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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1063–1066

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Spehr, Christopher, Westphal, Siegrid, u. Kathrin Paasch [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Reformation et memoria. Protestantische Erinnerungsräume und Erinnerungsstrategien in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 536 S. m. 64 Abb. u. 1 Tab. = Refo500 Academic Studies, 75. Geb. EUR 150,00. ISBN 9783525517024.

Rezensent:

Christian V. Witt

Der hier anzuzeigende opulente Band leuchtet in interdisziplinärem Zugriff den titelgebenden Zusammenhang für die Frühe Neuzeit in 17 Aufsätzen aus, die ihrerseits drei Sektionen zugeordnet sind. Vorgeschaltet ist den Beiträgen, von denen einige in vorzüglicher Qualität bebildert und alle mit Bibliografien versehen sind, eine konzeptionelle Einleitung von Sascha Salatowsky (11–30). Sie durchmustert wesentlich kulturwissenschaftliche Ansätze und greift (religions-)geschichtlich weit aus, um das Anliegen und den Aufbau des Bandes zu begründen. Dieser dokumentiert den zweiten Teil einer vom »Netzwerk Reformationsforschung in Thüringen« veranstalteten Doppeltagung aus dem Sommer 2017 und präsentiert die meisten der damals in der Forschungsbibliothek Gotha gehaltenen Vorträge. Ebenfalls beigegeben sind den hier nun versammelten Aufsätzen neben einem Abkürzungsverzeichnis ein Personen- sowie ein Ortsregister und abschließend ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (519–536). Auf ein Gesamtverzeichnis der stolzen Anzahl an Abbildungen wurde allerdings verzichtet.

Mit »Akteure reformatorischer Erinnerungskultur« ist die erste jener drei schwerpunktmäßig dem ernestinischen Raum gewidmeten Sektionen überschrieben. Nach Siegrid Westphals Studie über »Fürsten und Fürstinnen als Träger von Erinnerungskultur am Beispiel der Ernestiner« (33–52) und Joachim Bauers Beob-achtungen zu »Reformationsgedächtnis, Universitätsgedächtnis und Krisenmanagement« nimmt der Beitrag von Wolf-Friedrich Schäufele »Caspar Sagittarius (1643–1694) als Historiograph der Reformation« in den Blick (69–83). Bilanzierend hält Schäufele fest: »In seinen zahlreichen reichs- und landesgeschichtlichen Arbeiten werden immer wieder auch Ereignisse und Personen der Reformationsgeschichte berührt, doch bleibt die Darstellung fast durchweg knapp und auf die dürren Fakten beschränkt.« (81) Darin einen Niederschlag der Helmstedter Zeit von Sagittarius zu sehen, einer akademischen Prägung also, die sich auch anderen eingeschliffenen historiografisch-kategorialen Zuordnungen entzieht, scheint nicht fernzuliegen. Schäufeles luzide Analyse verweist jedenfalls dankenswerterweise auf eine Tradition innerhalb des Luthertums, die im Kontext des titelgebenden Zusammenhangs gleichsam als Gegenprobe zu den übrigen Beispielen der Reformations- oder Lutheraneignung insgesamt Beachtung verdient. Dass sich der Jenaer Historiograph Sagittarius den konfessionspolitischen (Selbstdarstellungs-)Interessen der regierenden Dynastie nicht gänzlich verschloss und wohl auch nicht verschließen wollte, macht Schäufele freilich ebenfalls deutlich (78–80). Völlig anders liegen die Dinge bekanntlich bei Ernst Salomon Cyprian, dessen Bibliotheken und Bibliotheksarbeit Kathrin Paasch untersucht (85–115), bevor dann Daniel Gehrt Cyprian »und die Erinnerungspolitik Herzog Friedrichs II. von Sachsen-Gotha-Altenburg im Rahmen des Reformationsjubiläums 1717« analytisch zusammenführt (117–154). Beide Beiträge sind auch als Dokumentationen der in Gotha geleisteten Forschungsarbeit zu Cyprian zu lesen, die zu einer bemerkenswerten digitalen Ausstellung rund um Cyprians »Hilaria Evangelica« und das Reformationsjubiläum Anfang des 18. Jh.s geführt hat. Die Aufsätze zu Sagittarius einerseits, Cyprian andererseits eröffnen exemplarisch einen theologie-, institutio-nen- und historiografiegeschichtlich anregenden Spannungsbo-gen, der den Wert des Bandes für anknüpfende Überlegungen unterstreicht.

