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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1107–1110

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dietz, Alexander

Titel/Untertitel:

Sinnerschließungen der Seele. Die Bedeutung der Seele für eine seelsorgerliche Hermeneutik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. X, 345 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 33. Kart. EUR 79,00. ISBN 9783161598838.

Rezensent:

Klaus Baumann

Was hat es mit der »Seele« auf sich, welche zwar aus den Wissenschaften (»Psychologie ohne Seele«) weitgehend verdrängt ist, von der aber in Seelsorge und Theologie wie auch in einer auf Sinnfragen hin offenen Alltagssprache weiterhin sachlich wie emphatisch die Rede ist? Alexander Dietz geht dieser Frage im kulturellen Kontext und Sprachspiel protestantischer Theologie in seiner Dissertation nach, die er 2019 an der Theologischen Fakultät der HU Berlin bereits mit dem Untertitel »Die Bedeutung der Seele für eine seelsorgerliche Hermeneutik« verteidigte und 2021 diese hermeneutische Bedeutung konkretisierend mit dem Titel »Sinn-erschließungen der Seele« publizierte. (Es wäre aus naheliegen-den selbsterklärenden Gründen wünschenswert, dass nicht von »seelsorgerlich«, sondern vielmehr von »seelsorglich« gesprochen würde.)

Nach einigen ideengeschichtlichen Notizen und kulturhermeneutischen Überlegungen zum Verständnis von »Seele« (Kap. 1) leiten D. die These: »Die Bedeutung der Seele ist im menschlichen Verstehen zu verorten« (32) und die Frage, wie verschiedene Weisen des Verstehens unterschieden sind und zusammenhängen und darauf aufbauend insbesondere: »Wie hängen menschliches Verstehen und religiöse Wirkung zusammen?« (33) »Seele« bezeichne kein anthropologisches Faktum oder eine eindeutige Tatsache »am Menschen«; vielmehr handle es sich um eine erschließungskräftige Metapher, mit deren Hilfe »die adverbialen Qualitäten bzw. die Modi des individuell Besonderen, der individuellen Tiefe des Erlebens und der Ganzheit des eigenen Lebens« (273) geweckt oder angesprochen werden können. Nicht subsumierendes Verstehen des vorherrschenden rationalen wissenschaftlichen Denkens interessiert ihn, sondern hermeneutisches Verstehen, das ein ursprünglich-interpretierendes Verstehen und ein theoretisch-abstrahierendes Verstehen wie auch deren Wechselwirkung umfasst (vgl. 32). In deren hermeneutischen Verstehensprozessen bringe die Seele »Sinnerschließungen« hervor. Der Bezug auf die Seele erscheint D. also besonders dann attraktiv, wenn »die Verstehensbedingungen jenseits einer rein theologisch konzipierten und einer psychoanalytisch orientierten Anthropologie« (33) untersucht werden.

Das will D. in seiner Studie tun und schreitet kritisch zunächst einige evangelische Seelsorgekonzepte ab, die sich ausdrücklich mit dem Seele-Begriff und seiner Bedeutung befassen (Kap. 2: Elisabeth Naurath, Manfred Josuttis, Hans Martin Dober, Günther Emlein), um dann (Kap. 3) in weiteren Ansätzen der Poimenik zu untersuchen und zu würdigen, wie diese menschliches Verstehen strukturell mit religiösen Ausdrucks- und Gestaltungsvollzügen verbinden: Anne M. Steinmeiers psychoanalytisch informierte ästhetische Seelsorge und Kristin Merles Alltagsseelsorge (mit Rückgriff auf die Soziologie von Alfred Schütz). »Wie übersetzt sich Leben in Sinn und umgekehrt, wie kann Sinn im spezifischen Lebensvollzug wirken?« (34) Mit der zentralen Rolle von Sinnerschließung stellt sich D. in seinem Hauptkapitel (Kap. 4) der Frage nach der Einordnung der Rede von »Seele« in die Theologie und greift dafür auf die beiden Systematischen Theologen Philipp Stoellger (Heidelberg) und Ulrich Barth (Halle) zurück, die beide von Seele im Zusammenhang von verstehender Selbsterschließung und im Horizont von Unmittelbarkeit sprechen. Während Stoellger die Aspekte von Entzug und Differenz für die Hermeneutik konturiert, hebt Barth auf die Spannung und Wechselwirkung von Erleben und Deuten ab. Das subjektive Erleben (incl. Intuition) ist bereits von vorgängigem Deuten (aufgrund biographischer Leibes- und Sinneserfahrungen sowie auch darin historisch sozio-kulturell) mitgeformt.

