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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

992-996

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Karle, Isolde, u. Niklas Peuckmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Seelsorge in der Bundeswehr. Perspektiven aus Theorie und Praxis.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 310 S. Kart. EUR 30,00. ISBN 9783374066698.

Rezensent:

Hartwig von Schubert

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Thonak, Sylvie, u. Gerd Theißen: Militärseelsorge. Das ungeliebte Kind protestantischer Friedensethik? Münster u. a.: LIT Verlag 2020. 261 S. = Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie, 25. Kart. EUR 34,90. ISBN 9783643147851.


Der Sammelband von Isolde Karle und Niklas Peuckmann soll die Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Institut für Religion und Gesellschaft in Bochum dokumentieren, ergänzt um weitere Beiträge zum Themenfeld. In ihrer Einführung betonen die beiden Herausgeber anlässlich der Vorstellung ihres eigenen Beitrages zu dem Band, »wie gefährdet und zugleich essentiell die Unabhängigkeit der Militärseelsorgerinnen und -seelsorger für die seelsorgliche Begleitung von Soldatinnen und Soldaten ist« (10). Dass die evangelische Kirche und die deutschen Streitkräfte auch bei intensiver Nähe der handelnden Personen unabhängig voneinander bleiben, dürfte in einem modernen säkularen Staat beiderseits zu den programmatischen Selbstverständlichkeiten gehören. Dass aber die Unabhängigkeit der kirchlichen von der militärischen Praxis in demselben Atemzug für gefährdet gehalten, in dem sie für zugleich wesentlich erklärt wird, ist eine starke These. Worauf sich diese Vermutung stützt, ob sie sogar die zentrale Hypothese des genannten Forschungsprojektes darstellte und wie diese möglicherweise methodisch überprüft wurde, wird in der Einleitung nicht ausgeführt.

Ein erster Teil zur Seelsorge als Kernaufgabe der Militärgeistlichen versammelt fünf Beiträge: (1) Seelsorge an Soldatenfamilien, (2) Stellung von Frauen in den Streitkräften und Konsequenzen für ihre seelsorgliche Begleitung, (3) Begleitung bei Traumafolgestörungen, (4) Heroismus in staatlichen Sicherheitsorganen, (5) Seelsorge an Bord eines Marineschiffes. Sehr bemerkenswert ist, dass hier Beiträge zu dem sehr umfangreichen Feld von Andacht und Gottesdienst, Bibelarbeit und Kasualien und zur Zusammenarbeit mit Stab, Truppenpsychologie, Militärpolizei und Sanitätsdienst sowie die Mitwirkung an militärischem Zeremoniell nicht auftauchen. Hatten die Herausgeber bei der Konzeption dieses Teiles ein vollständiges Bild von der Militärseelsorge?

Der zweite Teil behandelt die Stellung der Militärseelsorge als Kirche in der Bundeswehr: ihre (1) historischen und (3) zeitgeschichtlichen Hintergründe, (2) die Bedeutung der Ökumene, (4) die Spannung zwischen Autonomie und Abhängigkeit, (5) Leitsätze und (6) Transformation der Militärseelsorge.

Ein dritter Teil widmet sich der Rolle der Militärseelsorge im Rahmen der Ethischen Bildung in der Bundeswehr: (1) Sie soll staatliches Handeln nicht legitimieren, wohl aber für ethische Fragen sensibilisieren, (2) sie soll eine Funktion einnehmen als Gesprächs- und Kooperationspartner in der Persönlichkeitsbildung von Soldaten, (3) sie erteilt den Lebenskundlichen Unterricht. Zwei weitere Beiträge erkunden (4) den Ort der Militärseelsorge im Rahmen öffentlicher Theologie sowie (5) die seelsorgliche Praxis aus ethischer Perspektive.

Im Anhang schließlich befinden sich zehn sehr ausführliche vom Evangelischen Militärbischof in Auftrag gegebene und vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr herausgegebene Thesen zum Seelsorgeverständnis.

Insgesamt haben 17 Personen Beiträge geliefert, außer zwei Soziologen sind alle anderen Theologen. In welchem Sinne es sich bei jenem in der Einleitung genannten Forschungsprojekt tatsächlich um Forschung im wissenschaftlichen Sinne gehandelt hat und welche Erkenntnisse dabei gewonnen wurden, bleibt bis zuletzt ungeklärt. Insofern soll im Folgenden noch einmal abschließend der gesamte Band als Sammlung lose aneinandergereihter und aufeinander abgestimmter Beiträge gewürdigt werden. Zwei Fragen werden herausgestellt und zur weiteren Diskussion empfohlen: Welches Bild haben die Autoren eigentlich von der Bundeswehr? Welche soliden wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen über die evangelische Militärseelsorge vor?

