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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1060–1063

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Scheib, Imke

Titel/Untertitel:

Christlicher Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Adolf Stoecker im Spiegel der zeitgenössischen Kritik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 480 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 57. Geb. EUR 118,00. ISBN 9783374069521.

Rezensent:

Martin Ohst

So wenig das Zweite Kaiserreich den Ansprüchen genügen mochte, die man heute an eine Demokratie stellt: Es war doch ein Rechtsstaat, der seinen Bürgern ein großes Maß an religiöser, weltanschaulicher und politischer Meinungsfreiheit gewährte. Und es war ein Gemeinwesen, über dessen Fundamente, dessen Aufgaben und dessen Zukunftsgestalt erbittert debattiert wurde – in Parlamenten, deren Oppositionsparteien sich, anders als heute, nicht als Ersatzregierungen verstanden, in einer reich differenzierten Publizistik und in einer Presse, die sich, anders als die heutigen ›seriösen Medien‹, keinesfalls als gemeinsam Verantwortung tragende ›vierte Gewalt‹ zelebrierte, tobte, so die Zeitdiagnose Theodor Mommsens, »der Krieg aller gegen alle«. Vieles von dem, was heute positiv oder negativ den digitalen Medien zugeschrieben wird, ereignete sich auch damals schon, allerdings analog – etwa in Versammlungen und Debatten oder auf dem Papier von Flugschriften und Zeitungen.

Unter den Kirchenmännern seiner Zeit war es Adolf Stoecker (1835–1909), der sich wie kein anderer als politischer Publizist, als Agitator und als Parlamentarier den in diesem Meinungs- und Weltanschauungskampf herrschenden rauhen Sitten anpasste. Zeitgenossen und Nachlebende bemängelten, dass er zwar an die Redlichkeit seiner Gegner hochmoralische Ansprüche stellte, sich selber jedoch im Zweifelsfall mehr als einmal für die rhetorisch-demagogische Augenblickswirkung und wider die Wahrhaftigkeit entschied. Seine Bundesgenossen nahm er sich, wo und wie er sie fand. Wie er Harnack, gegen dessen Berufung nach Berlin er eben noch öffentlich protestiert hatte, kurz darauf für den Evangelisch-Sozialen Kongress umwarb (345 mit Anm. 53), so tat er sich zeitweise mit Leuten zusammen, die ihm religiös und weltanschaulich zwar fern standen, mit denen ihn jedoch antisemitische Ressentiments und Parolen verbanden: Er wähnte sich als der Überlegene, der sich anderer für seine Zwecke bediente, und musste bisweilen erfahren, dass es sich in Wirklichkeit umgekehrt verhielt (vgl. z. B. 137.178). Was ihn bei alledem antrieb, war das Leitbild einer Gesellschaft, die ihre Kohärenz und Stärke unter monarchischer Leitung aus einem dezidiert nationalen gemeinsamen Herkunftsbewusstsein und einem von einer starken (evangelischen) Kirche machtvoll und überzeugend vertretenen traditional-christlichen Ethos bezog – die Vfn. bezeichnet das, m. E. nicht wirklich treffend, als »christlich-deutsche Gesellschaftsutopie« (42, dann passim). Dieses Leitbild verfocht er vehement gegen andersartige Konzepte, nämlich sozialistische und vor allem liberale, indem er diese zu einprägsamen Feindbildern modellierte.

1879 griff er zumal in Berlin virulent werdende antisemitische Ressentiments und Parolen auf und konstruierte das Klischee des »Modernen Judentums«, in welchem er Liberalismus und Sozialismus konvergieren ließ. Als Hofprediger (seit 1874) war Stoecker nicht irgendwer, und so avancierte er in der öffentlichen Wahrnehmung zur Galionsfigur der seit 1873 (»Gründerkrach«) anschwellenden antisemitischen Bewegung, in der sich die Vertreter ganz unterschiedlicher Ideen um ein gemeinsames Feindbild scharten. Im Widerspruch zu früheren Deutungen, die Stoeckers Antisemitismus und andere Motiven gegeneinander »abwägen«, wie sie das gern nennt (signifikant 31.40.389), bedient die Vfn. sich eines von Shulamit Volkov inspirierten sozialpsychologischen bzw. psychopathologischen Verstehensmodells (41) und stuft Stoeckers Antisemitismus »als Weiterführung der christlich-deutschnationalen Weltanschauung« (41) ein: Damit weist sie Stoeckers Antisemitismus seinen Ort im Zentrum seiner Motivationen an; sie kann das aber auch wieder relativieren, indem sie schreibt, dass der Antisemitismus »zeitweise im Zentrum seines Denkens und Handelns« (389) gestanden habe. Dieser Vorentscheidung entspricht der Aufbau ihrer Untersuchung.

