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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1092–1093

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Stückelberger, Johannes [Hg.]

Titel/Untertitel:

Moderner Kirchenbau in der Schweiz.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2022. 156 S. m. Abb. Kart. EUR 26,90. ISBN 9783290184100.

Rezensent:

Thomas Erne

Warum Sammelbände? Für Autoren sind sie bequem. Sie können sich zu verschiedenen Themen äußern, ohne ein Buch zu schreiben. Für den Rezensenten sind sie eine Qual. Sie sollen sich zu allen Beträgen äußern, obwohl oder weil kein Leser eines Sammelbandes alle liest. Beim modernen Kirchenbau in der Schweiz ist der Sammelband jedoch durch sein Thema gerechtfertigt. Man wird dem Phänomen des modernen Kirchenbaus nicht gerecht, vor allem in einer regionalen Zuspitzung auf die Schweiz, ohne einen interdisziplinären Ansatz. So gehört zum Bautypus Kirche nicht nur das untrennbare Ineinander von Bauform und Idee, sichtbarer und unsichtbarer Kirche, architektonischem Entwurf und kirchlichem Selbstverständnis, sondern auch die Einbettung der Kirchen in die Soziologie der Städte, ihre künstlerische Ausstattung, aber auch ihr symbolischer Gehalt. Diesem Ineinander von Bauform, Ort, Gestalt, gesellschaftlicher Funktion und religiöser Bedeutung will dieser Band in seinen unterschiedlichen Beiträgen nachgehen, und zwar mit dem Ziel das Bewusstsein für Qualität moderner Kirchen zu schärfen. Denn auch in der Schweiz wird die Frage virulent, in welchem Umfang und in welcher Form der Bestand an Kirchen, nicht nur der Bestand an modernen Kirchen erhalten werden kann. Die modernen Kirchen, vor allem die Betonbauten der 1960er Jahre haben in diesem Verteilungskampf regelmäßig die schlechteren Karten.

Den Ausgangspunkt bildet der historische Blick auf die Bauformen seit 1950. Sehr anschaulich, aber leider etwas knapp, leitet Anke Köthe in das Thema ein entlang von vier klug gewählten Begriffen – Zelt, Skulptur Alltag und Atmosphäre –, die für die Entwicklung des modernen Kirchenbaues nicht nur in der Schweiz signifikant sind. Die Nähe zum Alltag führt im modernen Kirchenbau zu schlichten und funktionalen Formen. Auch die modernen katholischen Kirchen kommen deshalb weitgehend ohne Bilder aus. Fehlende Bilder, so Johannes Stückelberger, bedeutet nicht, dass moderne Kirchen kunstlos sind. Vielmehr findet sich in modernen Kirchen die Kunst im Gesamteindruck. In einem Gesamtkunstwerk können Bilder fehlen, ohne dass der Kunstcharakter verloren geht. Man fragt sich trotzdem, warum ausgerechnet die Bilder in diesem Gesamtkunstwerk keine Rolle spielen, obwohl die Bilder der Einbildungskraft für die religiöse Kommunikation unverzichtbar sind.

Die ideelle Seite des modernen Kirchenbaus wird katholisch von Urban Fink über das Stichwort der Liturgie eingespielt und evangelisch von Katrin Kusmierz über ekklesiologische Konzepte der Nachkriegszeit. Zwei Ergebnisse der instruktiven Skizze der liturgischen Reformbewegung und ihrer Auswirkung auf den modernen katholischen Kirchenbau in der Schweiz sind erstaunlich. Zum einen ist der moderne Kirchenbau in der Schweiz ein überwiegend katholisches Phänomen, was die Quantität angeht. Zum anderen war die katholische Kirche in der Schweiz gegenüber den ökumenischen Gemeindezentren, trotz ihres nachsakralen, funktionalen Charakters offenbar sehr viel aufgeschlossener als in Deutschland. Evangelisch ist für modernen Kirchen in der Schweiz dagegen nicht die Liturgie formgebend, sondern die ekklesiologischen Reformkonzepte, etwa die Idee einer Kirche für die Welt von Ernst Lange. Wie ein wichtiges architektonisches Ergebnis dieses kirchlichen Reformprogramms, das multifunktionale Gemeindezentrum in der Gegenwart überarbeitet wird, zeigt Johannes Stückelberger. Sein Befund lässt sich ohne Weiteres auf Deutschland übertragen. Die meisten multifunktionalen Gemeindezentren werden atmosphärisch und liturgisch aufgewertet. Offenbar kommt das radikale Konzept einer Kirche für die Welt, die für sich nichts will und ihren Gebäuden keinen religiösen Anspruch mehr erhebt in der radikal säkularisierten Gesellschaft des 21. Jh.s an seine Grenzen.

Da es sich um den Band einer Tagung von Vertretern der Kirchen, der Denkmalpflege und anderen Fachleuten handelt, werden auch konkreten Fragen aus der Praxis aufgegriffen, etwa die spezifische Glockenlärmproblematik (Matthias Walter). Da im modernen Kirchenbau die Glocken sichtbar in Türmen inszeniert oder in Kammer aus Beton gehängt werden, klingen sie oft laut oder schrill. Bemerkenswert sind die Fotos der Türme, die in diesem Beitrag zu sehen sind. Die Vielfalt an neuen Turmformen wirft die grundlegende Frage auf, was der symbolische Gehalt des Turmes im modernen Kirchenbau ist. Aufschlussreich sind die Parallelen von Orgelbau und modernen Kirchenbau, die Michael Meyer andeutet und die im Orgelbau zu einer ähnlichen Entwicklung führt wie im Kirchenbau, die Zeit der harten Positionskämpfe ist vorbei und eine »Pluralisierung im Nachdenken« setzt ein (102). Mehr am Rande, im Rahmen des Beitrags von Bernhard Furrer zum Umgang der Denkmalpflege mit den modernen Kirchen der Nachkriegszeit wird dann das Thema gestreift, das in Deutschland die Diskussion beherrscht, ob und in welchen umgenutzten Formen die Kirchen angesichts sinkender Mitglieder ihre Kirchengebäude in Zukunft erhalten werden.

Der Band macht in seiner Mischung aus historischer Tiefenbohrung, theologischer Reflektion und praktischen Fragen ein Dilemma sichtbar. Für die strategischen Entscheidungen zur Zukunft der modernen Kirchen wäre eine umfassende Darstellung des modernen Kirchenbaus in der Schweiz nötig, die es nicht gibt. Dazu gehörte die vollständige Kenntnis des Bestandes an modernen Kirchen, ihrer historischen Hintergründe, ihrer soziologischen Situiertheit und der theologischen Konzepte, die sich in diesen Bauformen artikulieren. Aber gehandelt werden muss jetzt, und solange es diese Gesamtdarstellung nicht gibt, sind Sammelbände, die einzelne Teile eines prospektiven Gesamtbildes bieten, das Bes-tes, was man machen kann.