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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1112–1114

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hirschberg, Corinna, Freudenberg, Matthias, u. Uwe-Karsten Plisch [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Studierendenseelsorge. Gemeinden – Präsenz an der Hochschule – Perspektiven. M. e. Einleitung v. H. Bedford-Strohm.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 467 S. m. 11 Abb. Kart. EUR 50,00. ISBN 9783525634097.

Rezensent:

Luzius Müller

Es sei gleich vorweggenommen: Der titelgebende Begriff Studierendenseelsorge wird hier in einem weiten Sinne verstanden. Das Handbuch Studierendenseelsorge ist keine typisch poimenische Fachliteratur, sondern ein umfassendes Werk über die Arbeit der Evangelischen Studierendengemeinden (ESG) in Deutschland. Der seelsorgerlichen Begleitung Studierender im engeren Sinne (explizit als solche bezeichnete seelsorgerliche Einzel- bzw. Gruppengespräche) wird in diesem Kompendium eher wenig Raum gegeben. Diese Gewichtung entspricht aber wohl der Praxis dieser Arbeit, wenngleich auch andere Vorstellungen kursieren mögen.

Die Herausgeberin und die beiden Herausgeber des Handbuchs sind mit der Arbeit der ESG bestens vertraut: Corinna Hirschberger ist Bundesstudierendenpfarrerin im deutschen Verband der ESGen, Matthias Freudenberg ist u. a. Pfarrer einer ESG, Uwe-Karsten Plisch ist u. a. ESG-Referent.

Wie von einem Handbuch zu erwarten ist, wurde eine systematische Ordnung der verschiedenen Beiträge angestrebt. Der erste Hauptteil zur Grundlegung setzt mit historischen Überblicken ein, welche die Geschichte der Studierendengemeinden nach dem 2. Weltkrieg bis zur Wende in West bzw. Ost thematisieren. Es folgen Texte zum rechtlichen Status, zu den Organisationsstrukturen, dem Selbstverständnis Hauptamtlicher, dem besonderen Zielpublikum bzw. Wirkungsort der ESGen und damit verbundenen Aspekten.

Ein zweiter Teil widmet sich verschiedenen Arbeitsfeldern des Dienstes der ESGen: Hier werden die Gottesdienste und ihre Elemente, die Seelsorge im engeren Sinne, andere Formen der Begegnung und des Zusammenlebens (Chöre, Wohnheime, ökumenischer und interreligiöser Dialog, Arbeit mit internationalen Studierenden, Alumniarbeit) bis hin zum Fundraising thematisiert.

Der dritte Teil orientiert sich an spezifischen Themen der Studierendenseelsorge: Klassische Inhalte (geistliches Leben, traditionelle Formen der Spiritualität) finden hier ebenso Berücksichtigung, wie aktuelle Diskurse (Gendergerechtigkeit, Leiblichkeit, Migration, Nachhaltigkeit u. a. m.), mediale Formen (Film, Social Media) und nationale und internationale Bestrebungen.

Der vierte und letzte Teil fragt nach (Zukunfts-)Perspektiven. Es wird in diesem vierten Teil erkennbar, dass die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit der Kirchen brüchig wird, dass damit auch die Stellung und Bedeutung der ESGen zur Debatte steht, dass die Autorinnen und Autoren aber eben in dieser Umbruchsituation in der Studierendenseelsorge besondere Möglichkeiten und Aufgaben (kirchliche Avantgarde, Kreativlabor, Seismographen) erkennen.

Die im Handbuch gewählte systematische Gliederung ist gewiss nicht zwingend, aber nachvollziehbar. Die Herausgeber weisen in der Einleitung selbst darauf hin, dass gewisse Beiträge ähnliche Punkte aufgreifen (Querverweise liegen teilweise vor). Offensichtlich sind die Herausgeber darum bemüht, das Feld der ESG-Arbeit mit 47 Texten breit auszuleuchten. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren (auch Studierende!) folgt diesem Anliegen. Allerdings fällt auf, dass die Schreibenden sehr mehrheitlich den Reihen der ESGen Deutschlands entstammen. Eine katholische, freikirchliche, anders-religiöse Stimme fehlt leider. Wünschenswert wäre in einem Handbuch zur Studierendenseelsorge beispielsweise auch ein Beitrag zu psychischen Störungen im jungen Erwachsenenalter aus der Feder einer psychiatrischen Fachperson und anderes mehr.

Alle Beiträge haben eine Länge von rund zehn Seiten (teilweise kürzer), was das schnelle Erfassen der verschiedenen Inhalte erleichtert. Die Texte sind mit Untertiteln gegliedert und umfassen teilweise auch Grafiken, Listen, Praxisbeispiele und Bilder. Jeder Beitrag endet mit einem Literaturverzeichnis der verwendeten bzw. weiterführenden Literatur. So intendiert das Werk insgesamt Wissenschaftlichkeit, aber auch Praxisorientierung und Verständlichkeit.

Das Handbuch ist 2022 erschienen. Die Einleitung datiert auf Ostern 2021. Die Beiträge werden somit mehrheitlich im Jahr 2020 entstanden sein. Die Corona-Pandemie findet zwar Erwähnung, ihre wahrscheinlich einschneidenden Konsequenzen auch für die Hochschulen bzw. die Studierendenseelsorge haben aber aufgrund der Entstehungszeit des Werkes verständlicherweise keinen Eingang finden können. So entsteht der Eindruck, es handle sich um eine gründliche Bestandesaufnahme der ESG-Arbeit bis 2020. Drängende Themen der jüngsten Vergangenheit (Distance-Learning, Polarisierung der Gesellschaft etc.) sind zwangsläufig nicht oder wenig reflektiert.

Dies lässt schließlich die Frage entstehen, wozu und für wen dieses Handbuch in der vorliegenden Form eigentlich verfasst wurde. Zwar wird in der Einleitung zurecht moniert, dass ein vergleichbares Werk und ebenso eine umfassende geschichtliche Darstellung der ESGen bisher nicht erschienen ist. Zudem eigenet es sich gewiss zur Veröffentlichung in Buchform und wird seine Leserschaft finden. Aber dem Anliegen eines praxisbezogenen »Handbuchs« zur Studierendenseelsorge böte eine digitale Form, die ständig aktualisiert und auch mit anderen Medien und Beiträgen angereichert werden könnte, wesentlich flexiblere, interaktivere und auch attraktivere Möglichkeiten. So könnten auch Herausforderungen, Spannungen, Probleme der Arbeit der ESGen eine kontroversere Darstellung finden.

Wer in der Studierendenarbeit der ESGen tätig ist, wird das Buch mit Gewinn lesen können. Der Rezensent kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Werk an nicht wenigen Orten den Geist einer gewissen kirchlichen Betulichkeit und Behäbigkeit atmet. Dieser mag verunsicherten Menschen in einer Gegenwart der Umbrüche und Krisen durchaus sympathisch sein. Eben dar-über liest man aber leider meist bloss zwischen den Zeilen.