Zunächst rekonstruiert sie mit einem systematischen Zugriff »Adolf Stoeckers christliche[n] Antisemitismus« (Kap. 2, 37–83) und kontextualisiert diesen dann historisch in drei Phasen (vgl. zur Periodisierung 23 f.): Sie unterscheidet zwischen der »Etablierung« der von der antisemitischen Bewegung aufgebrachten Judenfrage (1879, Kap. 3, 85–162), deren »Politisierung« (seit 1880, Kap. 4, 163–331) und deren »Institutionalisierung« (seit 1889/90, Kap. 5, 333–374). Diese Engführung des Stoecker-Bildes auf seinen Antisemitismus bestimmt auch das Bild seiner Lebensgeschichte: Sie wird einführend als knappes Biogramm präsentiert (37, Anm.1); ausführlich und anschaulich wird seine Berliner Lebenswelt seit 1877 skizziert (86–90; s. auch 149.165.199). Seine ersten Amtsjahre vor dem deutsch-französischen Krieg werden lediglich in einem ganz anderen Kontext en passant erwähnt (228 f.), und über seine Arbeit als Divisionsprediger in Metz, also das Sprungbrett für seinen Aufstieg ins Berliner Hofpredigeramt, erfährt man nichts. Stoeckers immense Wirkung als Prediger wird erwähnt, und auch der Hinweis auf das ansehnliche Corpus seiner gedruckten Predigten fehlt nicht (70); als Quelle für seine Stellung zum Judentum bleiben sie jedoch ungenutzt. Diese Einseitigkeiten liegen in dem Vorzug dieser Arbeit begründet: Sie will ja den Antisemiten Stoecker gerade im Spiegel der zeitgenössischen Kritik wahrnehmen, und darum lag es nahe, sich die Leitperspektive und die Auswahlprinzipien eben von denjenigen unter seinen vielen Feinden und Kritikern vorgeben zu lassen, die sich gegen seinen Antisemitismus wandten.

Die Schar dieser Kritiker spiegelte nun in ihrer Heterogenität ihrerseits noch einmal die religiöse, weltanschauliche und politische Zerrissenheit des Zweiten Kaiserreichs wider. Ihre einzige Gemeinsamkeit lag in dem, was die Vfn. als ihren »Anti-Antisemitismus« bezeichnet (vgl. 33–35); dass der Begriff in der Geschichte der jungen Bundesrepublik schon einmal Furore gemacht hat (vgl. Rudolf Augstein, Lieber Spiegel-Leser, in: DER SPIEGEL 1959, Heft 11, 10. März 1959; im Internet mühe- und kostenlos abrufbar), bleibt unerwähnt.

