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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1079–1080

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

The Priority of the Possible. Outlines of a Contemplative Philosophy of Orientation.

Verlag:

Cambridge u. a.: Cambridge Scholars Publishing 2021. 320 S. Geb. EUR 82,95. ISBN 9781527573215.

Rezensent:

Petr Gallus

Ab esse ad posse valet consequentia. Wenn etwas möglich sein solle, müsse es in etwas Wirklichem verankert sein. Deshalb sei Gott keine Möglichkeit unter anderen. Gott sei die Wirklichkeit, die – falls es überhaupt Möglichkeiten geben solle – allen Möglichkeiten vorausgehen müsse (61). Nun, Möglichkeiten gibt es. Was würde sich daraus für unsere Orientierung in unseren Wirklichkeiten und Möglichkeiten ergeben, wenn diese in der Wirklichkeit Gottes und ihren Möglichkeiten verankert seien? Welche Orientierungsmöglichkeiten bringt das Erwägen der Möglichkeit Gottes, wenn wir sie als eine Wirklichkeit bedenken würden? Und zwar nicht nur theoretisch, sondern existentiell? Das ist der Grundgedanke von Ingolf U. Dalferths Buch, das seinen Teil eines ursprünglich mit seinem vorzeitig verstorbenen Kollegen aus Claremont, A. K. Min, gemeinsam geplanten Projekts bildet.

Ausgehend von seiner beliebten modalen Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen versucht D., die theo-logische Schöpfer-Schöpfung-Differenz auch religionsphilosophisch plausibel zu machen und zu erweisen, dass, wenn man Gott aus dem Denken auslässt, die Wirklichkeit grundsätzlich redu- ziert werde und man daraufhin die richtige Orientierung verliere. D. plädiert für ein metaphysisches »Möglichkeitsdenken«, das jedoch sowohl die klassische als auch die Prozess-Metaphysik übersteigt (xiii). In seiner Auffassung ist die Metaphysik eine existentielle Orientierung (13 f.).

Das Ganze hat deshalb nicht die Gestalt einer Beweisführung, die in einen Gottesbeweis münden würde. D. geht von einer konkreten Lozierung des denkenden Menschen (Für-Bezug) aus, von der aus sich Gott als eine plausible Option, als eine Möglichkeit oder als eine notwendige Idee anbietet. Deshalb führt D.s Gedankengang nicht zu einer Letztbegründung, sondern zu dieser neu geöffneten Möglichkeit, auch Gott mitzubedenken, ihn in die eigene Orientierung miteinzubeziehen und im Vertrauen an ihn das Leben als ein »confident risk« zu leben (61). Von dieser Perspektive spreche dann die Theologie (88). Von einer konkreten Lozierung her das begründet Mögliche zu bedenken nennt D. dann Kontemplation (170), die sich noch an einer anderen Ebene als die theoretische Beweisführung abspiele: nämlich auf der existentiellen Ebene. Gerade hier würden sich die wichtigsten und schwierigsten Fragen aufdrängen, in denen D. eine Denkorientierung anzubieten sucht: Wie steht es mit Gott, der Welt, dem Bösen und dem Menschen?

Der Text ist in vier große Abschnitte geteilt: der erste Teil befasst sich mit der »Wende zur Möglichkeit«. Hier kommt gleich die Leitthese des ganzen Buches: »Gott ist kein Objekt der Erfahrung. Gott ist vielmehr […] die Voraussetzung für die Möglichkeit, dass etwas überhaupt erfahren werden kann – dass es etwas gibt, was erfahren werden kann und dass es jemanden geben kann, der es erfährt« (4). Ontologisch höher als das aktuell Wirkliche stehe das Mögliche. Die Welt sei das, was sie als Schöpfung sein kann. Und Gott sei derjenige, der dieses Mögliche möglich (und dann auch wirklich) macht. Das grundlegende Argument übernimmt D. vom späten Kant: Gott sei keine objektive Notwendigkeit, keine höchste Wirklichkeit und auch kein oberster Begriff, sondern eine notwendige Idee (41), die nicht von der Vernunft begründet, sondern durch die die Vernunft selbst erst begründet wird. In diesem Sinne nannte dann Kierke-gaard Gott »die Wirklichkeit des Möglichen« (43, wie auch D.s 2003 publizierte Religionsphilosphie). Gott sei etwas, was wir nur als Möglichkeit vor uns haben können, er sei der blinde Fleck unseres Blickes, ein Drittes zwischen mir und der Welt (was weder ich noch die Welt sei), das wir eigens nicht thematisieren können, weil wir – bewusst oder unbewusst – von ihm her auf alles blicken würden (69). So sei aber Gott zugleich auch die Quelle unserer Möglichkeiten, die immer mehr darstellen, als unsere aktuelle Wirklichkeit repräsentiert (90).

