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Ausgabe:

November/2022

Spalte:

1020–1022

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dimbath, Oliver, Friedrich, Lena M., u. Winfried Gebhardt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Hölle der Spätmoderne. Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis.

Verlag:

Bielefeld: Transcript Verlag 2021. 388 S. m 15 Abb. = Kulturen der Gesellschaft. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783837652161.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Herausgeberin und Herausgeber sind bzw. waren am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz tätig. Auch die übrigen Beiträgerinnen und Beiträger des Sammelbandes sind fast ausnahmslos Soziologen an deutschen Hochschulen. Bemerkenswert scheint mir allein schon die Tatsache, dass heute eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema Hölle erscheint, ohne dass ein theologischer Fachvertreter mitwirkt (wobei einzelne Artikel erkennen lassen, dass ihre Autoren theologische Bildung aufweisen). Damit bestätigt sich die von Manfred Josuttis schon vor Jahren aufgestellte These, wonach Themenbereiche, die von der Theologie aufgegeben werden, bei säkularen Anbietern, hier: im Raum der Wissenschaft, wieder auftauchen. Offensichtlich ist den Herausgebern die Delikatesse dieses Vorgangs bewusst, zumal sie in der Einleitung ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Theologien der monotheistischen Weltreligionen von Judentum, Christentum und Islam das Interesse an der Hölle verloren hätten – und die Hölle heute lediglich noch in den fundamentalistischen Gruppen in den genannten Religionen thematisiert würde. Um dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu entgehen, macht die Einleitung deutlich, dass es in dem Buch gerade nicht um eine (fundamentalistisch-)theologische, sondern um eine ausschließlich soziologische Betrachtung der Hölle in spätmodernen Gesellschaften gehen soll.

Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass sich die Rede von der Hölle in diesen Gesellschaften wachsender Beliebtheit erfreut. Allein die Beobachtung, dass die Höllenmetapher zunehmend für letztlich unbegreifliche gesellschaftliche Schreckenserfahrungen (wie die der Hölle von Auschwitz) genutzt wird, rechtfertigt in den Augen der Herausgebenden die vorgelegte Untersuchung. Dazu kommt noch die Verwendung der Metapher im Hinblick auf alltägliche Schrecken des Individuums und schließlich das schon länger zu beobachtende Spiel mit der Hölle in der Populärkultur. Von diesem Hintergrund her definieren die Herausgebenden die spätmoderne Rede von der Hölle als Ausdruck eines »emotional belastenden Modus subjektiven Erlebens« – und zwar in vierfacher Hinsicht: als Eindruck eines umfassenden Kontrollverlusts, als Erfahrung von Ausweg- bzw. Hoffnungslosigkeit, als ein Erleben, das auf unabsehbare Zeit fortbesteht, aber in der Regel dennoch begrenzt ist, und als Erfahrung, die einen konkreten Raum- bzw. Sozialbezug aufweist.

Das Buch will aus kultur- und wissenssoziologischer Sicht eine Bestandsaufnahme bieten, wie in der Spätmoderne von der Hölle geredet wird. Die Herausgebenden gehen dabei von sechs Grundannahmen aus: 1. der Universalität von Weiterlebensvorstellungen, wobei Ewigkeitsannahmen zusammen mit der Dichotomisierung des Jenseits in Paradies und Hölle als »Erfindung von Hochkulturen« verstanden werden müssen; 2. dass sich die Vorstellung von einer Verknüpfung von diesseitiger Schuld und jenseitiger Qual nur im christlichen Abendland findet; 3. dass mit der Zivilisierung und Disziplinierung der Massen seit der Neuzeit ein innerweltlicher Schuldkult begründet wird, der zum Verzicht auf eschatologische Höllenstrafen führt; 4. dass dabei die Interpretation der Hölle als Ort selbstbestimmter, sogar lustvoller Freiheit an Ansehen gewinnt; 5. dass die Hölle ins Diesseits verlagert wird und damit ihren Anspruch auf Ewigkeit verliert und stattdessen zum Sinnbild einer überwindbaren biografischen Episode wird; 6. dass die Hölle heute als Kollektivhölle (etwa in Form von Konzentrationslagern) oder als subjektive Individualhölle auftritt.

