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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

983-985

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Siegemund, Axel

Titel/Untertitel:

Grenzziehungen in Industrie- und Biotechnik. Transzendenz und Sinnbehauptungen technologischer Modernisierung in Asien und Europa.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2022. 466 S. = Technik und Religion, 2. Kart. EUR 112,00. ISBN 9783848786930.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Der Titel weckt Erwartungen an einen Vergleich technologisch getriebener Modernisierungswege in Europa und Asien – einem Genre mit langer Tradition. Tatsächlich aber bemerkt der Leser schnell, dass es um eine dezidiert theologische Arbeit geht, in der die »welterschließende Dimension der Technik« und ihr »Beitrag zur Auseinandersetzung mit religiösen Fragen« (19) am Beispiel Asien im Fokus ist. Technikkultur wird dabei als Weltgestaltung und Teilhabe am Schöpfungshandeln Gottes und als Antizipation des Reiches Gottes verstanden (28). Technische Realisierungen »stellen sich so als Bildgeber für die Antizipation der Reich-Gottes-Vorstellung dar« (29).

Näherhin besteht das Programm des Buches in einer theologischen! »Beschäftigung mit transkulturellen Prozessen […], in der die Fragmente einer überwundenen europäischen Technokratie in Asien wieder entdeckt, einem ebenso verschwunden geglaubten Gefühl für Transzendenz nachgespürt und dabei die bekannten Zuständigkeiten für technologische Entwicklung und religiöse Erfahrung infrage gestellt werden« (16). Vom Titel her naheliegende Fragen wie z. B. welchen Einfluss das christliche Symbolsystem auf unterschiedliche Technikentwicklungen hat oder umgekehrt, wie sich Technik auf kontextuelle Glaubensformen auswirkt (395) bleiben unbeantwortet. Enttäuschend auch, dass nirgends der christliche-buddhistische, hinduistische oder konfuzianische Dialog eine Rolle spielt – geschweige denn die Sicht dieser asiatischen Religionen auf Technik. Sie trügen schon deswegen nichts zur Diskussion bei, weil sie ohnehin nur an einer Überwindung der Welt, nicht an ihrer Gestaltung, interessiert wären (40). Der Blick bleibt selbst bei der Diskussion asiatischer Technikbeispiele auf den christlichen Kontext begrenzt. Bestenfalls kommen noch indigene Stimmen zum Tragen.

Lässt man sich allerdings auf die spezifische theologische Argumentation und komplexe Gedankengänge ein, lassen sich spannende Entdeckungen machen. Technik, so heißt es, ist nichts anderes als die »praktische Ausführung von Selbst- und Welterschließung« (50), überschreitet darin immer wieder Grenzen und schließt sie zugleich wieder. Damit aber begegnen sich Technik und Religion auf der gleichen existentiellen Ebene, »weil sie Lebenspraktiken sind, die in der Kommunikation über die Grenzen zwischen Künstlichem und Natürlichem, Lebendigen und Gegenständlichem, Gegebenen und Gemachten hineinführen, zur Transzendierung dieser Grenzen anregen und über ihre Deutung die Konstitution von Identität beeinflussen« (51). In beiden Lebensdimensionen kommt dem jeweiligen Bezug auf Überschreitendes, Ideales, Anzustrebendes: der Transzendenz, eine enorme Bedeutung zu. »Es geht um das Vertrauen in eine Wirklichkeit, die nicht vor Augen steht.« (116) Erst aus solchen »transzendentalen« Bezügen ergibt sich der moralische Status des jeweiligen Handelns (115). Das Fazit des Buches bestätigt diesen Ausgangspunkt: »Offensichtlich benötigen wir die handlungsleitende Vorstellung eines unbedingten Sollens, das durch unsere Konstruktionen hindurch scheint, aber in den Dingen selbst nicht aufgewiesen werden kann.« (381)