Auf der Rückseite des Umschlages ist die Rede von der »Lebenswelt Bundeswehr«, in der sechsten These im Anhang wird die Bundeswehr in krassem Gegensatz dazu als »totale Institution« bezeichnet. Was soll nun gelten? Möglicherweise stimmen beide Aussagen nicht. Mit ziemlicher Sicherheit fällt die Bundeswehr als eine staatliche Organisation soziologisch gerade nicht unter die Kategorie »Lebenswelt« im Sinne eines präreflexiven Hintergrundes menschlicher Kommunikation, sondern unter die der »Institution« im Sinne eines Satzes von klar definierten Regeln und Ressourcen, auf die sich Menschen in ihrem gemeinsamen Handeln beziehen und die bei Angehörigen der Streitkräfte auch einen Teil ihrer gemeinsamen Lebenswelt bilden können. Diesen institutionellen Charakter im Fall der Bundeswehr nun wiederum im Sinne Erwing Goffmans als »total« zu bezeichnen, ist so sehr erläuterungsbedürftig, dass die Herausgeber den Begriff in einer Fußnote zur These 6 ausführlich erläutern. Gemeint sei eine »allumfassende Tendenz« während eines Einsatzes oder eines Manövers. Dann aber ist auch ein Krankenhaus für einen Arzt während seiner Dienstzeit und für den Patienten während des Krankenhausaufenthaltes eine totale Institution ebenso wie ein Reiseflugzeug für Besatzung und Passagiere für die Dauer eines Fluges. Das aber hat Goffman vermutlich nicht gemeint, sondern Klöster, Gefängnisse und geschlossene Psychiatrien, in denen Menschen sehr lange Phasen ihres Lebens verbringen. Wer die deutschen Streitkräfte in diesem Sinne als totale Institution bezeichnet, liefert eine Karikatur, die die Unabhängigkeit der in ihr wirkenden Professionen dann freilich als gravierendes Problem darstellen muss.

Drei Beispiele für die zahlreichen auch wissenschaftlich informativen Beiträge des Bandes stammen aus der Feder der Soziologin Meike Wanner, der Kirchenhistorikerin Angelika Dörfler-Dierken und des Systematikers Friedrich Lohmann. Wanner stützt sich sowohl auf die programmatischen Grundlagen des Lebenskundlichen Unterrichtes als auch auf empirische sozialwissenschaftliche Studien über die erfreulich hohe Akzeptanz dieses Unterrichtes bei ca. 1.900 befragten Soldaten. Dörfler-Dierken stellt die Funktion der Militärseelsorge in den Kontext der kooperativen Trennung von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland sowie der Neukonzeption der Bundeswehr im Rahmen der »Inneren Führung«, referiert den derzeitigen Forschungsstand zur deutschen Militärseelsorge und schließt mit aktuellen Herausforderungen. Lohmann fragt nach den ethischen Implikationen der seelsorglichen Begleitung von Soldaten durch Militärgeistliche als assistierte Selbstklärung, Gewissensschärfung und solidarische Kritik am institutionellen Rahmen.

Wer sich also über die Arbeit der Militärseelsorge in Deutschland sowohl als »Kirche unter den Soldaten« sowie als »exemplarische Präsenz des Zivilen im Militärischen« ein Bild machen möchte, ist mit dem Sammelband trotz einiger Lücken gut bedient.

Warum sollte die protestantische Friedensethik die Militärseelsorge als ihr Kind betrachten und durch Liebesentzug bestrafen? Vielleicht ist die Militärseelsorge eher ein ungeliebtes Kind der evangelischen Kirche ? Die Vermutung wird von den beiden Autoren – Sylvie Thonak ist Oberstudienrätin an einem Gymnasium in Baden-Württemberg, Gerd Theißen ist emeritierter Professor für Neues Testament – in der Einleitung bestätigt: »Kriegsdienstverweigerung und Militärseelsorge sind zwei ›Kinder‹ des Protestantismus nach 1945. Der Pazifismus ist für viele das Lieblingskind, die Militärseelsorge eher ein Stiefkind.« (13) Zugleich jedoch setzen sie das Geschwisterverhältnis parallel zu einer »komplementären Friedensethik«, die »pazifistisches Engagement für den Frieden« ebenso für notwendig erachtet wie »eine militärische Verteidigungsfähigkeit« (2). Genau diese Sicht vertritt auch die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Friedensdenkschrift von 2007, sie ist folglich dem Selbstverteidigungsrecht souveräner Staaten ebenso wie der Evangelischen Militärseelsorge gegenüber keineswegs stiefmütterlich eingestellt.

Der Band der Autoren ist nach zwei Vorworten und einer Einleitung in 13 Ab­schnitte gegliedert. Die ersten drei Abschnitte widmen sich auf 65 Seiten Ergebnissen der neutestamentlichen Exegese zum Topos von Krieg und Frieden. Die folgenden acht Abschnitte befassen sich auf insgesamt 126 Seiten mit der gegenwärtigen Struktur und Praxis der Militärseelsorge. Der 12. Ab­schnitt widmet sich mit 32 Seiten noch einmal der christlichen Friedens-ethik unter der Fragestellung »Biblisches Ethos oder modernes Konstrukt?« Der 13. Abschnitt schließt mit dem nochmaligen Hinweis auf den komplementären Charakter der Friedensethik.