In der ersten der drei Phasen artikulierte sich die Reaktion auf Stoeckers antisemitische Attacke in Presseberichten, die von der politischen Orientierung des jeweiligen Organs bestimmt waren, und in einer Reihe von Flugschriften (wichtig zur literarischen Gattung 122 f.), die polemisch Stoeckers Stellung als Geistlicher thematisierten oder apologetisch seine antijüdischen Vorwürfe bestritten. Insgesamt warfen sie Stoecker von einem aufgeklärt-liberalen Standpunkt aus den Rückfall in finstere, längst überwundene Zeiten vor. Dieselbe argumentative Stoßrichtung verfolgten Eingaben an die Berliner Stadtverordnetenversammlung und an das preußische Innenministerium, die – erfolglos – um Schutz vor Stoeckers Agita- tion nachsuchten. Den Beginn der Politisierung der Judenfrage markierte die »Antisemitenpetition«, die vom deutschen Staat empfindliche Einschränkungen des Rechtsstatus jüdischer Bürger forderte. Gegenüber dem hier sich artikulierenden Radikalismus verhielt sich Stoecker uneindeutig. So provozierte er förmlich die Instrumentalisierung der Justiz zu seinen eigenen Ungunsten: Ein Zeitungsartikel gegen ihn wurde mit voller Absicht so beleidigend formuliert, dass er sich gegen ihn mit einer Klage zur Wehr setzen musste. Die führte zwar zur Verurteilung des beklagten Journalisten, aber in seinen Zeugenaussagen musste Stoecker sein eigenes Lavieren und Taktieren derart decouvrieren, dass er in der Öffentlichkeit als eigentlicher Verlierer dastand; ein gegen ihn engagierter Beteiligter kommentierte vielsagend: »›Der Prozess ist nichts, das Echo ist alles‹« (221).

Kritische Rückfragen seitens der zuständigen kirchenleitenden Gremien richteten sich gegen Stoeckers (sozial)politisches Engagement allgemein, aber nicht gegen seine antisemitischen Attacken. Stoeckers schärfste Kritiker im kirchlich und theologisch liberalen Milieu waren Einzelgänger und Außenseiter: Michael Baumgarten kritisierte Stoeckers Antisemitismus als Symptom seiner Leitvorstellung des christlichen Staates, welcher Baumgarten das Ideal einer reinen Freiwilligkeitskirche entgegenstellte. Der Bremer Prediger Moritz Schwalb, selbst getaufter Jude, vertrat die Vorstellung einer Reduktion der christlichen Religion auf einen im wesentlichen schon bei den Propheten des Alten Testaments realisierten ethischen Monotheismus unter Verabschiedung der Vorstellung von der Gottheit Christi. Die Publikationsorgane des Protestantenvereins, der in corpore im Gegensatz zum politischen Linksliberalismus an der Forderung einer christlichen bzw. protestantischen Leitkultur festhielt, bekämpften in Stoecker zunächst einmal den theologischen und kirchenpolitischen Erzfeind – eine Einschätzung, die voll und ganz auf Gegenseitigkeit beruhte! – und gingen auf seinen Antisemitismus nur am Rande ein. Die (wenigen) Protagonisten der Judenmission standen Stoecker anfangs insofern ganz nahe, als sie das Verhältnis von Christentum und Judentum biblisch-heilsgeschichtlich deuteten: Sie hofften gemäß Röm 11,26 auf die endzeitliche Bekehrung Israels, der sie, letztlich Impulsen Speners folgend, zuzuarbeiten gedachten. So begrüßten einige Beobachter aus dieser Richtung Stoeckers antisemitische Ausfälle zunächst als besonders exponierte Buß- und Bekehrungspredigten in ihrem Sinne. Grundsätzlich jedoch befürworteten sie wie der Martin Luther des Jahres 1522 einen freundlichen, verständnis- und respektvollen Umgang mit jüdischen Mitmenschen – als missionarische Strategie. Und genau hier trennten sich ihre Wege von denen Stoeckers, weil und sofern er sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit von rassistischen, biologistisch-deterministischen Spielarten des Antisemitismus abgrenzte. Besonders der Judaist H. L. Strack und der Alttestamentler F. Delitzsch erhoben scharfen Einspruch gegen Stoeckers demagogisches Hantieren mit verleumderischen antijüdischen Unterstellungen und Klischees.

