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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1067–1069

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kerber, Hannes

Titel/Untertitel:

Die Aufklärung der Aufklärung. Lessing und die Herausforderung des Christentums.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2021. 289 S. Geb. EUR 34,00. ISBN 9783835339910.

Rezensent:

Steffen Götze

Die Lessing-Forschung profitiert sehr vom interdisziplinären Weitblick der seit zwei Jahrzehnten erschienenen Studien: Durch die Berücksichtigung nicht nur der neueren deutschen Literaturgeschichte, sondern auch der Philosophie- und besonders der Theologiegeschichte erschließen Arbeiten von Hugh Barr Nisbet, Monika Fick, Gisbert Ter-Nedden oder Friedrich Vollhardt das Werk des lutherischen Pfarrerssohns und verkrachten Studenten der Theologie Lessing auf anregende Weise neu. In die Riege dieser profilierten Lessing-Forscherinnen und -Forscher reiht sich Hannes Kerber mit seiner 2020 an der LMU München eingereichten und 2021 im Göttinger Wallstein Verlag veröffentlichten Dissertation im Fach der Philosophie bruchlos ein.

K. versucht nichts weniger als »den Fragmentenstreit neu aufzurollen« (9). Trotz intensiver Forschung sind wesentliche Fragen zum Streit noch immer nicht zufriedenstellend beantwortet: Welche Absicht verfolgte Lessing, als er eine der folgenschwersten Streitigkeiten der deutschsprachigen Aufklärung vom Zaun brach? Welche religiöse Haltung nimmt er selbst ein? Und: Wo ist sein Platz in der vielgestaltigen und dynamischen Landschaft aufgeklärter Theologie und Religionsphilosophie? Um Lessing auf die Schliche zu kommen, nimmt K. in vier Kapiteln ausgewählte Texte aus dem Streitzusammenhang in den Blick und unterzieht sie einer stringenten relecture. Er geht von der These aus, Lessing verhandle »die Frage nach der Größe und den Grenzen der aufklärerischen Religionskritik in ihrer ganzen Radikalität«. Und weiter: »Er tut dies, indem er im Fragmentenstreit den Standpunkt der Orthodoxie auf eigene Rechnung durchdenkt.« (13) Das ist eine erste deutliche Standortbestimmung der originellen Interpretation: Die Fragmentveröffentlichungen und die Begleittexte ihres Herausgebers sind laut K. also nicht an die Warte der progressiven Theologie der Lessingzeit, an die Neologie, gerichtet, sondern an theologisch eher konservative Zeitgenossen, die unter dem Oberbegriff der Orthodoxie zusammengefasst werden.

Das erste Kapitel (15–79) bietet ein close reading von Über den Beweis des Geistes und der Kraft. Die Antwort Lessings auf die Kritik Johann Daniel Schumanns thematisiert die Validität von Wunder- und Weissagungsbeweis für die Wahrheit des Christentums. K. rekonstruiert Lessings Vorgehen als eine konsequente Anverwandlung einer vermeintlich ursprünglichen orthodoxen Position (K. gebraucht diesbezüglich die Beschreibung Søren Kierkegaards, Lessing fechte ex concessis [17 f. u. ö.]), wodurch er schlussendlich den Orthodoxen Schumann rechts überhole und dessen inkonsis-tente Theologie offenlege. Der berühmte garstig breite Graben illustriert in dieser Deutung die unaufhebbare Diskontinuität zwischen auf menschlicher Vernunft beruhenden Beweisen auf der einen Seite und der Evidenz des christlichen Glaubens sowie der Glaubensinhalte auf der anderen. Lessings Argumente betrachtet K. im Lichte der zeitgenössischen Apologetik. Sooft das Wort Heinrich Heines, Lessings Gegner seien in dessen Texten konserviert wie Insekten im Bernstein, bemüht wird, so selten nehmen Interpretatoren dieses Diktum ernst: Dass die Lessing´schen Schmuckstücke erst dann ihren Reiz preisgeben, wenn auch die in ihnen eingeschlossene Meinung genau betrachtet wird, belegt K. in diesem Kapitel eindrucksvoll. Mit seinen Ausführungen zu Schumann, den er angelehnt an einen Terminus der angelsächsischen Theologiegeschichtsschreibung als Vertreter der Evidenztheologie ausweist (34–37), leistet K. nicht nur einen Beitrag zur Lessing-Forschung. Die Interpretation der sog. Beweisschrift ist ein Glanzstück genauer Lektüre und präziser Kontextualisierung.

