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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1124–1125

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schneider, Christoph [Ed.]

Titel/Untertitel:

Theology and Philosophy in East-ern Orthodoxy. Essays on Orthodox Christianity and Contemporary Thought.

Verlag:

Cambridge: The Lutterworth Press 2021. 194 S. Kart. £ 15,00. ISBN 9780227177532.

Rezensent:

Vasilios N. Makrides

Die Stellung der Philosophie im Orthodoxen Christentum weist historisch gesehen verschiedene Besonderheiten auf. So ist sie im Vergleich zur entsprechenden Situation im Römisch-Katholischen und im Protestantischen Christentum, vor allem ab dem Hochmittelalter bis in die Gegenwart hinein, viel eingeschränkter, was ein ernsthaftes Hindernis für das gegenseitige Verständnis war. Einerseits warfen die Orthodoxen dem westlichen Christentum oft vor, den christlichen Glauben durch den ausgiebigen Gebrauch philosophischer Methoden und Argumente übermäßig zu rationalisieren, und versuchten, sich dementsprechend auf verschiedene Weise davon abzugrenzen. Andererseits kritisierten die westlichen Christen die Orthodoxen, die philosophischen Entwicklungen im Laufe der Geschichte zu vernachlässigen und in Folge den christlichen Glauben nicht mit dem nötigen intellektuellen Hintergrund zu untermauern und zu verkünden. Trotz alledem zeigt ein genauerer Blick auf die Geschichte, dass die Philosophie in der Orthodoxie eine Rolle gespielt hat, wenn auch eine begrenzte und umstrittene. Diese sollte unter ihren eigenen Bedingungen bewertet werden und nicht durch den ständigen Vergleich mit der Situation im westlichen Christentum. Beispielsweise haben vor allem russisch-orthodoxe Denker im 19. und 20. Jh., sowohl im Lande selbst als auch in der Diaspora, wichtige Beiträge geleistet, die internationale Anerkennung gefunden haben, und dies trotz der langen kommunistischen Herrschaft.

Im 21. Jh. scheint sich die Situation jedoch geändert zu haben, da es mehr kritische und kreative Auseinandersetzungen zwischen der orthodoxen Tradition und der zeitgenössischen Philosophie zu geben scheint. Davon zeugt nicht zuletzt auch der vorliegen-de interdisziplinär konzipierte Sammelband, herausgegeben von Christoph Schneider, Akademischer Direktor am »Institute for Orthodox Christian Studies« (Cambridge, UK). Er enthält acht verschiedene Beiträge aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven zur politischen Philosophie, Phänomenologie, Metaphysik, Philosophie des Selbst/Geistes, Logik, Ethik und Sprachphilosophie. Wie nicht anders zu erwarten, nimmt die Erörterung älterer und neuerer philosophischer Bestrebungen russisch-orthodoxer Denker den größten Anteil an den verschiedenen Beiträgen ein:

Evert van der Zweerde erörtert zuerst die Ideen verschiedener russischer Religionsphilosophen (V. Solov’ëv, N. Berdjaev, I. Iljin) zu Theokratie (sobornost) und Demokratie, die in Putins Russland – oft ungerechtfertigt – in einem antiwestlichen Umfeld instrumentalisiert wurden.

Kristina Stoeckl und Dmitry Uzlaner behandeln verschiedene Konzepte von Postsäkularität im postsowjetischen Russland, in dem die Kluft zwischen Religion und Säkularität auf unterschiedliche Weise neu artikuliert wurde. Eine phänomenologische Ana- lyse des orthodoxen Bewusstseins, der geistlichen Unterscheidungskraft und der spirituellen Erfahrung werden von Christina M. Gschwandtner sowie durch das personalistische Konzept der »synergetischen Anthropologie« von Sergei Horuzy unternommen. Beide weisen auf die Bedeutung von formativen Praktiken hin, welche die inneren Aktivitäten des Selbst und die damit verbundenen kognitiven Fähigkeiten regulieren. Auf diese Weise kann das orthodoxe Verständnis des Selbst im Dialog mit postmodernen philosophischen Richtungen erweitert werden.

Der Beitrag von David Bentley Hart über die Unvermeidbarkeit der Metaphysik betont die Widersprüche einer gänzlich »post-metaphysischen« Theologie und Philosophie und plädiert für ein notwendiges Gleichgewicht zwischen Transzendenz und Immanenz.

Pawel Rojek analysiert unter dem Gesichtspunkt der Logik verschiedene Aspekte der Art und Weise, wie der russische Kleriker, Religionsphilosoph und Mathematiker P. Florenskij versuchte, mit dem Problem der grundlegenden Antinomie des christlichen Glaubens umzugehen. Rico Vitz bemüht sich darüber hinaus um einen Dialog zwischen orthodoxer Theologie und Philosophie über ethische Fragen, indem er die asketische Spiritualität mit der neueren Forschung auf dem Gebiet der Tugendethik verbindet, wobei er auch die Tugendtraditionen des antiken Griechenlands heranzieht und Parallelen zwischen der orthodoxen Tugendethik und dem Konfuzianismus findet.

Schließlich unternimmt es Christoph Schneider, auf der Grundlage der linguistischen Ideen von P. Florenskij und S. Bulgakov herauszufinden, wie die orthodoxe Theologie zur modernen Sprachphilosophie beitragen kann, indem sie einige reduktionistische Irrtümer der Letzteren vermeidet.

Charakteristisch für die meisten Beiträge ist die Verbindung der orthodoxen Tradition (z. B. der patristischen) mit zeitgenössischen philosophischen Erkenntnissen. Auf diese Weise legt dieser Band anschaulich dar, dass sich der aktuelle theologische Diskurs im Orthodoxen Christentum nicht auf seine normative Vergangenheit und deren unreflektierte Wiederholung in der Gegenwart beschränkt, sondern dass er neue Wege der produktiven Interaktion mit modernen intellektuellen Entwicklungen erproben kann. Zudem kann er die gegenwärtige philosophische Reflexion durch neue Perspektiven aus dem orthodoxen Erbe bereichern – und zwar zur Artikulierung einer neuen »christlichen Philosophie« (4) im Allgemeinen jenseits der Irrtümer der Vergangenheit (vor allem im Westen). Obwohl die genauen Konturen einer orthodox begründeten theologischen Erkenntnistheorie noch einer Ausarbeitung bedürfen, geht es hierbei um einen neuen internationalen Trend (insbes. in westlichen Kontexten), die orthodoxe Tradition angesichts der (post-)modernen Herausforderungen aus einer frischen und kreativen Perspektive zu betrachten. Nicht zu vergessen ist übrigens, dass auch ein eminenter analytischer Religionsphilosoph – Richard Swinburne (Oxford) – zur Orthodoxie konvertierte und diese Tendenz auch vertritt. All dies sind vielversprechende Anzeichen für eine ergiebigere Korrelation zwischen Orthodoxie und Philosophie in der Zukunft.