Ebenso verhält es sich mit den Beiträgen, die in der zweiten Sektion »Gedächtnis-Speicher, -Orte und -Medien der Reformation« versammelt sind. Widmet sich Dagmar Blaha der Entstehung, Zusammensetzung und Benutzung des Ernestinischen Gesamtarchivs (157–170), das einst schon Leopold von Ranke schwärmen ließ (157), nimmt Andreas Lindner am Beispiel des materialreichen, auch theologisch und kirchenpolitisch verorteten numismatischen Werkes Christian Junckers »Memoria in Zeiten konfessioneller Verunsicherung« in den Blick (171–201). Anschließend gewährt Stefan Laube unter dem Titel »Prosit Reformation! Perlende Worte als Treibstoff der Erinnerung« genauso unterhaltsame wie aufschlussreiche Einblicke in sozial-, ernährungs- und geselligkeitsgeschichtliche Aspekte frühneuzeitlicher Reformationswahrnehmungen und der dahinter liegenden Zuschreibungen (203–241). Die Studie »Bildliche Memoria als räumliche Disposition. Bildorte und Bildräume konfessioneller Erinnerung im frühneuzeitlichen Fürstenstaat« von Matthias Müller (243–286) fällt konzeptionell und inhaltlich nicht weniger beeindruckend aus. Den Beitrag gliedern zwei Fallgruppen, deren erste das Residenzschloss Torgau bildet als »raumbildendes Gehäuse, dessen außen- und innenräumliche Dispositionen und Strukturen gezielt und mit programmatischer Absicht durch Bildwerke besetzt und definiert wurden« (247). Die zweite Fallgruppe wird durch fürstliche Sammlungen konstituiert, wobei das Residenzschloss dann »als Thesaurus erinnerungsstiftender Dinge und Objekte« (ebd.) verstanden wird. In diesem Zusammenhang zieht Müller auch Gegenstände in Sammlungen der dynastischen Konkurrenten sowie der konfessionellen Gegner der Ernestiner heran, um exemplarisch Gegenprogramme zu deren Selbstdarstellung und Geltungsanspruch gleichsam im Windschatten der Schlacht bei Mühlberg zu thematisieren (271–283). Stefan Rhein spürt mit »›Luthers Nazareth‹. Der Erinnerungsort Mansfeld« ebenfalls der örtlichen und räumlichen Dimension der Reformationsmemoria nach (287–313) und zieht gewohnt scharfsichtig die inhaltlich-argumentativen Linien bis in jüngste Phänomene der keineswegs unproblematischen Luther-Erinnerung aus. Nachdem dann Christopher Spehr in einem ebenso umfassenden wie gehaltvollen Panorama »Die Lutherausgaben des 16. bis 18. Jh.s. Initiierung, Programmatik und Memoria« vorgestellt hat (315–363), beschäftigt sich Christiane Wiesenfeld zur gelungenen thematischen Abrundung der zweiten Sektion mit »›Musica efficax‹. Dimensionen des Singens in der lutherischen Musikanschauung der Frühen Neuzeit« (365–376). Sie zeichnet über verschiedene Einzelaspekte das wirkmächtige Musikmodell nach, welches die lutherische Reformation geprägt habe und in dessen Zentrum »das eigene Singen, nicht das Lied an sich« stehe (374). Entsprechend unerheblich sei es – und es wäre schön, man könnte diese Debatte endlich ad acta legen –, wer denn nun die Melodien der sog. »Luther-Choräle« komponiert hat. »Das Phänomen der ›Musica efficax‹ lässt sich mit einem durch die Brille des 19. Jahrhunderts historiographisch aufgerüsteten Autor- und Werkbegriff ohnehin nicht erklären. Man versteht es in letzter Konsequenz vermutlich nur singend.« (375)

Und damit gelangt die gedanklich ins interdisziplinäre Gespräch gewissermaßen hineingezogene Leserschaft zur dritten und letzten Sektion, die »Reformatorische Erinnerungskulturen« erkundet. In den dort versammelten fünf Studien treten auch konfessionell komparatistische Interessen in den Vordergrund, während der Schwerpunkt weiterhin auf dem Luthertum liegt: Thomas Fuchs beleuchtet »Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung« am Beispiel ausgewählter Apokalypsekommentare (379–396), Stefan Dornheim bringt in seinem Prospekt »Erinnerungsagentur. Eigengeschichtsschreibung und konfessio-nelle Gedenkkultur im lutherischen Pfarrhaus (1550–1850)« erinnerungskulturelle und sozialgeschichtliche Aspekte fruchtbar zusammen (397–422), Thomas Klöckner untersucht »Reformiertes Selbstbewusstsein um 1617« und zieht dazu Heinrich Alting heran (423–450), dessen Lebenswerk an der Schnittstelle »von reformatorischer Theologie, Bekenntnisbildung und Geschichtsschreibung hin zu Neuansätzen in deren Bearbeitung und Präsentation« verortet wird (442). Anschließend bietet Wolfgang Flügel mit »Reformationsgedenken im Konflikt – die Säkularfeier 1717« (451–481) ein die Perspektive weitendes Seitenstück zu den Aufsätzen von Paasch und Gehrt in der ersten Sektion, bevor Sascha Salatowsky unter der Überschrift »Kampf um die Reformation. Aspekte lutherischer Erinnerungskultur« (483–517) die Kontroversen rund um die Bewertung der Reformation als Dynamisierungsfaktor historiographischer Debatten und wissenschaftlicher Professionalisierungsprozesse darstellt.

Das mit dem Band nun vorliegende Panorama von Analysen frühneuzeitlicher konfessioneller Erinnerungsräume und -strategien bildet somit insgesamt ein beeindruckendes Plateau, von dem aus die bisherigen Forschungen verschiedener disziplinärer Prägung inhaltlich gesichtet, konzeptionell zusammengeführt und analytisch vertieft werden können. Besonders die damit verbundene perspektivische Anreicherung der konfessions- und wahrnehmungshistorischen Forschung dürfte künftige Gespräche und Untersuchungen zum Thema »Reformatio et memoria« erheblich anregen.