Entsprechend läuft der theologische »Zugang zur Moderne« über die Technikkultur – über »unsere Lebensweise, die sich als praktische Emanzipation vom Naturzustand äußert« (43) und so zur Ressource religiöser Kommunikation wird. Während aber die Technik die Grenzen des Unverfügbaren ständig verschiebt, überführt christliche Religion sie in »Fügungen«: »Der Glaube erklärt also nicht die empirischen Vollzüge, sondern fügt sie in eine Möglichkeit und Notwendigkeit umfassende Wirklichkeit ein.« (121) Die allein schon darin enthaltenen enormen Spannungen hätten im Buch gerne noch deutlicher werden können. »Wir produzieren also Transzendenzen, die wir in einem weiteren Schritt wieder der Verfügbarmachung unterwerfen. Dabei bleibt die Vermutung, uns immer mehr selbst zu bestimmen, die handlungsleitende Annahme.« (382) Genau damit wird der Religion der Resonanzraum immer weiter entzogen – so muss man doch folgern.

Wie geht Siegemund vor? Das Buch enthält vier Kapitel und längere »Schlussthesen«. Zunächst geht es grundsätzlich um das Verhältnis von Wissenschaft und Religion im Kontext der Moderne. Sie sei durch den Verzicht auf große Transzendenzen geprägt und deswegen christlich »als Antwort auf ein Angesprochensein« (62) zu konfrontieren. Starke Setzungen prägen die Argumentation: »Gott muss der Welt beständig neu als der Gekommene offenbart werden; die nichtsäkulare Weltaneignung wird mehr denn je zu einem existentiellen Sprung.« (66) Technik hätte darin ikonische Qualität, dass sie unser Wissen um die Art des Transzendenten speichere (71). Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur »Sagbarkeit Gottes im technischen Zeitalter«. Im zweiten Kapitel soll die Kontextualität Ost- und Südasiens behandelt werden. Darunter wird die Entwicklung in China, Korea und Indien gefasst und die ökumenische Diskussion über Entwicklung und Säkularität analysiert. Moderne Technik sei faktisch lebensweltlich erfahrbare Religionskritik (220) und korrespondiere so mit der religiösen Technikkritik. Die Kirchen setzten sich mit dem religiösen Ge- halt säkularen Weltwissens kaum auseinander. Das umfangreiche dritte Kapitel nimmt sich »weltbildliche Kommunikation in Industrie- und Biotechnik« in Asien vor und bietet beeindruckende Fallstudien zu technischen Großprojekten wie z. B. Ok-Tedi in Papua-Neuguinea oder die Drei-Schluchten-Talsperre in China, Biotechnologie in Korea und Synthetische Biologie als »Playing God«. Kennzeichen der Postmoderne sei die Transformation religiöser Lebensäußerungen, und nicht mehr ihre Substitution (336). Entsprechend würden nun »die Transzendenzen von Industrie und Religion im Gleichschritt aufgerufen« (337) und religiöse Framings angestrebt. Schließlich analysiert das vierte Kapitel die missionarischen Ansprüche von Modernisierungsprogrammen im Kontext der ökumenischen Theologiegeschichte vom Aufbruch der Dritte Welt Theologen (EATWOT) Anfang der siebziger Jahre mit ihrer Technikkritik als Verwestlichung und der darin enthaltenen Entdeckung des Kulturzusammenhangs der Theologie. Die »Utopie der ärztlichen Mission« (371) schließt den Durchgang ab. In den abschließenden Thesen (fünftes Kapitel) wird daraufhin folgerichtig konstatiert, dass im Sinne der Missio Dei »Gott vor aller Verkündigung bereits in den gemeinsamen Programmen säkularer Weltgestaltung präsent« sei (400), wenngleich die Mehrdeutigkeit der Lebensvollzüge immer gegeben wäre (411).

Das Buch bietet viele überraschende Sichtweisen an: Theologie und Technik seien beide auf Transzendenz angewiesen; im Hintergrund würden immer Bekenntnisstrukturen geschaffen (289). Aber ist damit in beiden Bereichen wirklich dasselbe gemeint? Traktiert Technik als solche tatsächlich existenzielle Erfahrungen? (55) In theologischer Deutung mag das angehen. Aber leuchtet es den Technikern ein? Eine Auseinandersetzung mit Techniktheorien oder auch nur der langen Tradition der Technikethik, an der auch Theologen beteiligt waren, sucht man leider in dem Band vergeblich. Deswegen wartet man mit Spannung auf Siegemunds nächsten Band (dann bitte mit einem treffenden Titel!).