Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

989-991

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Glatz, Winfried

Titel/Untertitel:

Eine unstete Beziehung. Die homiletische Rezeption psychologischer und psychotherapeutischer Konzepte dargestellt anhand wesentlicher Ausprägungen des 19. und 20. Jahrhunderts und weitergeführt am Beispiel hypnotherapeutischer Interventionen. M. e. Einleitung v. F. Schulz v. Thun, A. Denecke.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. X, 422 S. m. 7 Abb. u. 4 Tab. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 98. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783525560471.

Rezensent:

Martin Scheidegger

Das Buch stellt die publizierte Dissertation von Winfried Glatz dar, zu welcher er aus biographischem Anlass geführt wurde. Er studierte evangelische Theologie sowie Psychologie im Nebenfach, hat eine Ausbildung in Hypnotherapie und arbeitet als Krisenberater und als Pastor. Er bemerkte, wie die theoretische Beschäftigung und praktische Erfahrung mit psychotherapeutischen Methoden seine Predigtpraxis veränderten. Nicht erstaunlich sei dies, da es ja sowohl in der homiletischen als auch in der psychotherapeutischen Praxis darum gehe, positive Änderungen und Entwicklungen anzustoßen. Dass durch die Predigt ein innerer Prozess bei den Hörerinnen und Hörern angestoßen werden soll, wird zu einem grundlegenden Anliegen des Buches und die psychologische Thematik einer Theorie menschlichen Wandels wird zu einer Frage, der sich alle Predigenden bewusst stellen sollen. G. geht in seinem Buch der Forschungsfrage nach, ob es sinnvoll und möglich sei, aus dem methodischen Repertoire von Psychologie und Psychotherapie und den dahinterstehenden Konzepten fruchtbare Anregungen für die Homiletik zu gewinnen und traktiert die Thematik durch zwei Herangehensweisen.

Im ersten, historischen Teil kommen die Ansätze von Heinrich August Schott sowie Friedrich Niebergall relativ breit zur Sprache und die neueren, psychologisch geprägten Ansätze seit Otto Haendler erhalten etwas weniger Raum, werden aber auch systematisch behandelt. Die einzelnen Beiträge werden gut eingeordnet und theologisch diskutiert. Die Perle in diesem historischen Teil ist meines Erachtens ganz klar die Behandlung von Heinrich August Schott (1780–1835), welcher exemplarisch steht für eine Homiletik, welche auf psychologisch begründeter Rhetorik basiert. Er brachte schon sehr früh vieles zur Sprache, was später oftmals ohne Hinweis auf ihn wieder auftauchte. So verstand er die Predigt als eine Handlung oder wies beispielsweise auch bereits auf all die Kriterien hinsichtlich Verständlichkeit hin, die das Hamburger Verständlichkeitskonzept später aus sozialpsychologischer Sicht durch empirische Untersuchungen als die wichtigsten Faktoren für Verständlichkeit zutage förderte. Schott steht für eine ältere Homiletik aus einer Zeit, in welcher die Rhetorik Wissen und Kenntnisse aus verschiedensten Bereichen in sich vereinte und bei den gebildeten Schichten, also auch bei den damaligen Theologen sowie Pfarrern vorausgesetzt werden konnte.

Auf den ersten Hauptteil in Form einer historischen Rezeptionsgeschichte psychologischer Erkenntnisse folgt im zweiten Teil die Darstellung einiger psychotherapeutischer Interventionen und Sprachmuster sowie deren homiletische Übertragung.

