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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1030–1033

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kessler, Rainer

Titel/Untertitel:

Amos.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021. 298 S. m. 6 Abb. = Internationaler Exegetischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783170224209.

Rezensent:

Peter Riede

Nach vielen Jahren intensiver und kontroverser Diskussion um das Amosbuch ist die Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Prophetenbuch in der letzten Zeit deutlich ruhiger geworden. Während die »Minimalisten« unter den Kommentatoren nur wenige Verse des heutigen Textbestandes dem historischen Amos zuschrieben, rechneten andere Arbeiten damit, dass ein großer Teil der im heutigen Buch gesammelten Überlieferungen in ihrer Substanz auf den aus dem Südreich stammenden, aber im Nordreich wirkenden Propheten zurückgingen. Umso gespannter dürften alle, die sich mit alttestamentlicher Prophetie beschäftigen, darauf blicken, wie die unterschiedlichen Deutungs- und Datierungsvorschläge der letzten Jahre im neuen Amoskommentar von Rainer Kessler aufgenommen und diskutiert werden. Entstanden ist ein flüssig geschriebener, gut, und – für ein wissenschaftliches Werk nicht selbstverständlich – über weite Strecken spannend zu lesender Kommentar, der K.s andere profunde Auslegungen von Büchern des Dodekapropheton (Micha und Maleachi in der Reihe Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament) fortsetzt.

Entsprechend dem Programm der Reihe Internationaler Exe-getischer Kommentar zum Alten Testament wechseln sich synchrone und diachrone Analyse der Texte ab, um schließlich in einer Synthese zu münden. Der Kommentar beginnt mit einer knappen Einleitung (11–33), die das Buch aus synchroner und dia-chroner Perspektive in den Blick nimmt. Zum ersteren Bereich gehören Ausführungen zum Gesamtcharakter des Buches, zum Aufbau, zum Prophetenbild, zur immanenten Selbstverortung des Buches und zu Thema und Theologie. Der zweite Bereich umfasst Beobachtungen zur »Textarchäologie«, zu Blöcken und Fortschreibungen, die Frage nach buchübergreifenden Redaktionen und Informationen zur Rezeption. Daran schließen sich die Auslegungen an (34–277). Am Ende (278–295) finden sich die üblichen Verzeichnisse (Abkürzungen, Literatur, Abbildungen, Register).

Für das Buch rechnet K. mit vier Stufen der Redaktionsgeschichte. Eine erste Stufe dürften die Kapitel 3–6* des Amosbuches repräsentieren, die wohl den »Grundbestand der auf Amos zurückgehenden Worte« (24) enthalten. Diese schon »literarisch gestal- tete« (25) Sammlung ist noch vor 722 v. Chr. entstanden, wobei offen ist, ob sie auf den Propheten oder seine Anhängerschaft zurückgeht. Gerahmt ist sie von zwei Blöcken (zweite Stufe), die in ihrer vorliegenden Form den Untergang des Nordreichs voraussetzen. Dem ursprünglich fünfstrophischen Völkerspruchzyklus (Amos 1,3–2,16), der »in die Zeit des Amos zurückverweisen« könne (26), und dem Visionszyklus. Beide sind »auf die in der Mitte stehende Wortsammlung ausgerichtet« (26) und könnten eine Vorgeschichte haben, dürften aber nicht als »separate Quellen« (26) neben der Wortsammlung zu deuten sein, sondern als deren Fortschreibung. Diese Fortschreibung, von der auch Spuren in Amos 3–6* zu finden seien (z. B. der Jerusalem-Bezug in Amos 6,1; ferner Amos 3,3–8*; 4,6–12; vgl. auch Amos 7,10–17) sei nach 722 v. Chr. anzusetzen. Eine dritte Stufe der Entstehung setze den Untergang des Südreichs voraus. Hier werde die Rolle von Prophetie reflektiert (Amos 2,12; 3,7; 8,11 f.) und ein Bezug zur (Heils-)Geschichte Israels hergestellt (Amos 2,9–12; 3,1f; 5,25 f.; 9,7). »Auf dieser Überlieferungsstufe steht »Israel« jetzt nicht mehr ausschließlich für den Staat, der 722 v. Chr. untergegangen ist, sondern auch für das Volk, dem nach dieser heilsgeschichtlichen Konstruktion Juda schon immer angehört hat.« (27) Auch die über das Buch verstreuten hymnischen Abschnitte (Amos 4,13; 5,7–8; 9,5–6; vgl. auch 1,2) gehören zu dieser Stufe der Redak-tion. Mit dem Lob des »Schöpfung und Geschichte beherrschenden Gottes« (27) legen sie die Basis künftiger Hoffnung. Eine vierte Entstehungsstufe bilde der Amosschluss (Amos 9,7–15), der in die persische Zeit zu datieren sei, in der sich das judäische Gemeinwesen neu konstituiert habe.

