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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

996-997

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Andacht verstehen und gestalten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 279 S. = gemeinsam gottesdienst gestalten, 34. Geb. EUR 26,00. ISBN 9783374070732.

Rezensent:

Markus Schmidt

Die (evangelische) Andacht stellt einen in der Theologie unterrepräsentierten und kaum erforschten Gegenstand dar. Daran hat sich auch seit dem Erscheinen der Vorform des vorliegenden Bandes am Ende des letzten Jahrtausends (Wolfgang Ratzmann, Der kleine Gottesdienst im Alltag. Theorie und Praxis evangelischer Andacht [Beitrage zu Liturgie und Spiritualität 3], Leipzig 1999) bis heute wenig geändert. Praktisch-theologische Fachliteratur und gemeindepraktische Studienliteratur zur Andacht als gottesdienstlicher Form gibt es so gut wie nicht. Insofern ist es unbedingt zu begrüßen, dass diese Neuausgabe in überarbeiteter und ergänzter Form vorliegt. Der nun deutlich funktionalere Titel (»verstehen und gestalten«) nimmt dem Auftritt des Buches aber seine liturgische Pointe (Der kleine Gottesdienst im Alltag).

»Wenn wir heute Andachten gestalten, werden wir weniger danach fragen müssen, ob alle ›Formelemente‹ in einer Andacht vereint sind, sondern ob in ihr die Botschaft von der Liebe Gottes ohne Vorbedingungen zum Zuge kommt. Dieser Inhalt macht die Andacht ›evangelisch‹ – innerhalb und außerhalb der evangelischen Kirche.« (106) Damit kommt der Vf. einer rein pragmatischen Lösung der Aufgabe der Andachtsgestaltung (Wann wird was wo, wie, mit und von wem gemacht?) zuvor. Inhalt und Form werden im bewährten Zweischritt von Theorie und Praxis aufeinander bezogen, indem im ersten Teil des Buches zunächst nach den inhaltlich-theologischen Bedingungen und im zweiten Teil nach den Gestaltungsmöglichkeiten gefragt wird.

Der Vf. gliedert den inhaltlichen Zugang (1. Teil) in bester praktisch-theologischer Methodik: Zunächst wird anhand von gegenwärtigen Erfahrungen mit unterschiedlichsten Formen von Andachten ein empirischer Bezug hergestellt. Zweitens werden Begriff und Bedeutung von »Andacht« reflektiert, bevor drittens ein historischer Durchgang durch 2000 Jahre Andachtsgeschichte die Phasen ihrer Entwicklung entfaltet. Dabei hat der Vf. – der als Liturgiker den lutherischen Gottesdienst im Barock erforscht hat und als Kruzianer selbst Kenner jener geistlichen Musik ist – das Spektrum durch einen neuen Fokus auf das Barockzeitalter (evangelische Musikkultur, Andacht im nachreformatorischen Katholizismus, Barockpietismus) solide erweitert. Im vierten Abschnitt werden die Kontexte gegenwärtiger gesellschaftlicher und reli- giöser Bedingungen (Spiritualität, Säkularität, Risikogesellschaft (U. Beck), Erlebnisgesellschaft (G. Schulze), Beschleunigung (H. Rosa) und Lockdown) ausführlich reflektiert und im Vergleich zur Ausgabe von 1999 deutlich erweitert. Dabei werden neuere Erkenntnisse der Religionssoziologie und der theologischen Spiritualitätsforschung aufgenommen sowie Bezüge zu den Bedingungen und Folgen der Corona-Pandemie hergestellt. Der Vf. zeigt anhand von fünf Kernmerkmalen evangelischer Spiritualität, was eine Andacht evangelisch macht: Wort, Rechtfertigung, das Verhältnis von Amtsträgern und Laien, Vielfalt sowie christliche Lebensgestaltung.

Der auf die Andachtsgestaltung (2. Teil) bezogene Part befasst sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten gestalterischer Formen. Indem auf Rahmenbedingungen, Elemente, Ideenfindung und Andachtstypen eingegangen wird, erweist sich die Neuausgabe ebenso wie ihre Vorgängerin als praxisrelevantes Buch. Im Vergleich zur Ausgabe von 1999 fällt insbesondere die Reflexion durch die Corona-Pandemie entstandener neuer Formen (Andacht als Live-Chat, Klagezeit, Andachtsweg) ins Auge. Außerdem wird stärker als bisher die rituelle Gestalt von Andachten in den vielfach möglichen Formelementen von traditionell bis experimentell in den Blick genommen und damit Andacht nicht nur vom zentralen Verkündigungsteil her verstanden (diese Tendenz war in der Erstausgabe zu beobachten). Interessanterweise gewichtet der Vf. dabei auch die Rahmenbedingungen der Andacht neu: Während bislang der Raum an erster Stelle (vor Zeit, Gruppe und Anlass) stand, nimmt nun der Anlass diese Position ein. Zudem wird mit dem neu hinzugekommenen Fokus auf die Leiterin bzw. den Leiter einer Andacht eine rollenbezogene Reflexion eingebaut – in seelsorglicher und gemeindeleitender Absicht, da angesichts der zu kritisierenden protestantischen Pfarrerzentrierung und der künftig immer deutlicher werdenden Relevanz des Ehrenamtes das urevangelische Allgemeine Priestertum aller Gläubigen seine Bedeutung gerade beim »kleinen Gottesdienst im Alltag« zu entfalten vermag.

»Viele Beispiele in Predigten und Andachtsreden leiden darunter, dass sie Nebengedanken ausschmücken, für die zentrale Aussage aber nichts austragen.« (201) Dem Vf. gelingt es, an den Kern der Andacht heranzuführen: die gottesdienstliche Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Erfahrungsgesättigt wird immer wieder praktisch-theologisch reflektiertes Weisheitswissen eingespeist. So bleibt der Neuauflage zu wünschen, dass sie Leserinnen und Leser findet, welche anhand dieses Bandes ihre eigene Praxis reflektieren, die methodische Bandbreite praktisch-theologischen Arbeitens studieren und welche angeregt werden, selber Andachten zu gestalten. »Zeit für Andacht kann ein Beleg für Freiheit sein.« (169)