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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1046–1048

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scholtissek, Klaus, u. Karl-Wilhelm Niebuhr [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Diakonie biblisch. Neutestamentliche Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2021. X, 315 S. = Biblisch-Theologische Studien, 188. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783788735067.

Rezensent:

Martin Meiser

Der hier anzuzeigende Band versammelt Beiträge aus dem neutestamentlichen Oberseminar in Jena und hat seinen Lebenskonnex in der Vita des an erster Stelle genannten Herausgebers Klaus Scholtissek, hauptberuflich Vorsitzender der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH, einer Einrichtung mit über 3500 Mitarbeitenden.

Der einleitende Überblicksartikel von Klaus Scholtissek (»Neutestamentliche Grundlagen diakonischen Handelns«, 1–21) zeichnet Jesu Wirken von Mk 1,15 aus als messianischen Dienst an der Gottesherrschaft, das Wirken des Paulus von 2Kor 5,14–21; 8,1–9 aus als Dienst der Versöhnung, der Evangeliumsverkündigung und materielle Hilfeleistung in unauflöslicher Verschränkung umgreift. Karl-Wilhelm Niebuhr (»Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu«, 23–51) charakterisiert von Mk 10,45 aus, das er in ältester vorliterarischer Passionsüberlieferung verortet, in Anlehnung an Heinz Schürmann Jesu Wirken als Proexistenz, sichtbar u. a. in den zeichenhaften Heilungen, in seiner Zuwendung zu den gesellschaftlichen Randsiedlern, und als Anteilgabe an der eigenen, heilvollen Gottesbeziehung. Für heutiges diakonisches Handeln erwächst daraus die Spannungseinheit von »konsequentem Einsatz für die Beseitigung von individuellen und gesellschaftlichen Nöten« (50) und der Einsicht in die »begrenzten Ressourcen menschlicher Heilungsmöglichkeit« (50).

Die nächsten Beiträge sind den vier kanonisch gewordenen Evangelien gewidmet. Matthias Konradt (»Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt«, 53–90) weist in Kritik an Ansätzen von John N. Collins und Anni Hentschel zunächst nach, dass die Wortgruppe durchaus karitative Tätigkeiten einschließen kann, dies aber durch den Kontext klargestellt sein muss (61). Barmherzigkeit ist ein Leitmotiv, das Christologie und Ethik umgreift, so dass Jesus in seiner helfenden Zuwendung auch zum Vorbild für die Jünger wird. Mt 25,31–46 ist kein Trostwort, sondern Paränese; der königliche Richter macht, wie der Zusammenhang zwischen diesem Text und Mt 20,28 zeigt, sein eigenes diakonisches Verständnis seines Königtums auch für die Jünger verpflichtend (85). Klaus Scholtissek (»Denn der Menschensohn ist nicht gekommen«, 91–125) arbeitet anhand von Mk 9,33–37; 10,35–45 für das Markus-evangelium den Zusammenhang zwischen messianischem Leidensweg Jesu und messianisch-diakonischer Jüngerethik heraus; der zweifache parallelismus membrorum Mk 10,43 f. in der Antithese zu Mk 10,42 beinhaltet eine bewusst provozierende niedere Statuszuschreibung als Maßstab des innergemeindlichen Miteinanders (114). In Lk 10,25–37 zeigt sich, so Klaus Scholtissek in seinem Beitrag zu Lukas (»Barmherzige und hörende Liebe«, 127–158), dass Adressat wie Subjekt diakonischen Handelns entgrenzt werden und ein Gegensatz zwischen Gottes- und Nächstenliebe nicht besteht; innerhalb von Lk 10,38–42 wird Marthas kritische Frage zurückgewiesen, weil sie den Kairos der Gegenwart Jesu und seines Wortes verfehlt. Im Johannesevangelium (dazu wiederum Klaus Scholtissek, »Ein Beispiel habe ich euch gegeben« [Joh 13,15]«, 159–188) kann die Episode der Fußwaschung als biblische Basis diakonischen Handelns in Umkehrung gängiger Erwartungshaltungen gelten. Die Fußwaschung durch Jesus, der dabei gleichwohl der lehrende κύριος bleibt, konterkariert übliche griechisch-römische soziale Praxis und wird gerade darin für die Jünger Jesu verpflichtend.