Lange Zeit wurde das Amosbuch im Blick auf das auf R. Smend zurückgehende Diktum vom »Nein des Amos« (1963) interpretiert, das sich vor allem auf Amos 8,2 bezieht. Andere Ausleger haben die Unheilsansagen des Buches vor allem mit dem Aspekt »ultimativer Verwarnung« (Chr. Hardmeier 2013, vgl. A. Scherer 2005) in Verbindung gebracht. Demgegenüber nimmt K. eine mittlere Position ein: »Der Gott, den das Amosbuch verkündigt, findet sich mit dem Unrecht der Welt nicht ab. Er droht den Tätern das Ende an, er droht Israel das Ende an. Zugleich ruft er zum Leben.« (19) Darüber hinaus zeige das Buch in der Retroperspektive, das Rechtmäßige des Endes Israels, habe Gott doch »alles getan, um sein Volk zu retten« (20). Wichtig ist aber auch die Völkerperspektive, die das Buch einnimmt und die K. eigens betont. Bei den Völkern (Amos 1,3–2,3*) sind es anders als bei Israel nicht soziale (und kultische) Vergehen, sondern Kriegsverbrechen, die der Anklage zugrunde liegen. Und der Maßstab der Kritik ist nicht die Tora Israels, sondern »so etwas wie die Vorstellung von einem Völkerrecht […], das im Verhältnis der Völker zueinander gelten müsste« (88), und das den Völkern auch bekannt sein müsste. Dieses »übergeordnete göttliche Recht« (90) hat wie auch die Tora Israels die Opfer von Gewalt im Blick.

Mit zu den umstrittensten Partien des Buches seit jeher gehören die Visionen (Amos 7–9*), sowohl, was ihre Gesamtintention betrifft, als auch viele Frage der Deutung im Einzelnen.

Für die dritte Vision (Amos 7,7 f.) kehrt K. unter Verweis auf 1Kön 19,6 und die Arbeiten von H. G. M. Williamson (1990) und B. Noonan (2013) zur der früher gängigen Bleilot-Hypothese zurück. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, sei dahingestellt. Nach wie vor ist für die Constructus-Verbindung ḥômatanāk (Amos 7,7) die Annahme eines Genetivus qualitatis möglich und näher liegend, was zur Übersetzung »Mauer aus Zinn« führt (K. dagegen übersetzt: »der Herr stand auf einer mithilfe von Blei gebauten Mauer« [213]). Und das Nomen anāk könnte weiterhin als pars pro toto für eine daraus gefertigte Waffe angesehen werden. Eine solche erscheint mehrfach im Amosbuch als Gerichtswerkzeug (so in der späteren Deutung der Szene in Amos 7,9; vgl. aber auch Amos 9,4(.10); 4,10; 7,11.17), nicht dagegen ein Prüfwerkzeug wie das Bleilot (zum Problem vgl. schon Beyerlin 1988, 13). Zudem erscheint ein ähnliches Wortspiel zwischen ’anāk und ʾānōkî (= Ich) auch in dem Ischtarhymnus K 41, auf den K. gar nicht eingeht. Das akkadische anāku bedeutet hier, wie aus dem Parallelbegriff »Bronze« hervorgeht, eindeutig Zinn.

Was die fünfte Vision (Amos 9,1–4) anbelangt, so hält K. es für naheliegend, sie (wie Waschke 1994; Becker 2001; Behrens 2002: Gertz 2003 u. a.) »als Nachtrag zu den ersten vier Visionen aufzufassen« (250). Während K. sich sonst mit den diversen Deutungsansätzen beschäftigt und diese ausführlich diskutiert, findet hier bedauerlicherweise keine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Positionen statt, die für eine Ursprünglichkeit der Vision eintreten und diese entsprechend der Israelstrophe im Völkerspruchzyklus als Höhepunkt des Visionszyklus ansehen (vgl. dazu schon Gese 1981; Blum 2007 u. a.). Die Annahme, dass hier aufgrund motivlicher Parallelen »Anspielungen« (250) auf frühere Texte (gemeint sind sicherlich: im heutigen Buchaufbau frühere Texte) vorlägen, von denen die fünfte Vision abhängig sei, und daher mit einem Nachtrag (250) zu den ersten vier Visionen zu rechnen ist, überzeugt wenig. So ist z. B. der Hinweis auf die »beißende Schlange« in Amos 5,19 nicht eigentlich eine Parallele zu Amos 9,3, obwohl dort auch deren Beißen erwähnt wird (vgl. dazu K.s Ausführungen 251 f.). Denn in der bildhaften Kurzgeschichte Amos 5,19 handelt es sich um eine Landschlange, die einen ins Haus Flüchtenden beißt, als er schon den rettenden Raum sicher erreicht zu haben glaubt (vgl. dazu H. Weippert 1985), in dem kosmologisch ausgerichteten Text Amos 9,3 aber um eine Seeschlange als göttliches Gerichtswerkzeug, der erst noch der Befehl zum Beißen gegeben werden muss, wenn die – in der Realität unmögliche – Flucht auf den Meeresgrund von Erfolg gekrönt wäre. Ähnlich ist es mit dem Gipfel des Karmel, der in Amos 9,3 wegen seiner Unerreichbarkeit und des dort sich ausbreitenden Walddickichtes als potentieller Fluchtpunkt und Versteck erscheint. In Amos 1,2 dagegen ist vom vertrockneten Gipfel des Karmel die Rede, also von abgestorbenen Wäldern als Zeichen des Gerichts und des Untergangs, die gerade keine Möglichkeit des Verstecks bieten.

Etwas irritierend und die Benutzbarkeit hindernd ist, dass manche Literaturnachweise nicht ins Literaturverzeichnis aufgenommen wurden, sondern nur in den Fußnoten zu finden sind, zumal sich dadurch nicht wirklich eine Verringerung der Druckseiten erzielen lässt.

Insgesamt hat K. einen äußerst anregenden Kommentar vorgelegt, der viele neue Aspekte der Interpretation enthält und wichtige Anstöße zur eigenen Weiterarbeit an diesem aufregenden und bis heute aktuellen Prophetenbuch gibt.