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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1105–1107

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bickel, Christina

Titel/Untertitel:

Religion im Werk von Maarten ’t Hart. Eine narratologische Untersuchung in praktisch-theologischer Perspektive.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 288 S. = Hermeneutik und Ästhetik, 5. Kart. EUR 88,00. ISBN 9783374069460.

Rezensent:

Robert Martin Jockel

Wenn Gott als abgesagter Feind des Schlittschuhlaufens auftritt, dann ist es um das Werk des niederländischen Erfolgsautors Maarten ’t Hart zu tun. Der Analyse der narrativen Transformation religiöser Gehalte in ’t Harts Romanen und Erzählungen gilt die Marburger praktisch-theologische Dissertation von Christiana Bickel (Betreuer: Thomas Erne), die ihre Ergebnisse homiletisch fruchtbar zu machen sucht. Grundlage ist die Überlegung, dass ’t Harts Werk in mehrerlei Hinsicht repräsentativ sei. Religion werde bei ihm zum einen durch die Emanzipation seiner Figuren von der calvinistischen Tradition der Niederlande thematisch, die die religionssoziologische Entwicklung auch in Deutschland im Zeitraffer vorwegnehme. B. macht aus ihrer Sympathie für ’t Harts Werk zwar keinen Hehl, der sparsame Umgang mit Kritik an dem Bild, dass der Autor von Religion und Glaube zeichnet, hat aber Methode (vgl. 89). Gerade, weil (institutionalisierte) Religion bei ’t Hart zumeist tendenziös als Hemmnis erscheint, dessen Enge seine Protagonisten zugunsten eines offeneren Transzendenzerlebens (meistens im Hören klassischer Musik, vgl. 290) überwinden, bildet er verbreitete Vorstellungen kirchenfernen Milieus ab. Dem entspricht auf der anderen Seite, so wird einleitend (Kap. 1) erläutert, der Begriff der narrativen Transformation, der solche kulturellen Verflüssigungen lebendiger Religion im Medium Literatur erfasst. In beiden Hinsichten liefere ’t Harts Werk Fingerzeige für eine zeitgemäße kirchliche Kommunikation (vgl. 7).

B. geht deshalb von der These Klaas Huizings aus, ’t Harts Werke seien für religiöse Deutungsoptionen offen (Kap. 2) und hält diese durch narratologische Analyse besagter Transformationsprozesse für erschließbar. Die Metakommentare zur Methodik der Analyse (Kap. 3) fallen zwar kurz aus, aber es entspricht durchaus narratologischer Logik, die gewählten Methoden durch Bewährung am Gegenstand zu verantworten, wie es der große Narratologe Gérard Genette am Werk M. Prousts vorgeführt hat. Insofern befindet sich B. hier in guter Gesellschaft. Ausführlicher und besonders aufschlussreich ist die – einer Darstellung der weiteren Gliederung (Kap. 4), einem kontextualisierenden Überblick über ’t Harts Werk (5) und die entsprechende Sekundärliteratur (6) folgende – Diskussion der hermeneutischen und heuristischen Voraussetzungen der Transformation religiöser Gehalte im Medium Literatur (Kap. 7). B. nähert sich dem einerseits religionstheoretisch über den Reli- gionsbegriff Ulrich Barths, der die Strukturparallelen von religiö-ser und ästhetischer Erfahrung zu sehen hilft und den Unterschied beider auf der Ebene der Selbstdeutung im Horizont des Unbedingten verortet, und andererseits über Claus-Dieter Osthöveners Begriff des Religionsaffinen, der in der Tat »ein hohes Erschließungspotential« (98) für religiöse Tiefenstrukturen kultureller Formationen bietet. Denn: Das Religionsaffine beschreibt eine »Zwischensphäre« (Osthövener), die sich durch dauerhaftes Changieren zwischen der Kontingenz des ästhetischen Erlebens und dem Unbedingtheitsanspruch seiner religiösen Deutung auszeichnet. Dem entspricht eine gesteigerte Zugänglichkeit der Phänomene, die nun keinen religiösen Binnendiskurs mehr voraussetzen und so gerade das Interesse an Religion wecken können, ohne in einer Stufenlogik zu deren institutionalisierter Gestalt fortschreiten zu müssen. Genau dies sieht Bickel in der Literatur ’t Harts gegeben: Eine durch narrative Transformation eröffnete Sphäre zur Erprobung religiöser Selbstdeutung ohne den Zwang zu religiöser Eindeutigkeit.