Im Ergebnis (Kap. 5) seiner Analysen eignen der Seele drei zentrale Bedeutungsaspekte seelsorglicher Hermeneutik: 1. Wie das erlebende und verstehende Individuum auf eigene, unvertretbare Weise Sinngehalte als für sich bedeutsam erschließt bzw. diese Resonanz in ihm finden; 2. dass solche Sinn- oder Bedeutungserschließung bzw. Resonanz leibesgeschichtlich (mit-)bedingt ist; 3. dass die Seele somit die notwendige Individualität des Verstehens verdeutlicht (vgl. 272).

»So liegt die Bedeutung der ›Seele‹ als erschließungskräftiger Metapher darin, ebendiese intuitive Sinnerschließungsstruktur zu beschreiben. Insofern ist Seele keine ›Entität‹. […] Insofern [sind die Sinnerschließungen der Seele, K. B.] der Selbstunterschied, an dem diskursives Verstehen transparent wird für die Dimension hermeneutischen Verstehens. Das bedeutet dann auch: Die Wirklichkeit der Gegenstände des Verstehens geht nicht in den eindeutig abgrenzbaren Begriffen, ihrer funk-tionalen Benennbarkeit und Handhabbarkeit auf.« (274)

Vielmehr werden Sinn-Aspekte oder -Dimensionen subjektiv bedeutsam, die von der nüchternen Diskursivität des Erklärens allein nicht erfasst werden (können).

»Es ist gerade die Weite metaphorischer und poetischer Ausdrucksformen, durch welche die Sinnerschließungen der Seele indirekt vermittelt zur Sprache gebracht und Thema expliziten Schließens werden. […] Diese Tiefendimension humanen Versinnlichens in ihrem unreduzierbaren Eigenwert zu benennen, das mag die bleibende Bedeutung der Rede von der Seele sein.« (Ebd.)

Mit diesem Ergebnis für die Untersuchungen zum Seele-Begriff kann D. weitergehen zur Frage der Seelsorge und wofür diese gut ist: Für D. erreicht Seelsorge Wirkung, wo es ihr »gelingt« (trotz aller Unverfügbarkeit), etwas aufschließend auszusprechen, d. h. darin über die Bedeutung des Seins Resonanz im anderen als »auffassendem Selbst« bzw. in des anderen »Seele« zu finden – also wo Seelsorge »Sinnerschließungen der Seele« (32 f. u. ö.) bewirkt oder katalysiert. Darum ist aus Sicht D.’ Seelsorge Praxis hermeneutischen Verstehens (und Ansprechens; sprachphilosophisch untersucht mit Josef König, Kap. 5.2) – weitgehend im Unterschied zu explizierendem Vorlegen und Nachvollzug dogmatischer Aussagen (vgl. 277): »Religiöse Gehalte sind […] in ihrer lebens-praktischen Bedeutung auf emotionale Resonanz angewiesen« (mit Birgit Weyel, 289). Im Sprachspiel protestantischer Theologie kommt D. dann doch nicht umhin, die Rechtfertigungslehre einzupflegen:

»Der Gedanke, in welchem protestantische Soteriologie das heilsame Wirken und somit eine seelsorgerliche Wirkung ausgesprochen findet, ist derjenige göttlich-rechtfertigenden Wirkens. Die seelsorgerliche Wirkung ist die rechtfertigende Wirkung. Oder anders gesagt: Unter ihr stehend kommt die Ahnung zum Beispiel eines göttlich liebevollen Wirkens gegenüber dem Geschick der eigenen Individualität zu Bewusstsein.« (292)

Zu Recht fügt er jedoch ein caveat an, das poimenisch sehr ernst zu nehmen ist: »Nur aus dem Lebensvollzug heraus und in Bezug auf bestimmte Erlebnisqualitäten kann sich die Rede von göttlich-rechtfertigendem Wirken als eine zutreffende Beschreibung bekunden.« (292) Lebensvollzug und Erlebnisqualität seien solche, in denen sich jemand »der unreduzierbaren Eigenbedeutsamkeit seiner Individualität« (292), »seiner unvertretbaren Individualität« (293, mit Harnack) innewerde. Jedenfalls aber gebe es »keine feststehenden Sprachwendungen, mit denen eine Garantie gegeben wäre, eine seelsorgerliche Wirkung auszusprechen« (296).

