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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

991-992

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haußmann, Annette, u. Rainer Höfelschweiger [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Spiritualität und Sinn. Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie im Dialog.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 200 S. EUR 38,00. ISBN 9783374064021.

Rezensent:

Hans-Arved Willberg

Im Februar 2019 fand an der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Fachtagung statt, der die Veranstalter, die auch als Herausgeber dieses ein Jahr später präsentierten Sammelbands mit einigen Tagungsbeiträgen firmieren, den Namen »Von Spiritualität und Sinn – Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie im Gespräch« gegeben hatten. Die Tagung war ein Novum im deutschsprachigen Raum; gar nicht neu war der Fachdialog von Vertretern aus Seelsorge und Psychotherapie, ganz neu jedoch derselbe mit dem Fokus auf der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT).

Katja Dubiski, Theologin und Psychologin in Personalunion, schreibt eingangs über »Grundlegendes zum Verhältnis von Seelsorge und Kognitiver Verhaltenstherapie«. Dubiski zeigt mit guten Argumenten den bisherigen Mangel wie auch die Chancen von Wegen der Integration von KVT und Seelsorge auf, sieht aber kein weiteres Ziel für den Annäherungsprozess auf Seiten der Poimenik, als informiert zu sein. Michael Utsch, Professor für Religionspsychologie und Psychotherapeut, stellt elaboriert und übersichtlich den Werdegang der »spirituellen Wende« in Medizin und Psychotherapie dar und moniert, dass trotz der eindeutigen WHO-Direktive, Spiritualität als zentrales Element heilenden Handelns zu verstehen, in Europa nach wie vor zu starke institutionelle Vorbehalte vertreten werden. Lotte Pummer, wiederum sowohl Theologin als auch Psychologin, baut eine bedenkenswerte Brücke zu einer integrativen Sprachregelung, indem sie vorschlägt, sich interdisziplinär darauf zu verständigen, den Gesichtspunkt der Spiritualität bei Vorgängen der Heilung und Persönlichkeitsreifung unter den Begriff der Selbsttranszendenz zu fassen, der sich gleichermaßen bei Religiösen wie bei Nichtreligiösen verifizieren lasse. Lea Chilian, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelischen Fakultät der LMU, diskutiert das Thema »Spiritual Pain« als Teilaspekt der Spiritual Care. Sie hebt hervor, dass die medizinische Ausblendung der spirituellen Dimension von Schmerz den Leidtragenden nicht hinreichend gerecht werden kann. Die Psychologieprofessoren Johannes Michalak und Thomas Heidenreich als führende Experten für die Therapieformen der »Dritten Welle« stellen diese Entwicklung übersichtlich dar und versuchen nachzuzeichnen, wie es im Westen zur Aufnahme der Achtsamkeitspraxis aus dem Buddhismus gekommen ist. Sie weisen nicht zuletzt auf die signifikanten Schnittstellen mit der christlichen Meditationstradition hin. Die Klinikseelsorgerin Karoline Labitzke widmet sich dem Sinn-Thema der Seelsorge am Lebensende – einen Bezug zur KVT stellt sie nicht her; anders als die Professorin für Praktische Theologie Maike Schult mit dem Beitrag »Für Sinn sorgen? Seelsorge und kognitive Verhaltenstherapie nach traumatischen Ereignissen«, der wie kaum ein anderer in diesem Buch ausschöpft, wie weit die für KVT typische methodische Offenheit in diesem existenziellen Erfahrungsbereich geht, wie innovativ die Therapieentwicklung hierbei ist und wie gut das mit seelsorgerlichen Prioritäten und Inhalten interagiert. Die Verhaltenstherapeutin und Supervisorin Barbara Rabaioli-Fischer spricht sich dafür aus, speziell die spirituellen Bedürfnisse älterer Menschen situationsbezogen in der Psychotherapie ernst zu nehmen. Unter anderem stellt sie fest, dass diese Zielgruppe wenig mit Achtsamkeitsübungen anfangen kann, dafür aber das Beten eine heilsame Ressource für sie sein kann. Das alles steht allerdings in Spannung zu ihrem abschließenden Plädoyer für »maximale professionelle Zurückhaltung« hinsichtlich des Einbezugs von Spiritualität in die Psychotherapie. Warum »maximal«? Henrik Simojoki, Professor für Religionspädagogik, und Jennifer Marcen, theologische Promovendin, bewegen wieder ausführlich das Schmerzthema hinsichtlich der Sinnfrage im Kontext Spiritual Care und kommen dabei auch unter dem Aspekt des Coping in den Dialog mit der KVT, wenn auch nur beiläufig, während Annette Haußmann, mittlerweile Professorin für Praktische Theologie in Heidelberg sowie in KVT ausgebildete Psychologische Psychotherapeutin, in ihrem abschließenden Beitrag »Suche nach Spiritualität und Sinn bei Depression« wieder explizit der Frage »Was können Seelsorge und Kognitive Verhaltenstherapie voneinander lernen?« nachgeht. In ihrem gut strukturierten Artikel weist sie zunächst darauf hin, dass die Poimenik schon in früherer Zeit erstaunliche ähnliche Erkenntnisse und Maßnahmen bei Depression kannte wie die heutige KVT, sodann stellt sie einige integrative Modelle einer spirituell erweiterten KVT bei Depression aus dem englischsprachigen Raum vor und stellt fest, dass in den deutschen Manualen der KVT zur Depression »Religion und Spiritualität kaum eine Rolle« spielen.

Danach präsentiert sie einige derzeitige Konzepte zum Umgang mit Depression aus der deutschsprachigen Poimenik und hebt hervor, dass ein wesentlicher Schnittpunkt seelsorgerlicher und therapeutischer Zuwendung in der Erfahrung eines hilfreichen »Beziehungsangebots« besteht. Sie konstatiert, dass in der amerikanischen Literatur »eine Rollenvermischung zwischen geistlicher Begleitung, spiritueller Einflussnahme und therapeutischer Rolle« im deutlichen Unterschied zur hiesigen Szene »kaum thematisiert« wird; ein Mangel jener Literatur liege allerdings darin, dass sie »theologisch oft pauschal und vereinfachend« auftrete. Haußmanns Beitrag ist der wohl mutigste in diesem Band. Sie denkt voraus in Richtung auf eine fruchtbare Durchdringung von KVT und Seelsorge um der Notwendigkeit des Hineinnehmens der Spiritualität willen, wobei die sinnvollen Grenzen durchaus nicht verschwinden, aber doch sehr transparent werden.