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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

969-971

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Arndt, Andreas, u. Thurid Bender [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Das Böse denken. Zum Problem des Bösen in der Klassischen Deutschen Philosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. VIII, 201 S. = Religion in Philosophy and Theology, 111. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783161600647.

Rezensent:

Jörg Dierken

Das Böse gibt zu denken – gerade weil es unvernünftig und sinnwidrig ist. Wer ihm entgegentreten will, muss irgendwie wissen, worum es sich handelt. Damit beschreibt er es im Zusammenhang mit anderen Phänomenen und ordnet es in den Zusammenhang der Wirklichkeit ein. Das ist ein elementarer Vollzug von Denken, Vernunft und Sinnfindung. Er lässt allerdings fraglich werden, inwiefern die Negativität des Bösen rationalisiert und ins Wirklichkeitsganze aufgehoben werden kann. Das stößt sich spätestens mit der ihm auch eigenen Tendenz zum Monströsen. Dem Bösen eine unbedingte, positive Eigenart zuzusprechen, führt hingegen zu seiner diabolischen Mythisierung. Darin wird das Böse zur eigenen Wirklichkeit von gleichsam gegengöttlicher Kraft. Wird indes allein auf seine Negativität abgestellt, verflüchtigt es sich zum nichtseienden Schein. Ein damit korrespondierender Monismus des Guten verfängt sich zwar nicht in einer dualistischen Aufspaltung der Wirklichkeit mit zwei gleichsam divinen Machtzentren. Aber sein Preis ist die Verkennung der Realität des Bösen. Die von der Geschichte des Denkens untrennbare Thematik des Bösen wurde in der Klassischen Deutschen (Religions-)Philosophie mit einem Fokus auf Freiheit als Boden der vom Willen ausgehenden Moral sowie auf Gott als Inbegriff von Freiheit und dem Ganzen der Wirklichkeit subtil durchdacht. Der aus einer Tagung hervorgegangene Band beleuchtet dies in etlichen Facetten.

Am Anfang stehen Beiträge zu Kant. Joachim Ringleben stellt kundig dar, dass ohne Begreifen der Intelligibilität des Ursprungs des Bösen – im religiösen Idiom: der Sünde – die Aufklärung nicht zur Vernunft kommt und zieht Linien zur Thematik der Erbsünde als alle umfassenden Verstrickungszusammenhang (9–22). Auch Burkard Nonnenmacher fokussiert kompetent die – bei Kant bezeichnenderweise gerade der Erfahrung zugängliche – Allgemeinheit der Sünde, die als positive Größe aus einer unerklärbaren, aber stets neu gefällten freien Entscheidung wider das auf Autonomie fußende Sittengesetz entsteht (23–37). Mit gewissen inneren Spannungen beschreibt Sebastian Böhm das »Paradox der Autonomie«, dass der Wille nur durch die Unterwerfung unter die Allgemeinheit des Sittengesetzes frei sei – obgleich das Imperativische des Gesetzes aus der Adressierung an die individuelle Sinnlichkeit resultiere, die zudem zu einem zweiten »Gesetz der Selbstliebe« stilisiert wird (39–56). Damit wird das Böse letztlich in die Sphäre der Sinnlichkeit verschoben und zur »Äußerlichkeit für die Vernunft erklärt. Auch Alexandre Lissner scheint in seinem gedanklich konfusen, von Kants strenger Systematik unbeeindruckten Beitrag das Böse in der alle Vernunft verschlingenden Sinnlichkeit zu sehen, die sich noch der reinen Vernunft als »ozeanische[r] Trieb« bemächtige (57–70).

