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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1028–1030

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Albertz, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Josephsgeschichte im Pentateuch. Ein Beitrag zur Überwindung einer anhaltenden Forschungskontroverse.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XII, 178 S. = Forschungen zum Alten Testament, 153. Lw. EUR 104,00. ISBN 9783161600999.

Rezensent:

Kristin Weingart

»Theologengezänk« um »eine Perle der Weltliteratur«? Es ist u. a. die Sorge, die anhaltende exegetische Kontroverse um die Josephsgeschichte könne der alttestamentlichen Wissenschaft in der Außenwahrnehmung durch andere Disziplinen nachhaltig schaden, die Rainer Albertz als Motivation zur vorliegenden Studie anführt. Intradisziplinär geht es ihm aber auch um die Leistungsfähigkeit der historisch-kritischen Exegese: Sollte diese ausgerechnet an der Frage nach der sachgemäßen Auslegung der Josephsgeschichte an ihre Grenzen gelangen? Damit möchte sich A. nicht abfinden und legt einen Vermittlungsvorschlag vor.

Die »Einführung« (1–3) skizziert die Grundlinien des nun schon länger bestehenden Gegenübers zweier konträrer »Auslegungstypen«: Die Josephsgeschichte gehört in die Diskurse der Königszeit und dient der Reflexion und Legitimation des Nordreichs- königtums im Modus einer Ursprungsgeschichte, so Auslegungstyp 1. Dagegen liest Auslegungstyp 2 die Erzählung als eine Dias-poranovelle, die die Erfahrung des Exils im Hintergrund hat und über die Diasporaexistenz als Zukunftsperspektive für Israel reflektiert.

A.’ materiale Argumentation erfolgt methodisch transparent in vier Schritten – Literarkritik, Erhebung der Thematik der maßgeblichen Schichten, Datierung, weitere Überlieferungsgeschichte. Als Ausgangspunkt der Literarkritik wählt er zwei Textbereiche, die schon länger in der Diskussion stehen: Gen 39 und 47,13–26 (Abschnitt 1, 5–25). Sorgsam die Argumente und Textbeobachtungen abwägend, die für oder gegen die Zugehörigkeit von Gen 39 zur originären Josephsgeschichte vorgebracht wurden, plädiert A. für den sekundären und frühestens exilischen Charakter von 39,2–23. Gen 47,13–26 ist für A. ebenfalls ein – im Vergleich zu Gen 39 freilich älterer – Einschub. Über Gen 47,13–26 und seine Seitenstücke (z. B. 41,55–56; 50,15–21) werden erste Konturen einer redaktionellen Bearbeitung der ursprünglichen Josephsgeschichte erkennbar. Diesen Spuren weiter nachgehend (Abschnitt 2, 27–38) und die ältere These aufnehmend, dass die Josephsgeschichte zwei Höhepunkte in Gen 45 und Gen 50 aufweise, vermutet A. den älteren Schluss in Gen 47,12.27a. Hier sei nach der Versöhnung der Brüder und der Sicherstellung der Versorgung der Jakob-Familie ein »völliger Abschluss der Handlungskette« erreicht (29). Die ursprüngliche Josephsgeschichte finde sich also im Bereich Gen *37,3–47,12.27a (für die genaue Abgrenzung, vgl. 30 bzw. 150 f.). Auf den redak-tionellen Ausbau zur erweiterten Josephsgeschichte gingen dann neben Gen 47* vor allem der Abschluss in Gen 50* zurück (genaue Abgrenzung, 37 bzw. 150 f.).

Ausführlich diskutiert A. die Thematik der Josephsgeschichte in ihren beiden literargeschichtlichen Stufen. Dazu bietet er ein breit entfaltetes close reading der ursprünglichen Josephsgeschichte (JG) und stellt vor allem die »familiengeschichtliche Erzählebene« heraus (Abschnitt 3, 39–67). Beiden konkurrierenden Auslegungstypen schreibt er dabei ins Stammbuch, die grundlegenden Themen der familiären Solidarität und Verantwortlichkeit zu wenig zu beachten (52 f.). Gleichwohl habe die familiengeschichtliche Ebene auch eine politische Dimension, die sich etwa im Herrschaftsanspruch Josephs aber auch in der Interaktion von familiärer und staatlicher Welt bei den Themen Versorgung bzw. Willkürerfahrungen zeige. Nicht ignoriert werden dürfe daher die »ursprungsgeschichtliche Erzählebene«, über die die JG orientierend auf die soziale Realität von Erzähler und Adressaten bezogen sei. Für die methodische Herausforderung der Identifikation derartiger ursprungsgeschichtlicher Erzählzüge benennt A. zwei Kriterien: den Plot der Erzählung sowie bewusst gesetzte Fenster in die Welt des Erzählers. Ersterer führe auf das Thema der josephitischen Herrschaft, Letzteres auf die Verbindung dieser mit dem Königtum (37,8a), das es in der erzählten Welt der Jakobfamilie noch gar nicht gab. Beides weist für A. in die Richtung des Auslegungstyps 1. Dann ist aber die durch Auslegungstyp 2 aufgeworfene Kontrollfrage nötig, ob die Rolle Ägyptens nicht ebenso auf die textexterne Realität des Erzählers und seiner Adressaten verweise, mithin eine ägyptische Diaspora vorausgesetzt sei. Diesbezüglich kommt A. zu einem abschlägigen Urteil: Das Ägyptenmotiv sei für den literarischen Plot der JG unverzichtbar, habe aber in seiner Zeichnung (Menschenraub eines Individuums, keinerlei ethnische oder religiöse Vorbehalte, auf die Hungersnot begrenzter Ägyptenaufenthalt) wenig mit Deportations- und Exilserfahrungen zu tun. Die Wahl Ägyptens als Handlungsort hänge vielmehr damit zusammen, dass es als plausibler Zufluchtsort in Dürreperioden bekannt war und – noch wichtiger – dass Ägypten als Beispiel für einen gelungenen Staat in den Blick komme und darüber mit der Herrschaftsthematik der JG konvergiere. In der EJG gewinne das Ägyptenmotiv stärker an Gewicht (Abschnitt 4, 69–84), aber gerade nicht so, dass Ägypten ein positiv gezeichneter Lebensraum wäre. Vielmehr trübe sich hier die Zeichnung des ägyptischen Staates ein und werde in politischer wie kultureller Hinsicht von einem israelitischen Herrschaftsideal her problematisiert.

