Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thiessen, Jacob, u. Christian Stettler [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Paulus und die christliche Gemeinde in Korinth. Historisch-kulturelle und theologische Aspekte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 183 S. = Biblisch-Theologische Studien, 187. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783788734794.

Rezensent:

Andreas-Christian Heidel

Dieser Sammelband enstand aus einem Studientag im Jahr 2018 an der Staatsunabhängigen Theologische Hochschule Basel (STH Basel) und beschäftigt sich mit dem historisch-religiösen sowie soziokulturellen Kontext der frühchristlichen Gemeinde in Korinth und den daraus resultierenden Herausforderungen, zu denen Paulus in seinen Briefen an die Gemeinde Stellung bezieht. Der Charakter eines Studientages, der vermutlich gerade auch auf Studenten als Adressaten abzielte, ist den fünf Beiträgen deutlich anzumerken. Es stehen keine innovativen Spezialdiskussionen im Vordergrund, sondern grundlegende Einführungen.

Entsprechend beginnt Benjamin Schließer mit einem sozialgeschichtlichen Panorama (»Streifzüge«) zur korinthischen Gemeinde (9–53), um diese und die sie prägenden Probleme inmitten und aus ihrer dynamischen Lebenswelt heraus zu verstehen. Man erhält einen narrativ gestalteten und dadurch umso lesenswerteren Überblick über den status quo der bisherigen sozialgeschichtlichen Forschung. Schließer vermeidet unter Berücksichtigung der schwachen Quellenlage einseitige Tendenzen und beschreibt die Gemeinde als »Spiegelbild der urbanen Gesellschaft« (44 f.). Dadurch musste sie angesichts ihrer neuen Lehre mit »ungeheuren sozialen Spannungen« (45) umgehen, was sich dadurch verstärkte, dass christliche Identität nicht verborgen, sondern mitten im familiären, beruflichen und geselligen Alltag ausgelebt wurde.

Die nächsten beiden Beiträge sind »klassische« religions- bzw. geistesgeschichtliche Studien zu zwei konkreten antiken Phänomenen, auf deren Hintergrund die paulinischen Interventionen im 1Kor zu verstehen seien. So widmet sich Harald Seubert (55–76) der Sophistik als Anlass für das Beharren des Apostels auf der Autorität seiner Lehre, die sich nicht aus menschlichem Vermögen speise, sondern aus dem Wirken des Geistes. Der überwiegende Teil des Beitrags besteht aus einem quellenbasierten Überblick zur Sophis-tik (meist im Anschluss an B. Wyss) sowie der an ihr vorgenommenen Kritik vor allem durch antike Philosophen(-schulen). Das so gewonnene Bild bringt Seubert am Ende skizzenhaft mit Aussagen des Paulus im 1Kor ins Gespräch, der der philosophischen Kritik an der Sophistik möglicherweise folge, um die christliche Botschaft – quasi als eine eigene Form der Philosophie – in einem Schmelztiegel geistiger Ideen wie Korinth davon abzugrenzen. Aufschlussreich ist das Schlusswort des Autors, das die leicht zu übersehende »Gegnerschaft« seines Beitrags zu erkennen gibt: Das Missverständnis, aufgrund Paulus’ Betonung der Stärke Gottes gerade in seiner »schwachen« Rede sei die positive Auseinandersetzung mit Philosophie in der christlichen Theologie (und Ausbildung) generell abzulehnen.

Im Anschluss erblickt Jacob Thiessen in seinem Beitrag (77–113) hinter der von Paulus kritisierten Praxis der Glossolalie den Dionysioskult, in dem ekstatische Rituale und das Stammeln unverständlicher Laute üblich waren. Der Mehrwert dieses Beitrags liegt vor allem in der quellenreichen Darstellung jenes Kultes (79–103). Interessant ist darüber hinaus die Frage nach einer »dionysischen Prägung« des Entstehungskontexts des Jesajabuches, die Thiessen mit Vorsicht bejaht, sodass Paulus in 1Kor 14,21 nicht nur Jes 28,11 an sich zitiere, sondern auch dessen zeitgeschichtlichen Kontext.

Den vielleicht »theologischsten« Beitrag präsentiert Christian Stettler (115–147) zu Paulus’ Rede von der Ohnmacht Gottes. Gegen hermeneutische Ansätze, die entweder die Niedrigkeit Jesu zugunsten seiner Hoheit relativieren (Leidensunfähigkeit) oder ihr aufgrund ideologischer Interessen eine soteriologische Relevanz absprechen (Jesus leidet mit uns, aber nicht für uns), betont Stettler im Anschluss an J. D. Caputo, dass Paulus von der Macht und Ohnmacht Gottes zugleich spreche. Der Großteil des Beitrags besteht dann aus einer bibelkundlich geprägten Darstellung der Kreuzestheologie vor allem des 1Kor, unter Einbeziehung der Selbstrechtfertigung des Paulus im 2Kor als Zeugnis der Macht Gottes, die aus weltlicher Sicht als Ohnmacht erscheine. Diese Verhältnisbestimmung betont Stettler zum Abschluss als heilsökonomischen Ablauf: Gott sei in seiner Herrlichkeit in Christus präsent, der aber »nur« aus Sicht der Welt als schwach erscheine, wobei sich in ihm eigentlich bereits die Herrlichkeit der Neuschöpfung zeige. Hier stellen sich dem Rezensenten Anfragen, ob die radikale Bedeutung der Inkarnation so nicht doch wieder zu stark von der Parusie her relativiert wird, wenn doch bspw. der Phil-Hymnus betont, dass Christus sich selbst »entleerte« (Phil 2,7).

Den Abschluss bildet Jörg Frey in einer Gesamtschau zur Frage, was eigentlich zu den Spaltungen innerhalb der korinthischen Gemeinde geführt habe, die für die Interventionen des Paulus im 1Kor prägend gewesen sind (149–181). Mit Bezug auf H. Merkleins 1Kor-Kommentar erwägt Frey, dass es vor allem gebildete Gemeindeglieder waren, die an Paulus geschrieben hatten, ohne die Parteiungen selbst zu erwähnen, und dass jene Apollos zuzuordnen seien, weil sie Interesse an Lehre und Weisheit zeigen. Die »Glossolalen« hingegen, d. h. diejenigen, die vor allem eine religiöse Praxis in den Vordergrund rückten, gehören zu den Anhängern des Paulus, ohne zwingend seine ganze Theologie durchdrungen zu haben. Diese »inspirierende« (158) Verhältnisbestimmung habe sich vor allem in der protestantisch dominierten Bibelwissenschaft nur schwer halten können, weil sie ausgerechnet die »Schwarmgeister« mit Paulus in Verbindung bringe. Paulus reagiere schließlich auf die Spaltungen mit einer »integrativen« (159–177), weil »relational konstituiert[en]« (175) Ethik auf der Grundlage des Kreuzesgeschehens.

Den fünf Autoren sei für diese leicht zugänglichen Einblicke in die korinthische Gemeinde und in die schier unüberschaubare Forschung, die sich mittlerweile im Blick auf diese Gemeinde angestaut hat, gedankt.