In der Homiletik wird wegen der Anschaulichkeit und zur lebendigen Vorstellungsbildung auf Seite der Hörerschaft häufig einerseits für konkrete Sprache plädiert, welche aber andererseits die Schwierigkeit der individuellen Anschlussfähigkeit bei den einzelnen Hörenden schafft. Das bringt ein Konkret-abstrakt-Kontinuum für die Predigenden mit sich, welches das Dilemma aber nicht wirklich lösen könne, weil sich Anschaulichkeit und Anschlussfähigkeit gegenseitig unterdrücken würden. Für dieses Dilemma findet G. Abhilfe bei der Hypnosprache, da in dieser die Verwendung offener und indirekter Sprachformen – und nicht ein höherer Abstraktionsgrad – dazu dient, angebotene Vorstellungsinhalte anschlussfähig zu gestalten. Diese Sprachformen sind konkret, lassen aber gezielt Lücken und offene Valenzen, durch welche bei den Klienten innere Suchprozesse ausgelöst werden, in denen die Lücken auf eine individuelle und deshalb passende Weise gefüllt werden. »Die Verwendung offener und indirekter Sprachformen hat die Offenheit einer abstrakten Redeweise, unterscheidet sich aber gleichwohl wesentlich von dieser, da sie die konkrete Wahrnehmungssprache nicht ersetzt, sondern ergänzt.« (240)

Nach einem Durchgang durch das Dilemma der konkreten Sprache und der Erweiterung der zweidimensionalen Konkret-abstrakt-Skala durch »die hypnotherapeutische Sprachgestalt, die das Imaginativ-Konkrete mit dem Anschlussfähigen zu verbinden in der Lage ist« (242), sichtet er das homiletische Feld erneut, um zu prüfen, ob die Grundidee einer konkret-anschlussfähigen Sprachbewegung nicht auch schon früher thematisiert wurde und findet sowie diskutiert dazu Belege bei Schleiermacher, Niebergall und Engemann.

G. zielt bei der Untersuchung konkreter Sprachelemente darauf ab, dass die Predigthörenden sie »in ihre jeweilige Welt und Situation übersetzen« (251). Es geht ihm bei der Rezeption psychologischer und psychotherapeutischer Konzepte darum, »die Wirksamkeit von Predigten zu fördern«. Nebst der imaginativ-anschlussfähigen Sprache sind es die Einstreutechnik und das Yes-Set mit dem therapeutischen Grundprinzip des Pacing-Leading, welche G. aufs homiletische Feld transferiert. Der homiletische Einsatz spezifisch hypnotherapeutischer Sprachformen ist nicht möglichst umfangreich anzustreben, sondern gezielt für bestimmte Umstände und Ziele einzusetzen. Dazu bedient er sich des medizinischen Begriffs der »Indikation«, welcher bereits bei Schleiermacher auftauchte.

Die in der Homiletik relativ breit bearbeitete Thematik der Persönlichkeit der Prediger spielt in seiner Untersuchung keine zentrale Rolle, wenn er auch intensive Wechselwirkungen zwischen Persönlichkeit und Wirksamkeit der Predigt sieht. Während G. im Bereich der Psychotherapie und speziell der Hypnotherapie durchaus auch Ansätze der angelsächsischen Welt einbezieht, beispielsweise durch Stephen Gilligans Ansatz, so beschränkt er sich im theologischen und homiletischen Bereich auf den deutschen Sprachraum.

G. kommt zum wenig überraschenden Schluss, dass ein Transfer von Interventionen und Sprachmustern aus dem methodischen Repertoire von Psychologie und Psychotherapie und den dahinterstehenden Konzepten sinnvoll, möglich und auch ethisch vertretbar ist. In Bezug auf den letztgenannten Aspekt stellt sich die Frage, ob G.’ ziemlich ausgiebige Darlegung, warum die hypnotherapeutische Vorgehensweise nicht als manipulativ zu betrachten sei, wirklich noch nötig war. Aber anscheinend existiert das Vorurteil, dem diese Therapierichtung aufgrund der Bezeichnung häufig ausgesetzt war/ist, immer noch.

Das Buch schließt mit einem Ausblick zur Frage, ob die Homiletik die Psychologie brauche. Danach findet man ein hilfreiches Namen- und Sachregister. Es bleibt zu hoffen, dass G.’ lesenswertes, gelungenes Buch eine große Leserschaft findet und den in den letzten Jahrzehnten leider weitgehend ausgebliebenen homiletischen Dialog mit der Psychologie wieder neu in Gang setzen und anregen kann. Wünschenswert ist es und der Band bietet mit seinem ersten Teil einen geradezu idealen Einstieg dazu und mit seinem zweiten eine anregende exemplarische Präsentation der entsprechenden Früchte.