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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1114–1116

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kopp, Stefan, u. Stephan Wahle [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Nicht wie Außenstehende und stumme Zuschauer. Liturgie – Identität – Partizipation.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2021. 408 S. = Kirche in Zeiten der Veränderung, 7. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783451388279.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Die Besonderheit des Sammelbands liegt in der Verbindung der drei im Untertitel genannten Stichworte Liturgie, Partizipation und Identität. Während die participatio actuosa in den nachkonziliaren Überlegungen schon vielfältig und breit diskutiert wurde (und immer noch wird), geht der vorliegende Band darüber hin-aus, indem die Fragestellung nach liturgischer Partizipation in den Horizont der Identitätsthematik eingezeichnet wird. Die Beiträge erkunden auf unterschiedliche Weise das identitätsstiftende Potenzial der Teilnahme am Gottesdienst.

Entstanden ist der Band im Kontext des Paderborner Graduiertenkollegs »Kirche-Sein in Zeiten der Veränderung«, das sich in interdisziplinärer Weise mit Transformationsprozessen in Kirche und Gesellschaft auseinandersetzt. Dieses Grundanliegen ist im Sammelband gut wiedererkennbar.

Im ersten Teil («Interdisziplinäre Ausgangspunkte und Fundierungen«) werden Identitätstheorien der Gegenwart vorgestellt (Heiner Keupp, 25–58) und aus pastoralpsychologischer (Lukas Schröder, Christoph Jacobs, Ulrich Riegel, 59–77), seelsorgerlicher (Christoph Jacobs, Kathrin Oel, 78–100) und liturgischer Perspektive (Kathrin Oel, Christoph Jacobs, 101–120) reflektiert.

Darauf folgen im zweiten Teil »biblisch-historische und theologische Vergewisserungen«, in denen der Frage nachgegangen wird, welche Faktoren im Alten Testament (Irmtraud Fischer, 123–139), in den urchristlichen Gemeinden (Thomas Söding, 140–159), in der Alten Kirche (Thomas Jürgasch, 160–178) und in der Gegenwart (Jan Loffeld, 179–194; Hans-Joachim Höhn, 195–211) identitätsstiftend sind.

Die »Zwischenrufe aus Kunst, Kultur und kirchlicher Praxis« im dritten Teil beleuchten das Thema von unterschiedlichen Seiten, wobei die Raum-Dimension besonders stark reflektiert wird (Albert Gerhards, 215–232; Guido Schlimbach, 233–247; Andreas Denk, Paul Böhm, 248–262, Monika Willer, 263–270). Nach einem Gedicht von Nora Gomringer (271 f.) werden die Zeltkirche in Elkeringhausen vorgestellt (Silke Otte, Andreas Rohde, 273–288) und Fragen rund um Kirchenmusik behandelt (Meinrad Walter, 289–316).

Die abschließenden »liturgiewissenschaftlichen Reflexionen« widmen sich der Veränderbarkeit der Liturgie (Stefan Kopp, 319–333), der identitätsstiftenden Kraft der Partizipation (Stephan Wahle, 334–347) und der Vielfalt liturgischer Dienste (Birgit Jeggle-Merz, 348–363). Eine evangelisch-reformierte Perspektive zur Bedeutung des Gottesdienstes für den Gemeindeaufbau (Ralph Kunz, 364–387) und nachpandemische Überlegungen zu Liturgie und Ekklesiologie (Stefan Böntert, 388–404) runden den Band ab.

Ohne die Beiträge im Einzelnen vorzustellen, sollen hier drei Themenkomplexe nachgezeichnet werden, die in der Gesamtlektüre erkennbar sind.

1) Die Beiträge im Band zeigen eine deutliche Spannung zwischen dem normativen Potenzial liturgischer Partizipation als Quelle kirchlicher und christlicher Identität und den subjektiven Erfahrungen. Die »tätige Teilnahme an der Feier des Paschamysteriums« soll »wesentlich für die soziale Identität der Kirche wie auch für die personale Identität christlicher Existenz« sein (9). Dabei gehe es um ein gemeinsames Handeln, das eine »individualistische Frömmigkeit« ausschließe (11). Die Identität der Kirche ist aufs Engste an die Liturgie geknüpft: »Liturgie ist ein Feld der Identitätsbildung von Gläubigen und Seelsorgenden« (120); »An der identitätsstiftenden Bedeutung von Liturgie für die Kirche kann kein Zweifel bestehen« (334). Damit stimmt die Beobachtung überein, dass die »Teilhabe aller« (141) ein wesentlicher Aspekt urchristlicher Gottesdienstpraxis war. Die vielfältigen Beteiligungsformen seien Ausdruck der »Einheit des Glaubens« (143) und der Gottesdienst eine »Aktivität der gesamten Gottesdienstgemeinde, ja der ganzen Kirche« (150). Eigentlich wäre die gemeinsame Gottesbegegnung die »stärkste Ressource, die den Seelsorgenden zur Verfügung steht« (117) und auch für »Christ(inn)en in den Gemeinden vor Ort« sollte gelten: »Liturgie bildet ihre Identität« (118). Diesem normativen Anspruch steht die Beobachtung gegenüber, dass in der »Zweiten Moderne« die kollektiven Identifikationsangebote der »Ersten Moderne« nicht mehr tragen und jeder Mensch sich individuell am Projekt der eigenen Identitätsbildung abarbeiten muss (25–58). Das widerspiegelt sich im Befund, dass die Eucharistie für viele Priester nur begrenzt als identitätsstiftende Kraft wahrgenommen wird (71–73.86). Es gibt inhärente Spannungen zwischen liturgischer Rolle und Authentizität (107). Die für die Identitätsarbeit bedeutsamen Kriterien der Authentizität und der Anerkennung (51.76) werden von vielen Menschen in der Teilnahme an der Liturgie gerade nicht erfahren. Das Prinzip der participatio actuosa erweist sich dann als utopisch und stehe in der »Gefahr einer geschlossenen, elitären Gemeinschaft«. Es widerspiegle mehr eine »kleine Kerngemeinde« als eine »offene, einladende und moderne Kirche« (345) – so die ernüchternden Analysen bei Wahle (341–346).

