Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1103–1105

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Allolio-Näcke, Lars

Titel/Untertitel:

Anthropologie und Kulturpsychologie der religiösen Entwicklung. Eine Religionspsychologie.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 243 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170410503.

Rezensent:

Isabelle Noth

Wenn sich Psychologie mit menschlichem Erleben und Verhalten beschäftigt, so muss sie sich auch mit Religion befassen, da Glaube und Transzendenzerfahrungen mit zum Spektrum menschlichen Erlebens gehören und Gebete, Rituale und vieles weitere mehr schon seit zig Jahrhunderten zum Alltagsverhalten zahlreicher Menschen in allen Kulturen weltweit zählen. Doch genau dies hätte die Psychologie Lars Allolio-Näcke zufolge unterlassen. Sie hätte sich als universitäre Disziplin über allzu lange Zeit nicht für diesen »Lebensweltbereich« verantwortlich gefühlt. Bis auf den heutigen Tag vernachlässige die Psychologie aus ideologischen Gründen zentrale Bereiche des Menschseins und verfehle mit ihren Methoden und Konstruktionen ihren eigenen Gegenstand.

Das spezifische Feld der religiösen Entwicklung sowie des religiösen Erlebens und Verhaltens hätte die Psychologie der Theologie überlassen. Innerhalb dieser sei es das praktisch-theologische Fach der Religionspädagogik, das sich der Thematik angenommen und in jüngerer Zeit versucht hätte, entwicklungspsychologische Modelle aus den 1970er und 1980er Jahren, die noch mit aufeinander aufbauenden Entwicklungsstufen operierten, durch die Implementierung religiöser Stile anzupassen.

Der Vf. fordert nun aufgrund der heute – im Vergleich zur Entstehungszeit der Theorien – veränderten Rahmenbedingungen nichts Geringeres als einen Neustart – und zwar »in Form einer kulturpsychologischen Religionspsychologie«. Diesen will er gleich selbst mit seinem vorliegenden Werk einläuten – seiner von der Heimuniversität Erlangen-Nürnberg preisgekrönten Habilitationsschrift.

Wieso Kulturpsychologie? Weil diese »Menschen in ihren Kontexten und Lebenswelten« beobachte und den »individuell verschiedenen Sinn und [die] kulturell verschiedenen Bedeutungen« (Einleitung) untersuche und damit das Ziel verfolge, »die Psychologie (wieder) zu einer historisch-interpretativen Wissenschaft […] werden zu lassen« (174).

Nachdem der Vf. in einem ersten Kapitel das Entstehen der Religionspsychologie soziohistorisch herleitet und im zweiten Kapitel die Religionspsychologie als mögliche »Konvergenz zwischen Psychologie und Theologie« soziohistorisch betrachtet – leider unter Auslassung von Zürich (Jung, Pfister!) –, gelangt er zu dem Schluss, dass eine solche Konvergenz nicht besteht. Im dritten Kapitel fragt er, inwiefern Religion »ein Gegenstand der Psychologie« sei, und meint gleich zu Beginn, »dass es eine Religionspsychologie in der Vergangenheit in der Psychologie nicht gegeben hat, was sich soziohistorisch auch nicht belegen lässt« (59). Kapitel vier und fünf sind der »Religion als Gegenstand theologischer Entwicklungs-theorien« gewidmet. Hier werden Oser-Gmünder über Fowler und Sundén bis Vergote behandelt, um zum Resultat zu gelangen, dass bei ihnen allen »die religiöse Entwicklung in einer Theologie« gipfelt (148), womit die Notwendigkeit eines kulturpsychologischen Entwicklungsmodells untermauert wird. Bevor dieses in Kapitel acht in Form einer Kulturpsychologie und Anthropologie der religiösen Entwicklung dargelegt wird, erläutert der Vf. in Kapitel sechs, was unter Kulturpsychologie zu verstehen ist, und referiert in Kapitel sieben (kultur)psychologische Alternativen. Ein Fazit beendet die Studie.

