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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1122–1124

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kartashyan, Mariam

Titel/Untertitel:

Zwischen kirchlicher Reform und Kulturimperialismus. Die Bulle Reversurus (1867) und das armenisch-katholische Schisma in seinen transnationalen Auswirkungen.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. 304 S. m. 7 Abb. = Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte. Asien, Afrika, Lateinamerika, 35. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783447114011.

Rezensent:

Karl Pinggéra

In der römisch-katholischen Kirche war es ein durchaus langer und keineswegs geradliniger Weg, der zur Wertschätzung der Eigenüberlieferungen des Christlichen Ostens geführt hat, wie sie in Orientalium Ecclesiarum, dem Dekret des II. Vaticanums über die katholischen Ostkirchen, nachdrücklich zum Ausdruck gebracht wurde. Als ein Tiefpunkt auf dem Weg dorthin darf die Bulle Reversurus von 1867 gelten, mit der Pius IX. die eigenkirchlichen Rechte der mit Rom unierten Armenier erheblich einschränkte. Die Bulle sorgte für Aufsehen weit über die armenisch-katholische Kirche hinaus. Die Beschäftigung mit der turbulenten Vor- und Nachgeschichte der Bulle ist nicht nur für Spezialisten der Ostkirchenkunde von Interesse. Denn hier werden die papalen Ansprüche und das autoritäre Amtsverständnis »des Unfehlbaren« auf einem Feld, das sonst weniger Beachtung findet, exemplarisch greifbar.

Mariam Kartashyan hat diese Geschichte erstmals gründlich aufgearbeitet. Das Buch geht zurück auf eine von Angela Berlis betreute Dissertation am Departement für Christkatholische Theologie in Bern. In der dort herausgegebenen »Internationalen Kirchlichen Zeitschrift« waren bereits 2016 (Heft 4) neuere Arbeiten zum armenisch-katholischen Schisma, das sich im Gefolge von Reversurus von 1871 bis 1881 hinzog, vorgestellt worden. Die Geschichte der altkatholischen Bewegung wurde von diesem Schisma insofern berührt, als ein Teil der katholischen Armenier mit Altkatholiken und Anglikanern freundschaftliche Beziehungen aufgenommen hatte. Die Dissertation zeichnet sich also in einen Forschungszusammenhang ein, für den in Bern denkbar günstige Voraussetzungen bestehen.

K. hat für ihre Untersuchung zahlreiche armenische Archivbestände konsultiert und namentlich aus dem Bestand des armenisch-katholischen Patriarchats in Bzommar (Libanon) eine Fülle bisher unbekannter bzw. nicht ausgewerteter Dokumente zu Tage gefördert. Der mit der Entdeckerfreude einhergehenden Gefahr, die Darstellung allzu kleinteilig an den gefundenen Quellen entlangzuführen, ist K. zwar nicht immer entgangen, doch sorgen die übersichtliche Gliederung und rahmende Abschnitte, in denen die Ereignisse um 1867 in größere historische Kontexte gestellt werden, für den nötigen Überblick.

Nachdem Kapitel 1 die Entstehung einer mit Rom unierten armenischen Kirche vorgestellt hat, wendet sich Kapitel 2 der Lage der katholischen Armenier im Osmanischen Reich im 19. Jh. zu und zeichnet die wachsenden Spannungen innerhalb der armenisch-katholischen Kirche unter dem Pontifikat von Pius IX. nach. Sie entzündeten sich an der Gestalt des Anton Hasun (1809–1884), der ab 1847 als Erzbischof-Primas für die katholischen Armenier in Konstantinopel wirkte und 1866 Patriarch wurde. Den Aufstieg auf der kirchlichen Karriereleiter verdanke er seiner unbeirrten Treue zum römischen Stuhl, doch war diese bis zur Unterwürfigkeit gehende Treue auch der Grund dafür, dass er einen nicht unerheblichen Teil des Kirchenvolkes gegen sich aufbrachte. Denn zunehmend wurde deutlich, dass Rom die traditionell selbständige Wahl des armenisch-katholischen Ersthierarchen durch Bischöfe, niederen Klerus und Laien nicht länger zu dulden bereit war. Die Bulle von 1867 behielt die Wahl ausschließlich den Bischöfen vor und machte die Ausübung des Patriarchenamtes von der Bestätigung durch den Papst abhängig. Dieser Eingriff in die kirchlichen Überlieferungen der Armenier hatte auch zivilrechtliche Auswirkungen. Denn Patriarch Hasun war von der Hohen Pforte zugleich als Patrik, also als zivilrechtlicher Vertreter der armenisch-katholischen Millet, anerkannt worden. Die Diskussionen nach Reversurus drehten sich nicht nur um rein kanonistische Fragen, sondern um die Selbstbestimmtheit der katholischen Millet als solcher. Zu den schärfsten Kritikern Roms zählte Malakʿia Ōrmanean (1841–1918), der 1879 zur armenisch-apostolischen Kirche übertrat, später auch das (nicht-unierte) Patriarchenamt in Konstantinopel ausübte und als gelehrter Geschichtsschreiber hervortrat. In seiner katholischen Zeit unterstützte er Sukʿias Gazančean (1820–1883), der seit 1864 als Generalabt des armenischen Antonianerordens wirkte und zum Zentrum des antihasunitischen Widerstandes wurde. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit wurde er damit auch zum Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas als Ausdruck übersteigerter päpstlicher Ansprüche. Auf dem I. Vaticanum war er Mitunterzeichner der Adresse der französischen Minoritätsbischöfe. Am 2.11.1870 erfolgte die Exkommunikation Gazančeans und seiner Anhänger. Umgekehrt setzte die Hohe Pforte im selben Jahr Hasun als Patrik ab und entzog ihm auch die Anerkennung als Patriarch. Ein Jahr später wählte eine kirchliche Versammlung in Konstantinopel – ohne Zustimmung Roms – einen neuen, antihasunitisch gesinnten Patriarchen und einen neuen Patrik.

