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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1081–1082

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Markus

Titel/Untertitel:

Neo-Existentialismus. M. Beiträgen v. J. Benoist, A. Kren, J. Maclure und Ch. Taylor.

Verlag:

Baden-Baden: Karl Alber Verlag (Nomos Verlagsgesellschaft) 2020. 172 S. Geb. EUR 29,00. ISBN 9783495490471.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Markus Gabriel ist der Shooting Star der Deutschen Philosophie. Bereits mit 29 Jahren Professor, schreibt er seitdem Buch um Buch, darunter auch Bestseller, und hebt sozusagen nebenbei die Philosophie in ganz verschiedenen Bereichen auf ein scheinbar höheres Niveau. So hat er den »Neuen Realismus« nach Konstruktivismus und Postmoderne begründet und versucht in seinem Buch »Warum es die Welt nicht gibt« zu zeigen, dass wir keinen Zugang zur Totalität des Existierenden haben. Im vorliegenden Buch greift er den heute herrschenden Naturalismus (= Materialismus) von einer ganz anderen Seite an, als bisher üblich. Solchen traditionellen Versuchen wirft er vor, dem Naturalismus viel zu viel Konzessionen gemacht zu haben.

Der gängige Naturalismus überfrachtet die Naturwissenschaft, auf die er sich beruft, um das Ganze als bloße Materie zu interpretieren. Diejenigen, die ihn bekämpfen, sehen nach G. nicht, dass dieser Bezug aufs Ganze illusorisch ist, und überfrachten dieses Unding, genannt »universale Materie«, noch mit zusätzlichen psychischen oder geistigen Eigenschaften, die dann erklärlich machen sollen, wie der Mensch aus der Natur hervorgegangen sein konnte, wenn er doch einen Geist verkörpert, den wir ansonsten in der Natur nicht finden. Also muss die Natur idealistisch aufgeladen werden. So eine Strategie von Schelling bis Thomas Nagel. Der gängige Antinaturalismus ist also von vornherein fehlgeleitet. Nach G. sollte man ganz anders ansetzen.

Gemäß seinen vorhergehenden Untersuchungen besteht die Welt nicht aus Dingen mit ihren Eigenschaften, sondern aus unendlich vielen »Sinnfeldern«, die sich auch überlappen können. Dies ist sein »neuer Realismus«: Normen, Meinungen, Urteile, Handlungen usw. existieren im eigentlichen Sinn und sind doch nichts Materielles. Sie unterscheiden sich von den Objekten der Naturwissenschaft dadurch, dass sie nicht invariant sind gegen unsere interpretierende Tätigkeit. Während ein Elektron seine Masse und Ladung nicht ändert, wenn ich meine Einstellung gegenüber der Physik revidiere, bleiben z. B. Normen nicht dieselben, sobald ich meine Einstellung ihnen gegenüber verändert habe. Es gibt also zwei grundsätzlich verschiedene Entitäten auf der Welt: solche, die sich bei einem Wechsel des Interpretationsrahmens ändern, und solche, die invariant bleiben. Letztere beziehen sich auf sogenannte »natürliche Arten«, die von Natur aus stabil sind: z. B. Elektronen, Gewitter und Galaxien. Sie bilden »natürliche Arten«, während das »Geistige« gemäß dem Axiom »die Essenz folgt der Existenz« radikal geschichtlich und veränderbar ist und demgemäß keine natürlichen Arten ausbildet.

Der Band lässt Kritiker zu Wort kommen wie Jocelyn Benois, Andrea Kern, Jocelyn Maclure und Charles Taylor, aber der Verdacht legt sich nahe, dass sie entsprechend ausgewählt wurden, denn wirklich zur Sache geht es nie. Man müsste nämlich viel radikalere Fragen stellen. – Wie soll beispielsweise diese ganze Kompetenz des Menschen, Sinnfelder zu erfassen, entstanden sein? Wie ist das Leben entstanden, das zu seiner Beschreibung nicht nur kausale, sondern funktionale Kategorien benötigt? Wie ist das Bewusstsein, das Selbstbewusstsein, wie ist die Sprache entstanden, wenn die wissenschaftliche Beschreibung der Evolution solche Sprünge nicht anerkennt?

G. ist ein Gegner jeder evolutionären Metaphysik und ein Gegner der Auffassung, dass die Evolution radikal Neues hervorbringt. Daher spielen Philosophen wie Peirce oder Whitehead bei ihm keine Rolle und auch mit dem Emergenzbegriff will er nichts zu tun haben. Aber dann klafft in seinem Antinaturalismus eine riesige Lücke und der Naturalist wird ihm die einfache Frage stellen: Woher kommt denn Deine eigene geistige Kompetenz, wenn die Natur nur ein Geschiebe von Elementarteilchen ist? Merkwürdigerweise gibt es bei ihm Stellen, wo er seine schroffe Dichotomie zwischen objektiven und subjektiven Sachverhalten relativiert. Die Fakten dieser Welt seien alle immer mehr oder weniger subjektiv oder objektiv. So ist es.

Aber dann bricht seine strenge Unterscheidung zusammen. Darauf verweist vieles in der Biologie, was er nicht zur Kenntnis genommen hat. So gibt es z. B. bis heute keine überzeugende Definition von »Leben«. »Leben« ist also keine natürliche Art! Oder wie ist es mit der Verhaltensforschung? Von Konrad Lorenz bis Jane Goodall sehen wir die Tiere in einem jeweils ganz anderen Licht. Hieße das, dass Verhaltensforschung keine Naturwissenschaft ist, weil ihre »Objekte«, je nach Voreinstellung, ganz anders aussehen?

Widersprüche dieser Art und Ungeklärtes enthält dieser Text zuhauf. Kein Wunder, dass G. nicht nur vonseiten der Philosophie, sondern auch der Naturwissenschaft oft vernichtende Kritik einstecken musste. Frühe Berühmtheit kann zur Last werden. Wie heißt es so schön? Auf tausend Wunderkinder kommt nur ein Mozart.