Die nächsten beiden Beiträge sind Paulus gewidmet. Unter dem Titel »Diakonie der Versöhnung« (189–222) biete Klaus Scholtissek eine detaillierte Analyse von 2Kor 5,14–21, gedeutet mit Hilfe eines weitgefassten Stellvertretungsbegriffs, der auch die Asymmetrie im Motiv der Schicksalsgemeinschaft impliziert. In diesem Paulustext impliziert der Begriff διακονία tatsächlich keine diakonischen Dienstleistungen (220 Anm. 70). Zu Recht wird die gegenseitige Durchdringung von Christologie (mit soteriologischer Deutung des Todes Jesu) und Theologie betont. Manuel Vogel (»Leidensgemeinschaft«, 223–257) stellt anhand eindringender Analysen von Phil 3,10; 2Kor 1,3–7 und 1Thess 2,14–16 heraus, »dass Leidensteilhabe als menschliche Lebensäußerung sich bereits in frühchristlichen Texten niedergeschlagen und zur christlichen Selbst- und Weltdeutung […] Wesentliches beigetragen hat« (257). Phil 3,10 bezeugt paulinische Kreuzestheologie mit ihrer Kernaussage des sozialen Positionswechsels (233); in 2Kor 1,3–7 ist das Motiv der Leidensgenossenschaft briefpragmatisch unabdingbar, um die gefährdete Gemeinschaft zwischen Absender und Adressaten aufrechtzuerhalten (247); 1Thess 2,14–16 ist eigentlich ein Trostwort (250).

Ein abschließender Beitrag ist dem religionsgeschichtlichen Umfeld des Neuen Testamentes gewidmet. Jan Quenstedt (»Das Wortfeld Diakonia bei Philon von Alexandrien«, 259–288) stellt heraus, dass das Wortfeld hier sowohl Dienstleistungen bei der Mahlzeit (z. B. VitCont. 50.70.71.75) als auch die Ausführung bestimmter Aufträge (Flacc 162; Jos 167; 241) bezeichnen kann, wo ein niederer sozialer Status nicht als das Wesentliche anzusehen ist, zusätzlich aber auch die vermittelnde Hilfsfunktion von Dingen (VitMos 2,199; Post 165). Die Belege für ὑποδιακονικός und ὑποδιάκονος (u. a. Jos 123; Decal 178) tragen zumeist (Ausnahme: SpecLeg 1,17.19) das Moment der Unterordnung in sich, das auch durch den jeweiligen Kontext bestätigt wird. SpecLeg 1,166 erweitert das bisher gezeigte Spektrum durch den Gedanken der Mittelstellung zwischen Gott und Menschen (282). Durch den Aspekt der Vermittlung unterscheidet sich die Wortfamilie διακονία von dem wesentlich häufiger gebrauchten Stamm ὑπηρέτ- (287).

Der Band hat seine innere Mitte in dem Nachweis, dass in mehreren wichtigen neutestamentlichen Texten Diakonie thetisch-normativ als in der Proexistenz Jesu begründet begriffen wird, und kann dadurch jenseits wissenschaftlicher Debatten zum Aufbau eines diakonisch-sozialen Habitus bei Christen beitragen. In Aufnahme und Weiterführung dieser Linien wäre fruchtbar zu machen, dass Paulus gerade in ekklesiologisch relevanten Passagen vom Zentrum des Glaubens aus argumentiert: Nachahmung Christi wird als Motiv speziell dort von Belang, wo es um inner- oder zwischengemeindliche Beziehungen geht (für ersteres vgl. Phil 2,1–11; Röm 15,2 f.7, für letzteres vgl. 2Kor 8,9, dazu S. 18 in diesem Band). Das gilt auch da, wo es offenbar mit dem genannten diakonisch-sozialen Habitus von Gemeindegliedern nicht zum Besten stand (vgl. die Funktion von 1Kor 11,23–26 in 1Kor 11,17–34). Der Impuls dieses Bandes für die exegetische Forschung besteht darin, dass man an einem weitgespannten Bedeutungsspektrum der Wortfamilie διακονία festhalten muss, das aber im Einzelnen durchaus unterschiedlich akzentuiert sein kann und sich allererst über die jeweiligen Kontext erschließen lässt. Ein nur implizit angedeuteter kritischer Impuls zur Debatte um zeitgenössisches kirchliches Diakonieverständnis könnte in dem mehrfachen Aufweis der theologisch wie christologisch fundierten Konstruktion der Christengemeinde als einer Gegengesellschaft liegen, was so-zialkritische Aspekte mit einschließt.