Ausgehend von diesen Grundannahmen rekonstruiert das Buch den Bedeutungswandel der Rede von der Hölle in der Spätmoderne und will die Folgen für das Selbstverständnis von Individuen und Gesellschaften herausarbeiten. Es ist in fünf Abschnitte gliedert. Angesichts der Fülle der Artikel (insgesamt 14) kann ich im Folgenden nur den Inhalt der einzelnen Abschnitte zusammenfassen. Die Beiträge des 1. Abschnitts dienen dazu, das besondere Profil der spätmodernen Ansicht von der Hölle auf dem Hintergrund ihrer theologischen Deutung herauszuarbeiten. Die heutige Hölle zeichnet sich durch Veralltäglichung, Individualisierung und Trivialisierung der traditionellen Vorstellungen aus. Der 2. Abschnitt handelt vom Diesseits der Hölle in Form von Situationen absoluter Unerträglichkeiten wie Krieg und KZ. Im 3. Abschnitt wird die Hölle der sozialen Beziehungen thematisiert (z. B. in Pflegeheimen und in der Wirtschaft). Der 4. Abschnitt fragt nach der Qualität und der Quantität subjektiv erlebter Höllen. Besonders eindrücklich sind dabei zwei Beispiele von Menschen, die krankheitsbedingt durch den Zwang des totalen Vergessens bzw. vollständigen Erinnerns subjektiv eine alltägliche Hölle erfahren. Der letzte Abschnitt des Buches thematisiert die Hölle im Kontext der Ästhetik: in der Mode, der Literatur, der Musik und im Film.

Abgeschlossen wird der Band von einem Epilog der Herausgeberin Lena M. Friedrich, der unter dem Titel »Die Veralltäglichung der Höllenmethaphorik in spätmodernen Zeiten« die gewonnenen Erkenntnisse bündelt. Friedrich geht davon aus, dass die Hölle sich heute als säkularisiert, verweltlicht und zugleich vermenschlicht darstellt. Die Frage ist für sie, ob die Hölle mit dem Verlust ihrer transzendenten Dimension auch ihre Schrecken verloren hat? Die Herausgeberin kommt zu dem umgekehrten Schluss: Gerade durch ihre Säkularisierung entfalte die Hölle im gegenwärtigen Alltag eine »besondere Qualität des Unerträglichen« – und zwar gleichermaßen in außeralltäglichen (z. B. Krieg) und inneralltäglichen Erfahrungen (z. B. Sinn- und Perspektivlosigkeiten). Die mittelalterliche Purgatorisierung der Hölle hatte zu ihrer Zähmung geführt, indem sie diese ihrer Endgültigkeit beraubte. Mit der Verwendung der Höllenmetapher in der Spätmoderne sei die Hölle jedoch zurückgekehrt als Illustration unvorstellbarer Leiden und Schrecken und mit der Möglichkeit, diese konkret im Hier und Jetzt zu erfahren. Sie stehe heute als Chiffre für eine zeitlich befristete Phase der Unverträglichkeit, die sehr unterschiedliche Gesichter annehmen können. Die spätmoderne Hölle könne, anders als die theologisch qualifizierte Hölle, überwunden werden – allerdings erst durch den persönlichen Tod.

Ein nicht zuletzt für Theologinnen und Theologen sehr anregend zu lesendes Buch liegt vor, das viele – über das Thema Hölle hinausführende – grundlegende Einsichten in die gesellschaftliche und individuelle Gemütslage der Spätmoderne gewährt. Der Band legt die Schlussfolgerung nahe, dass mit der Abschaffung der theologischen, transzendent verstandenen, Hölle, diese nicht etwa verschwunden, sondern lediglich in neuer Gestalt in die Gegenwart zurückgekehrt ist. Die Dispersion der Hölle in sehr unterschiedlichen Räumen und Gestalten ist dabei nur schwer zu ertragen. Besonders bedrückend erscheint die Vorstellung, dass der spätmoderne Mensch erst mit dem eigenen Tod seiner jeweiligen Hölle zu entrinnen vermag. Ist es angesichts dieser traurigen Hoffnung nicht höchste Zeit, die theologische Hölle zu rehabilitieren, und gleichzeitig deutlich zu machen, dass der christliche Glaube das wirkmächtige Mittel ist, diese zu überwinden?