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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

974-976

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Matuschek, Stefan

Titel/Untertitel:

Der gedichtete Himmel. Eine Geschichte der Romantik.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2021. 400 S. m. 30 Abb. Geb. EUR 28,00. ISBN 9783406766930.

Rezensent:

Karl Tetzlaff

Am Ende von Stefan Matuscheks Geschichte der Romantik wird die Berufstheologie in die Schranken gewiesen: »Für das Jenseits, für die ›ganze letzte Wahrheit‹ gibt es keine spezialisierten Fachleute. Da sind alle Laien und auf Selbstgemachtes angewiesen.« (373) Alle sind Laien – das lässt sich, mit einer gut protestantischen Wendung aus F. Schleiermachers Reden gesagt, aber auch umkehren: alle sind (potenzielle) Priester. Kein Mensch also, der nicht sich selbst und anderen den Himmel aufzuschließen vermöchte. Der gedichtete Himmel, M.s kongenialer Buchtitel, verweist auf ebendiese humane Fähigkeit, mittels der Fantasie die diesseitige Erfahrungswelt zu überschreiten. Er hält aber auch fest, dass das so zu erreichende Jenseits »nur« Dichtung, »nur« ein Produkt der prinzipiell jedem Menschen eignenden Einbildungskraft ist. Genau »darin, in dieser Aussage das ›nur‹ wegzulassen und sie nicht als Religionskritik, sondern als eine Neuinterpretation religiöser Transzendenz zu verstehen«, liegt nun für M. das »epochal Neue, das mit der Romantik einsetzt« (21). Ihr innovativer »Beitrag zur europäischen Moderne« sei die Entwicklung einer »ganz neue[n], kreative[n], subjektive[n] und damit potenziell freie[n] Form von Metaphysik« (47), mit der sie über die Aufklärung hinausgehe, ohne deren kritizistische Grundintentionen zu verabschieden.

Typisch romantisch ist es demnach, sich innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu bewegen und diese zugleich, dem eigenen Unendlichkeitssinn folgend, zu transzendieren – ein schillernder Modus, den M.s Leitmetapher der »Kippfigur« (67 passim) ausdrücklich machen soll. Wie in einer Kippfigur je nach Perspektive mal das eine, mal das andere Bild ansichtig wird, ohne dass sie jemals gänzlich in eine der beiden Richtungen »abkippt«, changiere die in romantischen Werken begegnende Weltsicht zwischen »Realismus und Transzendenz« (370). Ein bekanntes Beispiel für solches Changieren ist J. v. Eichendorffs Mondnacht, das die traditionelle Vorstellung einer unsterblichen Seele aufruft und durch ein betontes »als« zugleich deren Deutungscharakter markiert (»als flöge sie nach Haus«).

Mit dem häufig auf Traueranzeigen abgedruckten Gedicht, aus dem wegen seiner religiösen »Zwanglosigkeit« auch heute noch ein »metaphysische[r] Trost ohne Metaphysik« (18) geschöpft werden könne, setzen M.s. gut lesbare Ausführungen ein. Seine nicht streng chronologisch verfahrende Geschichtserzählung gliedert sich übersichtlich in sieben Kapitel, die unter gekonnter Aufbereitung vielfältigsten Materials verschiedene Aspekte des komplexen »Großphänomen[s]« (9) Romantik fokussieren. Der Jenaer Literaturwissenschaftler beschränkt sich dabei fast vollständig auf die romantische Literatur, während Musik und bildende Kunst nur am Rande vorkommen. Dies stellt den einzigen Wermutstropfen in diesem ansonsten hoch zu lobenden Werk dar, durch dessen Stoffmengen sich wie ein roter Faden das im Titel angedeutete, äußerst theologieaffine Motiv der »gemachten Transzendenz« zieht.

Im ersten Kapitel (9–47) wird die um 1800 anhebende Romantik im bereits skizzierten Sinne als »zweite[r] Impuls der europäischen Moderne« neben und nach der Aufklärung gewürdigt. Den Konzepten der Berlin-Jenaer Frühromantik, insbesondere Schleiermachers und F. Schlegels religiös-ästhetischem Neuansatz bei der »kreativen Vorstellungskraft jedes und jeder Einzelnen« (22), kommt hier ein paradigmatischer Status zu. Doch warnt M. vor »deutscher Nabelschau« (30). Vielmehr entstehe im 18./19. Jh. eine wahre »Vielfalt der europäischen Romantiken« (49), wie er sie im zweiten Kapitel (49–122) anhand zahlreicher Beispiele z. B. aus Frankreich, Italien und England vor Augen führt. Dabei dient ihm die besagte »Kippfigur als Kriterium, um auch das als romantisch zu bezeichnen, was sich selbst nicht so nennt« (71): etwa ein Gedicht des italienischen Lyrikers G. Leopardi, in dem unter Rückgriff auf die Metaphorik katholischer Fastenpredigten, aber ohne expliziten Gottesbezug, eine Erfahrung des Versinkens im Unendlichen besungen wird. Die nähere Bestimmtheit dieses Unendlichen wird bewusst in der Schwebe gehalten und der in-dividuellen Einbildungskraft überlassen.