2) Die Spannung zwischen normativer Setzung und empirischer Erfahrung wird produktiv fruchtbar gemacht, indem Möglichkeiten erkundet werden, wie liturgische Partizipation stärker zur Identitätsbildung beitragen kann. Einige Ansätze zielen auf eine Flexibilisierung der Liturgie (z. B. 319–333), auf das Experimentieren mit »Patchwork-gerechten Liturgien« (387) sowie auf die Vervielfältigung liturgischer Partizipationsformen (z. B. 348–363). Denn wenn es vielfältigere Gelegenheiten geben könnte, dass Menschen in unterschiedlichen Formen am Gottesdienst teilhaben, und wenn diese Teilhabe als authentisch erfahren und von außen anerkannt wird, könnte – so die Logik dieser Überlegungen – das identitätsstiftende Potenzial der Liturgie stärker zur Entfaltung kommen. Die Kirchenmusik könnte dabei eine wesentliche Rolle spielen (289–316). Denn gerade im gemeinsamen Singen wird Identität und Partizipation miteinander kombiniert (305), indem sich die Singenden als aktive Subjekte und als Teilhabende an einem gemeinsamen Handeln erfahren. Das heißt aber: Liturgische Partizipation leistet dann einen Beitrag zur Identitätsarbeit, wenn sie nicht aufgezwungen wird, sondern wenn sich die Partizipierenden dabei als freie Subjekte wahrnehmen (346). Daher plädiert Wahle im Anschluss an den französischen Philosophen François Jullien dafür, den Gottesdienst nicht als »kulturelle Identität«, sondern als »kulturelle Ressource« zu verstehen (338–341), also weniger als eine Identitätsvorgabe, sondern vielmehr als ein Angebot für die Identitätsbildung. Eine Liturgie wird das identitätsstiftende Potenzial zudem stärker entfalten können, wenn sie in umfassendere Lebens- und Glaubensvollzüge eingebettet ist – in die religiöse Sozialisation (370), in ein gemeinsam gestaltetes kirchliches Leben (20) sowie in diakonisches Handeln (96–100).

3) Bei den in den Beiträgen reflektierten Beobachtungen und den angedachten möglichen Entwicklungslinien fällt auf, dass sie auf Anpassungen, Veränderungen und Erweiterungen von Liturgie und Partizipation zielen. Das entspricht bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gesamtkomposition des Bandes. Die von Keupp geschilderte individualisierte Identitätsarbeit in der Gegenwart (25–58) wird als gegeben angenommen, was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass dessen Identitätskonzept mehrfach positiv rezipiert wird (76 f.94–96.102–105). Zweifelsohne leistet Keupp einen Beitrag zur Identitätsthematik, der alle Wertschätzung verdient. Dennoch lässt sich als Desiderat feststellen, dass eine genuin theologische Reflexion von Identität in diesem Band nur am Rande stattfindet. Knappe theologische Bestimmungen, dass die Identität aus einem »Leben aus Gottes Anerkennung« (98) stamme, dass »eine tragfähige Transzendenzerfahrung […] einen großen Beitrag zur Identitätssicherung leisten kann« (117) und dass die eine identitätsstiftende Tradition die »vom Heiligen Geist gewirkte Teilhabe der Menschen an der Lebensfülle Gottes und am Geschick Jesus Christi« sei (347), bieten bereits einige Ansatzpunkte, die zu entfalten sich lohnen würde. So könnte nicht nur das Verständnis von Liturgie und Partizipation erweitert werden, sondern auch dasjenige von Identität. Eine solche erweiterte und vertiefte theo-logische Reflexion könnte dazu beitragen, die inneren Zusammenhänge von individueller und kollektiver Identität sowie von Liturgie und authentischer Partizipation zu erhellen.

Der Wert des Bandes liegt darin, die Aufmerksamkeit auf die inneren Zusammenhänge von Identität, Partizipation und Liturgie zu richten und gerade dadurch zu weiterem Nachdenken und zu einer theologisch reflektierten Liturgiepraxis anzuregen, und so dazu beizutragen, dass sich Gottesdienstfeiernde nicht als »Außenstehende und stumme Zuschauer« erfahren.