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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

985-987

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Zeyher-Quattlender, Julian

Titel/Untertitel:

Du sollst nicht töten (lassen)? Eine Rekonstruktion der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers aus der Perspektive Öffentlicher Theologie in aktueller Absicht.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 400 S. = Öffentliche Theologie, 40. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374068845.

Rezensent:

Roger Mielke

Die Faszination der Gestalt Dietrich Bonhoeffers ist ungebrochen, der Umfang der Forschungsliteratur unüberschaubar. Bonhoeffer gilt ebenso alframs spirituelle Leitfigur wie als Quelle theologischer Inspiration. Lebenszeugnis und Martyrium, geistliche und im engeren Sinne theologische Texte sind in seiner Person in derart komplexer Weise verwoben, dass eine sachgerechte Interpretation und Rezeption nicht wenigen Hindernissen begegnet.

Julian Zeyher-Quattlenders im Jahr 2019 an der Evangelisch-theologischen Fakultät Tübingen angenommene Dissertation widmet sich der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers. Das Thema darf angesichts der durch den Ukraine-Krieg angefachten gegenwärtigen Debatten um die evangelische Friedensethik mit hoher Aufmerksamkeit rechnen, gilt Bonhoeffer doch einerseits als Leitfigur eines prinzipiellen Pazifismus, andererseits aber auch als Verantwortungsethiker, der sich im Widerstand gegen Hitler für die Anwendung auch tödlicher Gewalt und für den Tyrannenmord aussprach. Der Problematik der Rezeptionsbedingungen begegnet der Vf. durch ein sorgfältiges und komplexes framing der »Rekonstruktion« von Bonhoeffers Friedensethik. Der Anmarschweg ist lang. Der Vf. skizziert 1. seine Forschungsperspektive als dem Projekt der »Öffentlichen Theologie« zugehörig, interpretiert dieses Projekt »Öffentliche Theologie« 2. als Aktualisierung der »Zweireichelehre« Martin Luthers und unternimmt erst von diesem Problemhorizont her 3. seine Rekonstruktion und Interpretation von Bonhoeffers Friedensethik als einen Versuch, Bonhoeffers Beitrag für die gegenwärtigen friedensethischen Herausforderungen zu beschreiben. Dies führt dazu, dass die eigentliche Bonhoeffer-Interpretation als »materialethischer« Teil nur etwa ein Drittel des Umfangs der Gesamtarbeit ausmacht. Der Bezug auf gegenwärtige friedensethische Aufgabenstellungen ist dabei nur höchst kursorisch. Absicht des Vf.s ist »ein eigener Entwurf eines Profils Öffentlicher Theologie, das den Weltbezug des christlichen Glaubens unter den Bedingungen einer Demokratie des 21. Jh.s und unter Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen Herausforderungen, die den soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Kontext unserer Gegenwart prägen, in protestantischer Weise zu gestalten versucht« (204). Der Vf. versteht »Öffentliche Theologie« als ein »Forschungsparadigma«, ein relativ kohärentes Methoden- und Theoriebündel, das einen gemeinsamen Problemzugriff erlaubt (69). Dabei konzentriert sich der Vf. auf die sozialethische Dimension Öffentlicher Theologie. Seine Leitthese besagt, »dass eine ›protestantische Ethik des Politischen in öffentlich-theologischer Perspektive‹ eine moderne Interpretation von Martin Luthers Zweireichelehre unter den Bedingungen einer Demokratie des 21. Jahrhunderts darstellt« (117). In den gegenwärtigen Debatten zwischen »Heidelberg« und »München«, zwischen »Öffentlicher Theologie« und »Öffentlichem Protestantismus« (R. Anselm, C. Albrecht) nimmt der Vf. damit eine vermittelnde Position ein. Dem etwa im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik formulierten Vorwurf, dass mit »Öffentlicher Theologie« nicht selten eine unter dem Rubrum des »Prophetischen« firmierende moralisierende Vereindeutigung komplexer politischer Problemlagen verbunden sei, »Öffentliche Theologie« also im Kern eine entdifferenzierende Argumentationsstrategie verwende, begegnet der Vf. mit der ausdrücklichen Stärkung von differenzierungstheoretischen Figuren, wenn er »Öffentliche Theologie« programmatisch als aktualisierte und angewandte Zweireichelehre entwickelt. Nur am Rande soll bemerkt werden, dass der Arbeit gerade in dem Teil, der sich der »Öffentlichen Theologie« widmet, etwas mehr kritische Distanz zu den Protagonisten des Projekts gutgetan hätte.