Diese These bewährt Bickel sodann am Literarizitätsbegriff Wolfgang Isers. Nach Iser konstruiert Literatur – komplementär zu Osthöveners Konzept – einen fluiden Raum der Fiktionalität. Im »Als-ob-Modus« der Fiktion werden das Gemeinte und seine Negation palimpsestartig so »ineinandergeschichtet« (vgl. 112), dass feste Sinnzuschreibungen fluide in neuen Sinn übergehen. Der Rezipient nimmt wie durch eine Maske, die ihn gleichzeitig personifiziert und negiert, probehalber an der erzählten Welt teil. Bickel reichert die Theoriebildung Isers deshalb unter anderem mit Michail Bachthins Theorie des Karnevalesken an, um auf diesem Boden die konkreten Erzählstrategien zu untersuchen, mit denen ’t Hart Religion spielerisch (durch Humor, Ironie usw.) in fluide Formen transformiere und so den Leser zu einem Maskenspiel des religiösen Als-ob einlade.

Vorgeführt wird das einerseits an ’t Harts Selbstinszenierung (Kap. 8) – sowohl als literarischem Erzähler als auch als stilisierter Person des öffentlichen Lebens –, durch die er sich innerhalb und außerhalb seiner Texte als in der Zwischensphäre existierende Kunstfigur fassbar mache (vgl. 122–136), etwa durch seine Vorliebe für die Travestie im literarischen wie realen Sinne. Andererseits bildet die exemplarische Untersuchung von ’t Harts Roman »Das Wüten der ganzen Welt« das Herzstück der Arbeit (Kap. 9, 137–249) und wird von Einzelanalysen zu anderen Texten ergänzt (Kap. 10). Bickel deckt dabei zahlreiche narrative Strategien der Transformation von Religion auf, etwa die intertextuellen Parallelen zwischen der Moseerzählung und dem Lebenslauf der Hauptfigur.

Die Konstruktion eines religionsaffinen Zwischenraums bei ’t Hart sei abschließend für eine an Albrecht Grözinger orientierte Homiletik anschlussfähig (Kap. 11). Grözinger verstehe die Predigt als konstruktive Transformation und Verflüssigung religiöser Traditionen zugunsten der cortesia, der einladenden Fremdheitstoleranz des Textes. Das entspreche ’t Harts Literatur, auch wenn der bekennende Atheist ’t Hart (vgl. 32) wohl keine Einladung zur verfassten Religiosität intendiert. Denn in Predigt wie Literatur gilt die Einladung zur religiösen Selbstverortung auch »gegebenenfalls entgegen der diskret geäußerten Meinungen des Predigenden« (294).

Damit ist die These impliziert, dass sich die Religionsaffinität eines literarischen Werkes nicht an der religiösen Einstellung des Autors entscheidet. Diese Position wäre auch über die Homiletik hinaus grundsätzlich narratologisch wie theologisch interessant; Letzteres umso mehr, wenn man fragt, ob diejenigen Menschen, deren (möglicher) Zugang zur Religion dem der Figuren ’t Harts entspricht, überhaupt noch realistisch als bereitwillige Predigthörer im Gottesdienst erwartet werden können. Wären sie nicht grundsätzlicher auf religionsaffine Erprobungsfelder wie die Literatur anzusprechen, sodass der – selbstverständlich nicht zu vernachlässigenden – homiletischen Perspektive eine theologische Hermeneutik von Literatur überhaupt vorgeschaltet werden müsste? Dass Bickel selbst auch in diese Richtung denkt, deutet sie ja durch ihren religionshermeneutischen Zugang im siebten Kapitel und erneut gegen Ende der Studie an (vgl. 295).

Es ist gerade diese Aufmerksamkeit für die Bedingungen der Religionsaffinität von Literatur und für das Potential einer theo-logischen Rezeption der Narratologie auch über die naheliegende Anwendung in den exegetischen Fächern hinaus, die diese runde Studie plausibel und anschlussfähig macht – ungeachtet, wie viel man mit dem Werk ’t Harts selbst anfangen kann. Denn ihre Ergebnisse verpflichten auch in Zukunft darauf, dass »in der christlichen Kirche […] eine Institution des Erzählens existiert, die selber (als Kirche) dadurch und nur dadurch erhalten wird, daß sie jene gefährliche Geschichte Gottes weitererzählt« (Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 426) – nicht nur am Sonntagmorgen.