Die im eigentlichen Sinne kirchlichen und theologischen Stellungnahmen insgesamt stellt die Vfn. unter das folgende Verdikt: »In der evangelischen Kirche herrschte sowohl im liberalen als auch im konservativen Lager das Selbstverständnis vor, dass das Christentum dem Judentum überlegen sei, was auf die Substitutionstheologie zurückzuführen ist, die in der Theologie des späten 19. Jahrhundert (sic!) über alle kirchenpolitischen Differenzen hinweg herrschte. Dieser Annahme zufolge habe das Christentum den alttestamentlichen Bund Gottes aufgehoben und an seiner statt den Status des auserwählten Volkes inne« (285; ähnliche Formulierungen passim). Die in diesem Urteil als maßgeblich vorausgesetzte theologische Deutung des christlichen Verhältnisses zum Judentum, die man wohl füglich als Subordinationstheologie bezeichnen könnte, wird nirgends expliziert. Das muss man in diesem Kontext nicht beanstanden. Trotzdem: Diese verallgemeinernde, grobschlächtige Rede von der »Substitutionstheologie« verstellt leider den Blick für die unterschiedlichen Spielarten eines christlichen Verständnisses von Humanität, welches solche dogmatischen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata historisierte und stattdessen religionsgeschichtlich und religionsphilosophisch Stufendifferenzen zwischen Judentum und Christentum konstatierte, ohne deshalb Menschen jüdischen Glaubens, geschweige denn jüdischer Herkunft herabzusetzen oder zu verunglimpfen. Aus einer solchen respektvoll-distanzierten Verstehens-haltung heraus exponierte sich etwa Otto Baumgarten später in der Zwischenkriegszeit als mutiger, tapferer Streiter für Menschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens und deren Rechte.

Mit den späten 1880er Jahren setzten in den Kämpfen um die Judenfrage Institutionalisierungen ein. In der zunächst amorphen antisemitischen Bewegung gewann »ein rein rassistisch begründeter, mit völkischen Motiven durchzogener Antisemitismus« (335; vgl. auch pointiert 345) die Oberhand, der Stoeckers christlich-antisemitische Programmatik »ins Abseits« (ibd) drängte. Auch im von ihm mit initiierten Evangelisch-Sozialen Kongress fand Stoecker für seinen christlichen Antisemitismus kein Organ. Es war vor allem der von ihm selbst zur Mitarbeit herangezogene Harnack (s. o.), der hier scharfe Trennlinien zog, so dass Stoecker austrat und die Kirchlich-Soziale Konferenz gründete, deren eigentliche Wirksamkeit sich allerdings erst nach seinem Tode entfaltete. Anders schien es sich zunächst in der Parteipolitik zu entwickeln: Es gelang Stoecker und seinen Anhängern, seine Spielart des christlichen Antisemitismus im Programm der Deutschkonservativen Partei zu verankern. Als sich jedoch zeigte, dass das keine Wählerstimmen brachte, sondern vielmehr Wasser auf die Mühlen der sich parteipolitisch organisierenden Radikal-Antisemiten leitete, und als die Partei insgesamt von Stoeckers christlich-sozialen Zielsetzungen zur Orientierung an großagrarischen Interessen überging, wurde Stoecker als »Problemfaktor« (359) aus der Parteiführung heraus- gedrängt. Auch seine eigene Christlich-Soziale Partei, in der Jüngere den Ton angaben (Friedrich Naumann!), zerfiel. Während Stoecker so, seiner eigentlich politischen Einflussmöglichkeiten beraubt, auf seine Tätigkeitsfelder als Publizist und Prediger zurückgeworfen wurde, institutionalisierte sich der Anti-Antisemitismus: 1890 wurde der von religiös heterogenen, politisch liberalen Kräften getragene Verein zur Abwehr des Antisemitismus gegründet, drei Jahre später der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der sich »dezidiert als jüdisch und deutsch-patriotisch definierte« (365). In den Publikationsorganen dieser Vereine fanden Stoeckers Aktivitäten und Verlautbarungen immer weniger Beachtung, und so bezeugten auch sie auf ihre Weise, dass die von ihm selbst zeitweilig befeuerte antisemitische Bewegung ihn gleichsam unter sich begraben hatte. Die Langzeitwirkung Stoeckers skizziert die Vfn., indem sie nun ihrerseits sehr differenziert und klug »abwägt« (s. o.): Seine bisweilen radikale Rhetorik zeitigte indirekt Folgen, die er so nicht beabsichtigt hatte und wohl auch nicht gebilligt hätte (konzentriert 389 f.). – So lernt man aus diesem sehr lesenswerten Buch viel über Stoecker, aber noch mehr über den Inhalt und die Form gesellschaftlicher Orientierungskämpfe im Zweiten Deutschen Kaiserreich.