Der zweite Teil befasst sich mit dem Bösen und der Gottesfrage. Hier kann D. auf seine vorigen Bücher über die Religionsphilosophie (2003), über das Böse (2008) und über die Sünde (2020) anknüpfen. Die zentrale These besagt, dass das Böse nicht nur ein theoretisches, sondern eminent praktisches, existentielles Problem sei, das, wenn man es theoretisch stimmig lösen mag, trotzdem exis-tentiell nichts helfe. Deshalb stelle es die Theologie gezielt in den soteriologischen Kontext (127) und lehre, auf Grund von Gottes Tun gegen das Böse einen anderen Zugang zum Bösen zu gewinnen (129). Dazu helfe vor allem, Gott nicht als einen Begriff oder Konzept, sondern mit dem späten Kant als eine notwendige Idee von Gott als einem real existierenden und mir ständig präsenten aufzufassen (147).

Der dritte Teil widmet sich der kontemplativen Rationalität und dem Ringen um die Gottesidee, die seit Kant verloren gehe, was D. vor allem anhand von Hegel und Habermas dokumentiert, und versucht, sich dagegen mit der Phänomenologie zu wehren – nicht jedoch mit einer Betonung der Erscheinungen (was erscheint), sondern mit der Betonung des Erscheinens selbst (dass überhaupt etwas erscheint), was ihn wieder zum modalen Denken führt.

Der vierte Teil springt zu der Frage des Menschen, zum Problem des menschlichen Verstehens von sich selbst, dem Bösen und letztlich Gott. Der Mensch brauche gerade in diesen Fragen Werte und Ideale, damit er sich in der Welt orientieren kann. Ein komplettes Orientierungssystem müsse deshalb drei Dimensionen haben: die theologische, die kosmologische und die anthropologische (262). D. konzentriert sich hier auf die letzte und unterscheidet das prinzipielle menschliche Dasein, das konkrete Sosein und das zu erreichende Wahrsein. Dieses in sich differenzierte Sein des Menschen verdichte sich dann zu sechs Schlüsselgedanken der Menschlichkeit: kontextuelles Eingebettetwerden des menschlichen Lebens, seine Verantwortung, Notwendigkeit einer normativen Vision des Menschlichen, Pluralität des Menschlichen, Endlichkeit des Menschen und seine Tiefenpassivität (282).

Auch in diesem Text legt D. durchgehend glänzende kritische Zusammenfassungen von großen Konzepten vor, die gut verständlich sind, obwohl es um schwierige Themen geht: Er bespricht Kierkegaards innovatives modales Denken von Gott (44–71), Heideggers Begriff des Daseins, der die Zeichendimension der Phänomene unterspiele (72–80), Kants Konzept von Gott als Idee (134–149), Schleiermachers Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit (149–158), Hegels Gottesbegriff, den er jedoch am Ende verspiele, weil er ihn der Vernunft unterordnet (160–183), Habermas’ Versuch, ohne Gott auszugehen, weil er Gott gegen die Vernunft stelle (187–203), die falsche Unmittelbarkeit im Neuen Realismus (204–218) und dagegen Husserls nachdrücklicher phänomenologischer Hinweis auf das Erscheinen selbst (219–229). Manchmal (vor allem bei Kant, Kierke-gaard und der Phänomenologie) ist jedoch – wohl der Kongenialität von D.s Wiedergaben wegen – nicht gänzlich klar, was D. lediglich reproduziert und was er selbst vertritt.

D. hat eine Zusammenfassung seiner Religionsphilosophie aus einer christlichen Perspektive vorgelegt, die an vielen Stellen anknüpfungsfähig ist. Religionsphilosophie solle Orientierung im Denken über die Orientierungen im Leben bringen. Das Buch kann gut zu einer besseren Orientierung im Denken beitragen. Und dies nicht nur in D.s eigenem Denken.