Spätestens mit dem auf S. 84 f. gebotenen Zwischenresümee ist deutlich, dass A. den Auslegungstyp 1 favorisiert. Dieses wird mit der Diskussion der Datierung (Abschnitt 5, 87–123) weiter untermauert. Dazu unterzieht er die Argumente, die für eine nachexilische Ansetzung vorgebracht wurden, einer gründlichen Kritik. (Auch jenseits der konkreten Fragestellung ist dieser Abschnitt ein absolut lesenswertes Lehrstück über die methodischen Möglichkeiten und Grenzen der Datierung alttestamentlicher Texte.) A. plädiert schließlich für eine vorexilische Datierung von JG sowie EJG. Die Entstehung der JG vermutet er in der Omridenzeit in der Mitte des 9. Jh.s v. Chr. Hier seien die Legitimation staatlicher Herrschaft, die pan-israelitische Idee, das positive Ägyptenbild und die religiöse Unaufgeregtheit plausibel. Die gegenüber der JG kritischere Perspektive auf Ägypten und die stärkere Profilierung der israelitischen Identität in der EJG passe dagegen besser in die Zeit Jerobeams II., d. h. die erste Hälfte des 8. Jh.s.

In Abschnitt 6 (125–151) zeichnet A. den weiteren Weg der Josephsgeschichte innerhalb der Literargeschichte des Alten Testaments nach. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei übergreifende Modellbildungen vorausgesetzt sind, die sich nicht allein aus der Analyse der Josephsgeschichte ergeben. Bei A. sind es nach Abschluss der EJG weitere sieben formative Phasen, die textliche Spuren innerhalb von Gen 37–50 hinterlassen haben – von der Verbindung der EJG mit der Jakobgeschichte (Gen 48*) bis zu einer nichtpriesterlichen Pentateuchredaktion in Gen 49*. Die v.a. in Kap. 39 greifbaren Diasporabezüge sieht er im Zusammenhang mit der Einbindung der EJG in die Erzelterngeschichte (bei A. »Vätergeschichte 1«) in den Josephstoff eingetragen.

Eine Schlussbetrachtung (Abschnitt 7, 153–162) fasst das Erreichte prägnant zusammen. Das Ergebnis fällt hier eindeutig aus: Auslegungstyp 1 wird »bestätigt, ausgebaut und modifiziert« (162). Auch für Auslegungstyp 2 sieht A. Anhaltspunkte, freilich allein in späteren, nachgetragenen Textpassagen. Stellen- und Autorenre-gister erschließen den Band.

Inwieweit die von A. vorgebrachten Argumente die Befürworter von Auslegungstyp 2 überzeugen werden, darüber möchte die Rezensentin als Vertreterin von Auslegungstyp 1 nicht spekulieren. Die Argumente liegen jedenfalls dank der gründlichen und umsichtigen Aufarbeitung der Diskussion nun klar auf dem Tisch. Ebenso hilfreich sind A.’ Hinweise auf jene Fälle, wo die Fokussierung auf zwei konträre Deutungsoptionen zu Überbetonungen führen oder gar eine nuanciertere Textwahrnehmung verstellen kann. Insbesondere Gen 39 mag sich hier als Schlüsseltext erweisen, zumal A. zuzustimmen ist, dass die Implikationen der jeweiligen literarkritischen Entscheidung für beide Auslegungstypen in der Diskussion noch unterbelichtet sind (12–14). Zumindest hier hat die historische Exegese also ihr Potential noch nicht erschöpft.

Die Studie bietet somit alles andere als »Theologengezänk«, vielmehr eine Auslegung nach allen Regeln der exegetischen Kunst, die – so steht es zu hoffen – der weiteren Diskussion konstruktive Anstöße geben wird. Wie hier methodisch fundiert und argumentativ transparent um die sachgemäße Auslegung eines biblischen Textes gerungen wird, könnte dann auch die Vertreter und Vertreterinnen anderer philologischer Disziplinen beeindrucken.