In den folgenden Kapiteln werden die verschiedenen Ebenen in den Blick genommen, auf denen das nun entstandene Schisma für Diskussionen und neue Allianzen sorgte. Durch die zivilrechtliche Dimension der Vorgänge im Osmanischen Reich mussten sich die europäischen Mächte zum Schisma verhalten. Aus den diplomatischen Depeschen nach 1871 ersieht man, wie die jeweilige Haltung zum römischen Stuhl (Kulturkampf, Anti-Ultramontanismus etc.) die Parteinahme im armenisch-katholischen Schisma bestimmte (Kap. 3). Ferner kam es zu intensiven Beziehungen der Antihasuniten zu Anglikanern und Alt- bzw. Christkatholiken. Man meinte, gemeinsame ekklesiologische Überzeugungen zu teilen. Zeitweise kursierten Pläne, altkatholische Bischöfe und Pries-ter durch armenisch-katholische Bischöfe weihen zu lassen. Auch wenn aus diesen Plänen nichts wurde, fanden die zwischenkirchlichen Beziehungen ein reges Echo nicht nur in der deutschsprachigen Presse (Kap. 4). Die krisenhaften Zustände im Osmanischen Reich nach 1875 (Balkankrise, Russisch-Türkischer Krieg) schwächten die Position der Antihasuniten. Zudem konnte Leo XIII. die internationalen Beziehungen des römischen Stuhls rasch verbessern. Französischem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass der Berliner Vertrag 1878 die Position Roms gegenüber den katholischen Kirchen des Osmanischen Reiches stärkte. Überwunden wurde das Schisma 1881, als sich der antihasunitische Patriarch zum Rücktritt gezwungen sah und Rom auf der anderen Seite Hasun dazu nö-tigte, seinen Anspruch auf das Patriarchamt ebenfalls aufzugeben. Der immer noch widerständige Antonianerorden wurde aufgelöst. Nur noch in einem Ausblick wird deutlich, dass es zwischen den verschiedenen Rechtsauffassungen der katholischen Armenier und Roms noch längere Zeit zu Spannungen kam, sich Rom auf die Dauer freilich durchsetzen konnte. Die armenisch-katholischen Patriarchen und Bischöfe werden heute nur von der Bischofs- synode, also unter Ausschluss von niederem Klerus und Laien gewählt (Kap. 5).

Das abschließende 6. Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen, hebt auf die Verflochtenheit von kirchlichen, theologischen und politischen Aspekten ab und wiederholt den Begriff »Kulturimperialismus«, um das Eingreifen Roms in die armenischen kirchlichen Traditionen und namentlich die Auflösung des Antonianerordens zu beschreiben. Der Begriff wird freilich nicht hinreichend profiliert, um sein heuristisches Potential im Blick auf die Papstgeschichte um und nach dem I. Vaticanum entfalten zu können. Auf jeden Fall bietet die Arbeit neue und wichtige Einblicke nicht nur in die Problemlagen, denen sich eine mit Rom unierten Ostkirche im 19. Jh. ausgesetzt sah, sondern auch in das komplexe Zusammenspiel von kirchen- und machtpolitischen Akteuren im Zeitalter des Imperialismus.