Drei weitere Beiträge gelten Hegel. Thurid Bender expliziert in seinen Darlegungen zu Erscheinungsformen des Bösen (71–89) zwar zutreffend, dass dieses in der »Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzip« (Zit. Hegel) zu machen, besteht. Aber seine Ausführungen zu Hegels Deutung von Robespierre, von Jesus in vorspekulativen frühen Manuskripten, zur ›schönen Seele‹, zur Geschichtsphilosophie u. a. m. verbinden recht Heterogenes und lassen nicht wirklich erkennen, dass Hegel das Böse bestimmt »als das, was notwendig nicht sein soll« (Rechtsphilosophie, § 139). Anne Becker stellt zu Recht heraus, dass für Kant wie für Hegel das Böse in der Aufspreizung des Besonderen zum Allgemeinen besteht und mit einem Selbstmissverständnis von Freiheit und Endlichkeit zu tun hat (91–106). Dass es aber »Kennzeichen von Freiheit und Endlichkeit« sei (106) und bereits im (nur seinslogisch gedachten) Fürsichsein als solchen bestehe, greift zu kurz und passt nicht ganz zu den Hinweisen auf die Struktur von Subjektivität, deren Neigung zum Bösen durch Selbstbezüglichkeit und Vereinzelung forciert werde. Auch Gilles Marnasse fokussiert die Endlichkeit als Ort des Bösen (107–120). Als »Unmittelbarkeit und Widerspruch« sei es allerdings höchst real und »negative Bedingung« des Guten, das dieses seinerseits negiere (119).

In der Reihe der interpretierten Denker kann Schelling als Autor der Freiheitsschrift, die menschliche Freiheit als »Vermögen des Guten und des Bösen« versteht und sie in Gott fundiert sieht, aber Gott aufgrund einer internen Differenz zwischen »Grund« und »Existenz« von ihr auch unterschieden versteht, nicht fehlen. Christian Danz expliziert kenntnisreich vor dem Hintergrund der identitätsphilosophischen Methodik der »Konstruktion« des Absoluten und seiner »Darstellung« in endlichen »Repräsentationen«, wie das Böse als »umgekehrter Gott« (Zit. Schelling) in der unableitbaren Verkehrung von Besonderem und Allgemeinem im voluntativen Fürsichsein des aus jener Struktur heraustretenden Menschen wirklich wird (121–133). Christoph Binkelmann betont in seinem differenzierten Durchgang durch die Freiheitsschrift den – im Kontrast zu Privationstheorien – positiven und realen Charakter des Bösen bei Schelling (135–148). Dennoch lasse sich nach der Interpretation von Vincent Giraud Schellings Position mit der Augustins, die das Böse letztlich privativ als Nichts versteht und mit dem im Abfall von Gott seine eigene Endlichkeit verabsolutierenden Fürsichsein identifiziert, zusammendenken (149–158). Gegenläufig zur Annäherung des Bösen an die Endlichkeit als solche erhebt sich in der Fluchtlinie dieser Beiträge die Frage nach einem weder ins Böse kippenden noch vom Absoluten dominierten Konzept des Fürsichseins.

Die letzten Beiträge gelten Fichte und Schleiermacher. Chris-toph Asmuth betont nachdrücklich die Nähe von Fichtes Denken der ethischen Selbsttätigkeit des Ich zu Geschichte und Politik im Zeichen des Fortschritts; das Böse stammt demgegenüber aus einer in der Freiheit des Ich gründenden Befolgung von natürlich-triebhaften Maximen, die allerdings nicht zu einem den Fortschritt hemmenden Bösen substantialisiert werden dürften (159–174). Auch für Schleiermacher ist der Fortschrittsgedanke zentral, wie Andreas Arndt luzide herausstellt (175–185). Das Böse bildet einen relativen Gegensatz zum Guten in seinem Werden und ist an ihm selbst letztlich perspektivenabhängiger Schein und »Durchgangspunkt« (179, Zit. Schleiermacher). Das führt Arndt zu der prägnanten These, dass sich die »durchgängige Relativierung des Bösen« nicht »affirmieren« lasse und sich in Schleiermachers Ethik, dem »Formelbuch« für das »Bilderbuch« der Geschichte, für die Katastrophen des 20. und 21. Jh.s »keine Formeln mehr finden« ließen (185). Damit ist die Rückfrage nach passenderen Formeln eröffnet.

Es hätte den Beiträgen des Bandes gutgetan, wenn die mit dieser Überlegung aus seinem letzten Absatz aufgeworfenen Fragen einen durchgängigen Subtext gebildet hätten. Deren gedankliche Sortierung bedarf freilich solcher kategorialer Figuren, wie sie in den Beiträgen zu den profilierten Denkern des Bösen in unterschiedlicher Subtilität erörtert werden. In den Fluchtlinien dieser Figuren zeigt sich die Aufgabe, deren aktuelle Deutungskraft zu erkunden.