Die Religionspsychologie verweigerte sich bisher einer eindeutigen akademisch-disziplinären Zuordnung und galt vielen in jüngerer Zeit als klassisches Querschnittsfach, das, um seinen hochkomplexen Untersuchungsgegenstand sinnvoll und das heißt nicht reduktionistisch erforschen zu können, einer Zusammenarbeit zumindest zwischen Psychologie, Religionswissenschaft und Theologie bedarf. Schon vor einigen Jahren haben der Theologe Christian Henning, der Religionswissenschaftler und Psychologe Sebastian Murken und der Praktische Theologe Erich Nestler in ihrer Einführung in die Religionspsychologie (2003, S. 8) als Charakterisierung der Religionspsychologie festgehalten, dass die Psychologie »theoretische Perspektiven und das empirische Instrumentarium« liefere und die Religionswissenschaft und die Theologie »Kenntnis und Material religiöser Phänomene sowie ein Verständnis dessen, was den Gegenstand ausmacht und charakterisiert«, einbringen. Christian Henning und Erich Nestler (Religionspsychologie heute, 2000, Vorwort) forderten angesichts solcher interdisziplinären Zugänge: »Will man an dem Ziel festhalten, daß die Standards aller drei Wissenschaften einmal als grundsätzliche Voraussetzungen religionspsychologischer Forschung anerkannt und erfüllt werden, so ist ein Lernprozeß nötig.« Man nimmt bei der Lektüre des vorliegenden Werks mit einem gewissen Staunen zur Kenntnis, mit welcher Nonchalance Forschungsarbeiten aus unterschiedlichen Richtungen, theologische zumal, kurzerhand als ungenügend oder nicht ausreichend bewertet und »zurückgewiesen« werden, um dann den eigenen Zugang als den dem Thema quasi einzig angemessenen darzustellen. Wer eine solche Haltung an den Tag legt, wird verständlicherweise mit dem oben geforderten Lernprozess seine Mühe haben. Auffällig ist jedenfalls die schmale Basis verarbeiteter einschlägiger Grundlagenliteratur zur Religionspsychologie: Wo ist z. B. das Handbook of the Psychology of Religion and Spirituality von Paloutzian & Park (20132), das APA Handbook von Pargament (2013) oder Büttner & Dieterich (2013), Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik? Wieso werden bei der wenigen rezipierten Literatur dann noch alte Auflagen verwendet – siehe z. B. Hood, Hill & Spilka (20094 statt 20185)? Warum wird Heinz Streibs Entwicklung des Modells religiöser Stile (Streib, 1997; 2001; 2003; 2005; 2007; 2013; 2016; 2018) mit der Erwähnung lediglich des frühen Beitrags von 1997 kurzerhand abgefertigt, wenn sich doch das Modell in den vergangenen 20 Jahren zu einem eigenständigen Forschungszweig entwickelt hat und einen substanziellen Neuansatz bezeichnet?

Es wäre nach meinem Dafürhalten überzeugender gewesen, bei der Darstellung der religiösen Entwicklung, die mit »Religion als Gegenstand theologischer Entwicklungstheorien« überschrieben ist, nicht nur jahrzehntealte Modelle, die schon unzählige Male referiert, analysiert und auch innertheologisch breit kritisiert wurden, ein weiteres Mal diesem Unterfangen zu unterziehen, sondern stärker den aktuellen Forschungsstand zu berücksichtigen. Um es mit den Worten eines Praktischen Theologen zu sagen: »Eine ungebrochene positive Bezugnahme auf Entwicklungstheorien ist […] für die Religionspädagogik weder zulässig noch sinnvoll.« (Bernd Schröder, Religionspädagogik, 20212, 67) Mir scheint, die Praktische Theologie wie auch die Psychologie sind weiter, als der Vf. meint.