Der Bogen ist also weit gespannt von der neutestamentlichen Exegese über die Friedensethik der Evangelischen Kirche in Deutschland und der evangelischen Theologie nach 1945 bis zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der evangelischen Militärseel­sorge. Den Schwerpunkt bilden die Ausführungen zur Militär­seelsorge, die man im weitesten Sinne der Praktischen Theologie im Dialog mit der kirchlichen Zeitgeschichte und Kirchensozio- logie zuordnen könnte. Sie werden flankiert durch Betrachtungen im Dialog zwischen Exegese und systematischer Theologie.

Welche Absicht verfolgen die beiden Autoren? Auf der Rückseite des Bucheinbandes ist zu lesen: »Unser Anliegen ist: Die evangelische Militärseelsorge darf sich nicht weiter zu einer ecclesiola in ecclesia entwickeln mit der Gefahr, eine ecclesiola extra ecclesiam zu werden. Synodale Strukturen sind dringend zu schaffen. Unsere Hoffnung: Eine in die Gesamtkirche reintegrierte Militärseelsorge wird pazifistische Friedensarbeit als das deutlichere Zeichen für den Frieden respektieren, während Pazifisten lernen können, den noch immer unverzichtbaren Einsatz von Soldaten anzuer-kennen.«

Drei Themen treffen aufeinander. Zum einen geht es um den Nachweis, dass die protestantische Friedensethik in Deutschland in der biblischen Tradition gut begründet ist. Des Weiteren geht es um die Empfehlung, dass auch die Arbeit der Evangelischen Militärseelsorge sich in Form und Inhalt an den friedensethischen Konsens im deutschen Protestantismus nach 1945 halten solle. Drittens wird die Behauptung erhoben, dass genau dies nicht der Fall sei, die gesamte evangelische Militärseelsorge müsse vielmehr zurückgeführt werden auf den Pfad der friedensethischen Tugend.

Der erste Nachweis wird von Gerd Theißen im zwölften Abschnitt noch einmal bündig zusammengefasst; er gibt dort, wenn auch mit einigen besonderen Argumenten, insgesamt den vorherrschenden akademischen und kirchlichen Konsens in dieser Frage wieder. Auch der im zweiten Punkt genannten Empfehlung wird zumindest offen niemand in der evangelischen Theologie und Kirche widersprechen wollen. Es bleibt also der dritte Punkt. Sylvie Thonak äußert den dringenden Verdacht, die Vertreter der evangelischen Militärseelsorge ließen ihren Worten keine Taten folgen. Offen widersprächen sie der genannten Empfehlung zwar nicht, insbesondere die Struktur der Militärseelsorge und das Verhalten von Militärgeistlichen ließen jedoch aktuell auf »Loyalitätskonflikte zwischen kirchlichem und militärischem Auftrag« (19) schließen, die am Ende in den Bruch mit der evangelischen Theologie und Kirche zu führen drohten. Thonak legt in der gemeinsamen Einleitung und in ihren Beiträgen eine Fülle von Indizien zu Erhärtung ihrer Anklage vor, bleibt dabei aber auf der Ebene der anekdotischen Evidenz, die wiederum überlagert wird von etlichen Vorschlägen zur Heilung dieses von ihr ermittelten gravierenden Missstandes. Zu den Indizien zählt Thonack die Doppelspitze in der Militärseelsorge, den doppelten Sprachgebrauch in der Selbstbezeichnung, den Personalschlüssel, das bisherige Monopol der beiden großen Kirchen in der Militärseelsorge, die rein seelsorgliche und nicht auch friedensethische Selbstlegitimation vieler Militärgeistlicher, die legitimierende Funktion der Nähe der Militärgeistlichen zur Truppe, die Agende zur Einführung neuer Militärbischöfe. Zur Behebung und Lösung der von ihr genannten Probleme stellt sie insgesamt 16 Vorschläge zusammen (19–21). Viele ihrer Beobachtungen verdienen gewiss verstärkte Aufmerksamkeit, der Generalverdacht der Illoyalität und der unlauteren, weil verdeckten Positionierung dürften die Angeklagten allerdings nicht allzu sehr zum Dialog ermuntern. Um so begrüßenswerter ist der versöhnliche Schluss:

»Es gibt keine Erfolgsgarantie. Aber wer sich nicht darum bemüht, durch zivile und ggf. auch militärische Friedenseinsätze komplementär den Frieden zu fördern, versagt angesichts einer zentralen Herausforderung unserer Zeit. Dabei sollte bewusst bleiben:Beide komplementäre Wege zum Frieden können inDilemmata führen.Beide können scheitern, beide entsprechen einer realistischen Sicht,beide sindAusdruck von Verantwortungs-ethik. Es ist zu wünschen und noch stärker daran zu arbeiten, dass in der Kirche ein Klima herrscht, in dem sich beide verständigen, verstehen und respektieren.« (259)