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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1110–1112

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eyselein, Christian, Keller-Wentorf, Christel, Knodt, Gerhard, u. Klaus Raschzok [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Aszetik. Ein Programm macht Schule.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 276 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374067909.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Der Sammelband ist aus der Arbeit des 2007 an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau gegründeten Instituts für Evangelische Aszetik hervorgegangen. Im Vorwort wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es das bisher einzige an einer deutschsprachigen evangelisch-theologischen Fakultät bzw. Hochschule eingerichtete Spezialinstitut zur Erforschung christlicher Spiritualität darstellt. Das Buch will nach dem Willen von Herausgeberin und Herausgebern das von diesem Institut entwickelte Programm einer evangelischen Aszetik vorstellen. Die einzelnen Beiträge gehen zurück auf Vorträge bei öffentlichen Institutsveranstaltungen, bei Studientagen für Studierende und Pfarrerschaft, im Rahmen von Lehrveranstaltungen und bei Kooperationsveranstaltungen mit auswärtigen Partnereinrichtungen. Gleichzeitig wird das Lebenswerk des Erlanger Pastoraltheologen Manfred Seitz (1928–2017) durch das Buch gewürdigt, der zu den wesentlichen theologischen Inspiratoren des Instituts gehörte und überdies einer ihrer Mitbegründer war. Auch wenn manche der Artikel bereits an anderen Stellen veröffentlicht worden sind, handelt es sich beim überwiegenden Teil um Erstveröffentlichungen. Die meisten Beiträge sind in der Zeit seit der Gründung des Instituts entstanden; einer reicht bis in die 1980er Jahre zurück. Entsprechend des Anlasses für ihre Entstehung sind sie von unterschiedlicher Länge und Gestalt. Dabei haben sich mir die Kriterien für die Anordnung der Beiträge nicht recht erschlossen. Theoretische wechseln mit mehr praktisch ausgerichteten ab. Mir scheint, dass Leserinnen und Lesern mit den Artikeln ein bunter Blumenstrauß von Hintergründen, Ansätzen und Themenbereichen einer evangelischen Aszetik überreicht wird.

Aus den insgesamt 18 Beiträgen möchte ich im Folgenden exemplarisch einige herausgreifen, an denen m. E. das Anliegen des Buches, das Programm einer evangelischen Aszetik vorzustellen, am ehesten deutlich wird. Der einleitende Artikel von Oswald Bayer »Kämpfender Glaube« enthält in Aufnahme von Überlegungen Martin Luthers notwendige inhaltliche Klärungen, was eine evangelische Aszetik sein will und leisten kann. Bayer macht darin auch die durch den Rechtfertigungsglauben gegebene Grenze asketischer Bemühungen im Protestantismus deutlich und dass sie von der Bibel her inspiriert und korrigiert werden müssen. Klaus Raschzok als langjähriger Direktor des Instituts in Neuendettels-au steuert mehrere Artikel bei. In seinem grundlegenden Beitrag »Evangelische Aszetik. Zur Wiederentdeckung einer Disziplin der akademischen Praktischen Theologie und ihrer Forschungs- und Lehrgestalt« rekapituliert er, wie es durch Manfred Seitz und Rudolf Bohren bereits in den 1960er Jahren zur Forderung nach einer Gestaltlehre des Glaubens in der Theologie kam, welche theologiegeschichtlichen Wurzeln es dafür gab und welche Umsetzungsversuche in den folgenden Jahren unternommen wurden. Hierher gehört auch der Abdruck von Teilen der Übersetzung eines (des?) klassischen lateinischen Textes zu einer evangelischen Aszetik von Gisbertus Voetius aus dem Jahr 1664. Das Gleiche gilt für den kürzeren Beitrag von Manfred Seitz: »Spiritualität im Theologiestudium. Überlegungen und Vorschläge.« Darin wird das Programm einer Art »Studium spirituale« entfaltet. Christian Eyselein zeigt, dass auch das 1946, unmittelbar nach dem Krieg, in Neuendettelsau gegründete Pastoralkolleg der bayerischen lutherischen Kirche ein durch und durch »asketisches« Anliegen hatte: »Vergewisserung. Das Pastoralkolleg als aszetische Institution«. Als erste Fortbildungseinrichtung dieser Art sollte es Pfarrern bei der Gestaltung und Pflege ihrer persönlichen Spiritualität helfen.