In einem eigenen Abschnitt wird Luthers Zweireichelehre skizziert und problemgeschichtlich entfaltet. Die Verbindung von schöpfungstheologischer Weite und rechtfertigungstheologisch-christologischer Konzentration führt zu einem Verständnis politischer Ordnung, in dem geistliche Freiheit und die Notwendigkeit zwangsbewehrter Institutionen ihren legitimen Ort haben. Kriterium der Legitimität politischer Ordnung ist es, Kooperation zu ermöglichen, das Recht des Nächsten zu schützen. Der Vf. versteht Bonhoeffer ausdrücklich als lutherischen Theologen. Vor allem in Bonhoeffers Mandatenlehre gehe es um die christologische Bindung der Ordnungen, die nicht, wie in den entstellten ideologischen Formen lutherischer Ordnungstheologie, einer »Eigengesetzlichkeit« überlassen werden. Bonhoeffers berühmte Unterscheidung des Vorletzten und des Letzten stelle diese Mandate in einen letztlich eschatologischen Horizont. Bonhoeffers Ethik steht in diesem genealogischen Zugang insgesamt für »das ethisch-normative Orientierungspotential der christlichen Tradition« (219).

Der Vf. spricht sich für eine innere Kohärenz von Bonhoeffers Friedensethik aus: »in Bonhoeffers Theologie und Biographie (bildet sich) ein konsequenter Pazifismus als Friedensethik (ab)« (345). Das heißt: Es gibt nicht den pazifistischen Bonhoeffer von 1935 und den verantwortungsethischen von 1943. Sein Pazifismus hält sich durch und wird durch die existentielle Konfrontation mit der Tyrannis vollends zu einer elaborierten und gehaltvollen Friedens-ethik, in der die Forderung der Gewaltfreiheit mit der konkreten Erfahrung gewaltförmiger Wirklichkeit politisch vermittelt werde. Faktoren dieser Kohärenz seien ein »antiprinzipielles Ethikverständnis« (272 u. ö.), das nach dem Gebot Gottes in der jeweils konkreten Situation fragt und für das besonders die normativ nicht einzuhegenden »Grenzfälle« Ort der »Verantwortungsübernahme« sind. Die »vier systematischen Strukturelemente« dieser Verantwortungsethik sind: »Freiheit, Stellvertretung, Schuldübernahme und Wirklichkeitsgemäßheit« (345).

Einige Punkte regen zum Widerspruch an: Der Vf. hebt seine Interpretation des »lutherischen« Bonhoeffer von den pazifistischen Deutungen des Methodisten Stanley Hauerwas und des Mennoniten John Howard Yoder ab. Zurecht wirft der Vf. den beiden amerikanischen Theologen vor, das lutherische Erbe bei Bonhoeffer zu verkennen, seinerseits übersieht er aber die bedeutenden tugend-ethischen Aspekte der Bonhoefferschen Ethik, wie sie sich etwa in dem bedeutenden Text »Nach 10 Jahren« (1943, DBW 8,19–39) finden (zu denken ist vor allem an den Abschnitt »Qualitätsgefühl«). Der Bezug auf die Friedensspiritualität, auf die ekklesialen Praktiken des Friedens, die auch in der Einsamkeit des Haftraums von Bonhoeffer festgehalten werden, kommt beim Vf. zu kurz. Vielleicht wäre gerade hier ein wichtiger Beitrag Bonhoeffers für eine gegenwärtige Friedensethik zu finden, mehr jedenfalls als in der vom Vf. aufgeworfenen steilen These: »So weist der Problemhorizont gegenwärtiger friedensethischer Herausforderungen eine ähnliche existentielle Zuspitzung und Dilemma-Struktur auf, die Bonhoeffers Friedensethik für die aktuelle friedensethische Debatte interessant und brauchbar macht.« (242) Ist nicht diese existentielle Zuspitzung der Situation extremer Vereinsamung unter den Bedingungen von Tyrannis, Shoa und Vernichtungskrieg gerade das, was »uns« von Bonhoeffer trennt?

Insgesamt aber legt der Vf. eine methodisch reflektierte, weitsichtige, facettenreiche und im Rahmen der Fragestellung auf der Höhe des Forschungsstandes befindliche Untersuchung zu der Frage vor, welche Orientierungskraft Bonhoeffers Friedensethik in einer gegenwärtigen evangelischen Ethik des Politischen zukommen kann.