Darin schlägt sich das romantische Bemühen um eine »Subjektivierung und Ästhetisierung der Religion« (145) nieder, dem M. im Rahmen des dritten Kapitels (123–203) u. a. nachgeht. Dort macht er die Romantik als Folgewirkung der Französischen Revolution zum Thema, deren emanzipatorischen Impuls sie mit anderen Mitteln habe fortsetzen wollen. Nicht durch den direkten Umsturz gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern durch das »Freilassen der Religion« (F. Schlegel) zu einer Angelegenheit je individueller Sinnbildung, durch die Revitalisierung des Mythos als Quelle versöhnender Einheit, sowie durch die Emanzipation des künstlerisch-literarischen Ausdrucks gegenüber fremden Zwecken sollte die Menschheit auf indirekte Weise in eine bessere Zukunft geführt werden. Den letzteren Aspekt illustriert M. u. a. anhand der romantischen Opposition gegen die traditionelle Regelpoetik, der man einen spielerisch-ironischen Umgang mit literarischen Formen entgegengesetzt habe. Die so entstandenen »fiktive[n] Welten« hätten »einen eigenen Freiraum« geschaffen, »um die Veränderungen der Realität zu reflektieren« (202).

Mit der Eröffnung freiheitsstiftender »Lesewelten« erwies sich die romantische Literatur als Katalysator der im letzten Drittel des 18. Jhs. einsetzenden Leserevolution, was M. im vierten Kapitel (205–272) thematisiert. An vielen Beispielen, von E. T. A. Hoffmanns Sandmann bis M. Shelleys Frankenstein, führt er den innovativen Charakter romantischer Literatur anhand der Entstehung neuer Romangenres vor Augen. Diese sind vor allem im Bereich des Märchenhaften und Gruseligen, bis hin zur Science Ficition angesiedelt – eine »stilistische Neuerung«, in der sich M. zufolge »ein kritisches Bewußtsein von den Grenzen der aufgeklärten Vernunft« (370) ausspricht. Die Monster, Fantasie- und Halbwesen, die jene Romane bevölkern, lassen demnach vor den im Menschen selbst hausenden Möglichkeiten des Krankhaften, Irrationalen oder Bösen erschauern. Sie sind als Produkte literarischer Einbildungskraft erkennbar und stehen zugleich für eine Dimension, die sich vernünftiger Eingrenzung immer wieder entzieht. Auch darin kommt M.s »romantische Kippfigur« (97) zur Geltung, allerdings unter deutlich dunkleren Vorzeichen.

Dass sich ihr schillernder Charakter auch gänzlich verlieren konnte, zeigt M. im fünften Kapitel (273–350), das dem Verhältnis der Romantik zur um 1800 einsetzenden »nationalkulturelle[n] Mobilmachung« (26) nachgeht. Er nimmt die damals aufkommenden Konzepte der Nationalliteratur und Nationalgeschichte, des Volks und des Volkstümlichen in den Blick, mit denen sich die in vielen europäischen Ländern verbreitete Sehnsucht nach nationaler Einheit verband. Auch letztere ist eine romantische Erfindung, die sich aber insbesondere im Zusammenhang mit dem Versuch, die germanische Mythologie zum Zwecke nationalkultureller Identitätsstiftung zu revitalisieren, zunehmend nicht mehr als Erfindung durchsichtig gewesen sei. »Die romantische Neubelebung der germanischen Mythologie«, so schließt das Kapitel, »endet in der Leugnung, dass sie ein Mythos ist« (349). Damit kippt die für produktive Unbestimmtheit stehende Kippfigur in die sterile Eindeutigkeit des Ideologischen ab.

Doch nicht nur diese Schattenseite der Romantik wirkt über ihre in der Mitte des 19. Jh.s endende Epoche hinaus bis heute fort. Das »neue[] Darstellungs- und Deutungsmodell von Transzendenz« (354) als Produkt menschlicher Einbildungskraft lebt, wie M. im sechsten Kapitel (351–368) zeigt, in der modernen Literatur weiter. Mithin dürfe die dunkle, reaktionäre Seite der Romantik, so heißt es schließlich im knappen Schlusskapitel (369–373), eines nicht vergessen machen: die für sie ursprünglich spezifische Kippfigur bewahre davor, dort »fundamentalistisch zu werden, wo man nichts Genaues weiß und wissen kann« (372). Im produktiv gewendeten Eingeständnis, dass der Himmel stets ein gedichteter, gemachter bleibt, entdeckt M. den »Beitrag der europäischen Romantik zu Toleranz und individueller Freiheit« (373).

Zu dieser Freiheit gehört es auch, dem je eigenen »Sinn fürs Unendliche« unabhängig davon zu folgen, was die »spezialisierten Fachleute« für das »Jenseits« (373) ihm diktieren wollen. So wirft M.s Geschichte der Romantik am Ende die Frage nach einer Theologie auf, die der »freigelassenen Religion« (F. Schlegel) der Moderne gerecht zu werden vermochte. Denn auch innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft und zumal angesichts von Erfahrungen, die diese zu sprengen scheinen, bleibt das Leben deutungsbedürftig. Es braucht den Bezug zum Himmel, weil es im Diesseits nicht abschließend aufgehen will – und sei der Himmel auch nur ein Gedicht. Doch, gut romantisch gefragt, was heißt hier eigentlich »nur«?