Mehrere Beiträge widmen sich der Frage nach der Bedeutung der Gabe der Unterscheidung der Geister, der discretio, für evangelische Spiritualität: So z. B. der Beitrag »Discretio. Drei Wege der Unterscheidung« von Gerhard Knodt und der längere Artikel »Heilsame Einsicht. Über die Unterscheidungsgabe« von Manfred Seitz, der auf die Arbeit einer Studiengruppe an der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen in den 1980er Jahren zurückgeht.

Die Beiträge der katholischen Theologen Marius Reiser, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und Christel Keller-Wentorf zur Bedeutung von Andreas Falkner SJ für die evangelische Exerzitienarbeit zeigen, dass das Projekt einer evangelischen Aszetik, auch das Neuendettelsauer Institut, von Anfang an vom ökumenischen Miteinander der großen Kirchen lebte.

Man kann sich fragen, ob der Titel einer »evangelischen Aszetik« für das Institut an der Augustana klug gewählt war. Im Buch wird die Frage, warum nicht von »evangelischer Spiritualität« gesprochen wird, mit dem Hinweis beantwortet, dass der Spiritualitätsbegriff sehr vage sei. Das ist richtig. Nichtsdestotrotz würde das Adjektiv »evangelisch« für erste inhaltliche Klarheit sorgen. Überdies hat der Begriff Spiritualität heute einen positiven Klang und macht neugierig, während »Aszetik« geradezu hermetisch daherkommt. Davon abgesehen enthält das Buch eine Reihe bemerkenswerter Überlegungen auf dem Weg zur Etablierung einer evangelischen Aszetik, d. h. einer Gestaltlehre des Glaubens im Protestantismus. Allerdings ist das im Vorwort angegebene Ziel des Programms einer evangelischen Aszetik vielleicht etwas zu ambitioniert. Das Buch enthält lediglich Bausteine eines solchen Programms. Dabei wird deutlich, dass eine evangelische Aszetik nicht ohne den Rückgriff auf die Zeit vor der Reformation – nicht zuletzt bereits die der Alten Kirche – und nicht ohne die Anknüpfung an die Spiritualität der vorreformatorischen Konfessionen des Katholizismus und der Orthodoxie möglich ist. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Ansätze zur Etablierung einer evangelischen Aszetik bisher noch keine wirkliche Breitenwirkung erlangt haben. Insofern trifft auch der Untertitel des Buches »Ein Programm macht Schule« nur eingeschränkt zu. Bisher waren die Ansätze im protestantischen Raum abhängig von der Initiative Einzelner und haben ihren Niederschlag vor allem in evangelischen Kommu-nitäten, Pastoralkollegs und einzelnen Veranstaltungsangeboten im Rahmen des Theologiestudiums gefunden. Insgesamt sind die derartigen Versuche eher am Rande von Kirche und Theologie anzusiedeln.

Anders sieht die Situation im Hinblick auf die Bedeutung der Spiritualität im Raum des Katholizismus und der Orthodoxie aus. Die Ordensbewegung stellte hier neben der Amtskirche und den Ortsgemeinden schon früh die zweite Säule der Kirche (und im Westen auch der Theologie) dar. Damit standen zahlreiche Fachleute für Spiritualität – in Theorie und Praxis – zur Verfügung. Auch im Rahmen des Instituts für evangelische Aszetik in Neuendettelsau haben sie von Anfang an eine Art ökumenischer Entwicklungshilfe geleistet.

Ein Letztes: Der frühere Erlanger Praktische Theologe Manfred Seitz, dessen Wirken für die Gründung des Instituts für Evangelische Aszetik an der Augustana maßgeblich war, gehörte zeitlebens zu den konservativen lutherischen Theologen. Zusammen mit dem Betheler Kirchenhistoriker Gerhard Ruhbach war er führend an der Entstehung der EKD-Denkschrift von 1979 »Evangelische Spiritualität« beteiligt. Beide hatten erkannt, dass die Spiritualität bzw. Aszetik in Zukunft ein wichtiges Thema in Kirche und Gesellschaft sein würde. Damals stand das Thema Spiritualität noch nicht auf der Agenda von sog. progressiven Theologen. Diese Beobachtung sollte zur Vorsicht mahnen, was die Verleihung des Etikettes progressiv bzw. konservativ betrifft.