnet werde, nämlich »Freiheit, Gleichheit und Solidarität« (60).

Bei einem kenntnisreichen Durchgang durch die Kirchengeschichte weist S., in protestantischer Tradition ausgehend von Paulus, Augustinus und Martin Luther, auf weitere Einsichten und Werte hin, die für den Europagedanken nach wie vor bedeutsam seien: die »Entgötterung der Welt«, die »Endlichkeit des Universums« (61 f.), die Unterscheidung zwischen der »irdischen Gemeinschaft« und dem »Reich Gottes«, das sich niemals mit den Mitteln der Politik verwirklichen lasse (64), die »Bewahrung und Förderung von Bildung und Wissen«, zunächst in den Klöstern und dann im Rahmen der Reformation (68), und die »Entwicklung des Rechts« (73), angestoßen durch die römisch-katholische Kanonistik. Ausführlich geht S. auf die »Spaltungen des europäischen Christentums in Konfessionen« im Zusammenhang mit dem (allerdings falsch datierten) »morgenländischen Schisma« und der Reformation ein (76 ff.) und weist darauf hin, dass die Trennungen mittlerweile »erheblich an Gewicht verloren« hätten und Religionsfreiheit unumstritten sei (80). Man könnte freilich über die Spaltungen selbst auch positiver urteilen, nämlich im Sinne der allmählichen Herausbildung des Pluralitätsgedankens nach einem langen, leidvollen Lernprozess. Etwas apologetisch wirken die Abschnitte über die Kreuzzüge und Hexenverfolgungen (82–92), wenn auch S. zuzustimmen ist, dass solche Themen in der öffentlichen Wahrnehmung stark klischeebehaftet sind. Plausibel sind S.s kritische Einwände gegen Vorschläge, die europäische Identität in der religionskritischen Aufklärung zu verorten. Er weist u. a. auf die Pluriformität von Aufklärung und die problematischen Folgen von radikalisierter Aufklärung, etwa in der Phase des Terrors während der Französischen Revolution, hin. Mit Bezugnahme auf neuere religionssoziologische Studien zeigt S. in diesem Zusammenhang die Schwächen der Säkularisierungsthese auf und ebenso die Schwächen rein säkularer Begründungen europäischer Identität. Letzteres entfaltet er anhand von vier Beispielen:

Weder die Orientierung an bloßer »Vielfalt und Fluidität« (129) noch das laizistische »Konzept der weltanschaulichen Neutralität des Staates« (132) noch ein »säkularer Humanismus« (136) noch ein »Sammelsurium« »gemeinsame[r] europäische[r] Werte« (140) könnten eine tragfähige Lösung für das »ungelöste Problem der Normativität Europas« (127 ff.) sein. Stattdessen plädiert S. für eine »christliche Renaissance für Europa« (145 ff.), wobei er nochmals klar macht, dass es keinesfalls um die Wiederherstellung eines »theokratische[n] System[s]« oder »das Konzept des ›christlichen Abendlands‹« (147) oder um irgendwelche fundamentalistischen Tendenzen gehen könne (155 f.). U. a. im Anschluss an den Philosophen Holm Tetens betont S. vielmehr die Vernünftigkeit des christlichen Gottesglaubens und dessen Vereinbarkeit mit (natur-)wissenschaftlicher Forschung. Sodann zeigt er die Aktualität traditioneller theologischer Grundbegriffe auf, etwa des recht verstandenen Sündenbegriffs im Sinne eines »transmoralische[n] Begriff[s]« (167). Vier mögliche Impulse des christlichen Glaubens und Denkens für europäische Identitätsfindung stellt S. zur Diskussion: erstens die »Erneuerung des Gottesbezugs« (172) im Gegenüber zu den vielen Abgöttern der säkularen Moderne; zweitens die »Erneuerung des Weltbezugs« (181) im Sinne einer »Wiederentdeckung der Unverfügbarkeit der Welt, ja selbst des eigenen Lebens« (185), aber auch im Sinne einer Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung; drittens die »Erneuerung des Freiheitsverständnisses« (185) ganz im Sinne von Luthers dialektischem Freiheitsverständnis, wozu er auch dessen politische Ethik zählt mit der »Bereitschaft, auf legitime Weise zustande gekommene Vorschriften anzuerkennen« (190); viertens die »Erneuerung der Bildung« (193) jenseits eines rein utilitaristischen (Aus-)Bildungsverständnisses, bei dem es bloß um »Vermittlung von vordefinierten Kompetenzen« gehe (194). Was das Verhältnis von Staat und Religion betrifft, spricht S. sich klar für »das Modell der Kooperation von Staat und Kirchen bei wechselseitiger Anerkennung der jeweiligen Autonomie« aus (201), das zugleich volle Religionsfreiheit gewähre und prinzipiell offen sei für nicht-christliche Religionen, insbesondere für das Judentum, aber auch für den Islam, sofern dieser sich eindeutig von islamistischen Tendenzen distanziere. Das »faktische Zusammenwachsen christlicher Milieus« sieht S. als Chance an, sich an den jeweiligen Stärken der verschiedenen Konfessionen zu orientieren (212 f.). Hauptaufgabe der Kirchen ist nach S. eine »auf Kernfragen des Glaubens konzentrierte […] Bildungsoffensive«, wohingegen sie »zu tagespolitischen Fragen in der Regel schweigen« sollten (214 f.). Dabei setzt S. mehr auf »die vielen Millionen Christen«, die »in mehr oder weniger großer Dis-tanz« zur Kirche leben, als auf die kirchlichen Repräsentantinnen und Repräsentanten (215 f.).

Der Hype um die verstorbene britische Königin hat gezeigt, dass die Menschen jenseits ökonomischer Interessen und funktionaler Strukturen geradezu nach Orientierung und Identität lechzen. S. traut sich, das in Westeuropa (kirchlich) schwächelnde Christentum hier wieder ins Gespräch zu bringen, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und auf Verordnung und Zwang zu setzen. Seine politische Analyse und theologische Reflexion sind überzeugend. Dass die praktische Umsetzung seines Vorschlags »als schwierig, wenn nicht als unmöglich« erscheint, räumt er abschließend selbst unumwunden ein (231).