Im immer neuen und vertiefenden Herausarbeiten der Frage und der subjektiven Bedingungen von Sinn-Verstehen und somit einer existentiellen Hermeneutik individuellen Entdeckens von (Lebens-)Sinn in Verbindung mit der Arbeit am Begriff »Seele« liegt ein großes Verdienst dieser nicht leicht lesbaren, inhaltlich und sprachlich anspruchsvollen Studie. Tatsächlich ist die Frage von höchstem Belang in Theologie, Anthropologie und Poimenik bzw. Pastoraltheologie, wie es kommt, dass einer Person etwas aufgeht, sie von etwas berührt wird, oder auch – mit P. Tillich – sie erfährt, dass sie etwas unbedingt angeht, während andere dies (scheinbar Gleiche) nicht so erfahren.

Ohne ihn zu zitieren, übersetzt D. in seiner Untersuchung u.a. die von Klaus Winkler (»Seelsorge«, Berlin 2000) schon lange auf den Begriff gebrachte Wirklichkeit, dass jeder Mensch sein persönlichkeitsspezifisches Credo entwickle und habe – eben weil jeder und jede in ihrem sozio-kulturellen Kontext auf individuelle Weise, in tiefenpsychologisch-biographischer Verbindung der eigenen Leibes- und Beziehungserfahrungen mit der persönlichen Weise zu denken, zu fühlen und zu verstehen, sich zu sich, zu anderen, in und zu Kultur und jeglicher begegnender Wirklichkeit verhält.

Darin klingt meine Ansicht an, dass D.’ Einsichten gut verknüpfbar wären mit gesicherten Erkenntnissen der Psychologie (Wahrnehmungs-, Emotions-, Kognitionspsychologie) und modernen Weiterentwicklungen der Psychoanalyse (mit Bezug auf Beziehungs- und Bindungserfahrungen, auf neurobiologische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse zur Mentalisierungsfähhigkeit und zur Psychogenese), um damit seinen Begriff von »Seele« und »Sinnerschließungen« nicht nur funktional, sondern den zum Teil hermetisch wirkenden Binnendiskurs öffnend weiter zu füllen und dann für das seelsorgliche Tun Kompetenzen zu postulieren, damit Seelsorge in ihren Gelingensbedingungen als eine »geistige Wirkung« (296) gefördert wird.

Über existentielle Sinnerschließungen hinaus sind seine Ausführungen auch anschlussfähig und erweiterungsbedürftig für weitere intuitive (religiös-spirituelle) Erschließungsmomente wie z. B. Staunen und Dankbarkeit, innerer Friede und disruptive Erschütterung, Mitgefühl und Hingabe. Offen lässt D. auch die Frage, ob und wie ein Mensch sich selbst (seine »Seele«) auch disponieren und öffnen kann dafür, dass er oder sie (mehr) aufmerksam, achtsam, empfangsbereit wird und darin die eigene Intuitionsfähigkeit bis hin zur »religiösen Musikalität« oder auch Hörbereitschaft auf »das Wort« (weiter) entwickelt. Ebenso bleibt es bei der damit verbundenen, von D. ebenfalls offen gelassenen Frage, wie und inwieweit der Gott des Lebens inmitten aller sozio-kulturellen und lebensgeschichtlichen Bedingtheiten selbst unmittelbar – seelsorglich – »mit der Seele« wirken mag und kann.

Mit dem weiten Bogen der erudierten Studie und ihrem roten Faden leistet D. einen wichtigen Beitrag zur Rede von Seele und Seelsorge in Praktischer und Systematischer Theologie. Grenzen seiner Studie zeigt er nicht explizit auf. Ihre angedeuteten interdisziplinären Anknüpfungsmöglichkeiten und weiteren theologisch-anthropologischen Vertiefungen könnten Gegenstand weiterer Studien werden und sie für die Praktische Theologie umso gewinnbringender machen.