Dass K. in seiner Studie offensichtlich nicht der Chronologie des Streites folgt, sondern die Dokumente nach systematischen Gesichtspunkten auswählt und anordnet, erleichtert es, seiner subtilen Interpretation der inhaltlich wie publizistisch komplexen Quellengrundlage zu folgen. Mit der Rekonstruktion der Schumann-Kontroverse zum Auftakt leistet K. eine »Anamnese der Apologetik«: Lessing reagiere auf eine »Selbstentfremdung der Orthodoxie« (115). K. präzisiert hier seine Ausgangsthese: Der Fragmentenstreit diene einer restitutio ad integrum (passim) der Orthodoxie. In den Kapiteln zwei und drei entfaltet K. die These im Rahmen der Lessing-Goeze-Kontroverse. Hierfür analysiert er Lessings allgemeine Antwort auf die Fragmente aus den Gegensätzen des Herausgebers und die Axiomata (81–150) sowie die zwei Folgen von Lessings Nöthiger Antwort (151–209). Lessing erweist sich dabei in K.s Lesart als ein prononcierter Geist-Theologe: Im Umgang mit der biblischen Überlieferung rufe Lessing das in Vergessenheit geratene Lehrstück vom testimonium internum Spiritus Sancti in Erinnerung, so K. Mit Blick auf den Bekenntnisbestand bringt er die regula fidei ins Spiel, die letztlich auf einer »kontinuierliche[n] Selbstaktualisierung des Heiligen Geistes« (197) in Lehre und Lehramt beruhe. Beide Argumente konvergieren darin, dass sie den Glauben letztlich als selbstevident erweisen (188). Damit wende Lessing sich gegen alle Bemühungen, den Glauben extern z. B. durch Vernunft Geschichte oder Autorität zu begründen oder zu bestreiten – und er decouvriert die Aporie theologischer Argumentation, die sich auf ein von außen vorgegebenes Wahrheitsbewusstsein einlässt. Mit dieser schlüssigen und pointiert vorgetragenen Positionsbestimmung hebt K. die Beschäftigung mit Lessings später Theologiekritik auf ein neues Niveau.

Ein Schriftsteller mit Sinn für historische Gerechtigkeit, wie Lessing ihn hatte, könnte sich indes angesichts der harschen Urteile über den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze zu einer Rettung des spätorthodoxen Raufbolds angeregt fühlen: K. attestiert ihm: Abtrünnigkeit von einer eigentlich orthodoxen Position (89), »theologische Selbstentfremdung« (127), Unkenntnis der Dogmengeschichte (136) sowie eine unbedachte theologische Positionierung (137f) und vieles mehr. Anstatt nach dem Eigenrecht von Goezes Theologie zu fragen, übernimmt K. Lessings Verfallsdiagnose. Wo ist aber diese ideale, zu restituierende Orthodoxie zu finden? K. nennt wie Lessing weder Ross noch Reiter: Vermutlich wäre die Suche nach der »orthodoxen Theologie in ihrer klassischen Ausprägung« (130) ohnehin vergeblich, da eine solche Einheitsfigur der Vielfalt dieser Strömung protestantischer Theo- logie nicht gerecht werden kann. Die Arbeit stößt hier auf ein Desiderat der Theologiegeschichtsschreibung. Das testimonium internum Spiritus Sancti scheidet als Wegweiser zu dieser vermeintlich idealen Orthodoxie jedenfalls aus. Es ist zwar fester Bestandteil der Lehre von der Schrift, steht dort aber problemlos neben dem Gedanken der Verbalinspiration. Auch Wunder- und Weissagungs-beweis haben ihren festen Platz schon bei frühen Vertretern dieser theologischen Richtung. Was K. im Anschluss an Lessing als eine Selbstentfremdung der Orthodoxie beschreibt, ist lediglich eine Verschiebung der Gewichte im althergebrachten Argumentarium. Könnte es also sein, dass die von K. herausgearbeitete Inanspruchnahme einer ursprünglichen Orthodoxie durch Lessing eine Legitimationsstrategie des gewitzten Liebhabers der Theologie ist– und dass dieser also keine restitutio einer längst verblassten Theo-logie anstrebt, sondern eigentlich eine Neuinterpretation durch selektive Anverwandlung bestimmter orthodoxer Lehrbestände?

Die Studie schließt im vierten Kapitel (211–242) mit der Anwendung der herausgearbeiteten theologischen Intention Lessings auf den Nathan. Nach einer bemerkenswerten Deutung der Ringparabel lenkt K. den Blick auf die Szene IV/7, in der Nathan von seinem Hiobs-Schicksal berichtet. Aufgrund des geschilderten unmittelbaren Offenbarungserlebnisses versteht K. den Protagonisten als den idealtypischen Gläubigen. Diese und manche andere These wird die Lessingforschung noch einige Zeit beschäftigen. Dass Lessings Texte aber nicht nur etwas für Spezialisten sind, sondern der gegenwärtigen Theologie einiges zu bieten haben, dokumentiert K. auch in zahlreichen Anmerkungen, die einen großen Schatz theologischer Anknüpfungsmöglichkeiten bereithalten. Die Studie ist ein Glücksfall und eine Inspiration für die interdisziplinäre Lessing-Forschung.