Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

967-969

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Laube, Martin, u. Hans-Georg Ulrichs [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Weltgestaltender Calvinismus. Studien zur Rezeption Abraham Kuypers.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 192 S. m. 1 Abb. = Forschungen zur Reformierten Theologie, 12. Kart. EUR 35,00. ISBN 9783788735302.

Rezensent:

Henning Theißen

Vor der Lektüre dieses verdienstvollen Bandes, der ein Göttinger Symposium zu Kuypers 100. Todestag dokumentiert, war dem Rezensenten der Theologe und niederländische Ministerpräsident Abraham Kuyper (1837–1920) nur als Exponent und »Exporteur« eines strammen Calvinismus begegnet. Eingedenk solcher »Vorkenntnisse« setzen die einzelnen Beiträge bei der Wirkung Kuypers an und sind da am ertragreichsten, wo diese über literarische Rezeption und im engeren Sinne prosopographische Forschung (vgl. dazu detail- und kenntnisreich Hans-Georg Ulrichs bzw. George Harinck) hinaus auf politische und konfessionskulturelle Kontexte bezogen ist. Der Buchtitel lässt M. Webers Kapitalismusthese assoziieren, die aber im Hintergrund (63.137 f.) bleibt, weil Kuypers »weltliches« Wirken weniger der Frage gilt, was die rechte christliche Wirtschaftsform sei, als vielmehr, wie christliche Politik auszusehen habe.

Der sehr grundsätzlich kritische Beitrag von Jeroen Koch, der Kuyper, den Gründer der niederländischen Antirevolutionären Partei, in seiner orthodox calvinistischen Skepsis gegenüber der Französischen Revolution in Beziehung setzt mit dem marxistischen Geschichtsbild, das bekanntlich eine Verknüpfung von Politik und Wirtschaftsform kennt (47 f.), zeigt, dass Kuypers Bedeutung davon abhängt, wie Theologie über den Einfluss von Religion auf die Gestaltung von Volk, Staat und Nation denkt. Der Band findet so Anschluss an eine auch in der deutschen Theologie präsente, kontroverse Fragestellung, mögen direkte Beziehungen nach Deutschland nach H.-G. Ulrichs auch »nicht den prägendsten Referenzrahmen für Kuyper« (67) darstellen. (Ein Vergleich mit Bismarcks fast zeitgleichem Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus des »Zentrums« findet nicht statt.)

Insgesamt gelingt den Autoren und Autorinnen der Nachweis, dass Kuyper, der auch eine Gründerfigur für Amsterdams Vrije Universiteit war, nicht einlinig antimodernistisch für die nationalistische Wirkung verantwortlich gemacht werden kann, die sein Modell der »Versäulung« der Gesellschaft entsprechend den vorhandenen Konfessionen und ihren jeweiligen konfessionskulturellen Gestaltungsansprüchen z. B. im Apartheidsdenken der sich reichlich auf ihn berufenden Buren im südafrikanischen Ableger der mit Kuyper verbundenen reformierten Kirchenneugründung (Gereformeerde Kerken) hervorgebracht hat.

Christine Lienemann-Perrin zeigt vielmehr im Gespräch mit international bekannt gewordenen theologischen Dokumenten wie dem Kairos Dokument von 1985 (99) und der Confession of Belhar von 1986 (97) Linien in Kuypers Denken auf, die ein Anti-Apartheid-Denken und die Kritik an wiederkehrenden Isolationismen im heutigen Südafrika stärken können.

Anderen Ambivalenzen spürt Martin Laube im Stile der in der deutschen Gegenwartstheologie geführten Modernitätsdebatten nach, wenn er im Vergleich mit Troeltsch Kuypers Modernismus für seine (wiederum konfessionell bedingte) Einseitigkeit (»Kampf der Weltanschauungen«, 142) tadelt, was im Sinne Laubes doch wohl impliziert, dass die Moderne in sich ambivalenter zu denken ist.

Nicht minder bereichernd ist Kochs klare Positionierung, die Kuypers neocalvinistischen Anspruch einer »Durchmoralisierung der Gesellschaft« (51) sehr grundsätzlich für die Verzweckung von Religion für politische Ziele kritisiert (52). Nach Einschätzung des Rezensenten scheint bei Kuyper die bewusste Ausleuchtung der verschiedenen, insbesondere nicht nur theologischen, sondern praktischen Rezeptionskontexte, wie sie beispielhaft von Koch, Laube und Lienemann-Perrin geleistet wird, trotz gewisser Polarisierungstendenzen, die diesem Vorgehen innewohnen, methodisch sinnvoll.

Auf stärker ideengeschichtlichem Wege diagnostiziert Marco Hofheinz ähnliche Ambivalenzen in Kuypers politischem Denken, setzt ihnen aber z. B. mit gewissen »kommunitaristischen« und »so- zialdiakonischen« Motiven (123.129) auch Stärken Kuypers entgegen.

Margi Ernst-Habib, die Kuypers Stellung zum Islam anlässlich seiner nach der Ministerpräsidententätigkeit unternommenen Mittelmeerreise behandelt, geht ähnlich vor, wenn sie – mit E. Saids bekannter Orientalismusthese (z. B. 154) als kritischer Sonde – Züge in Kuypers Denken entdeckt, die quer zum Staatsmann einer damaligen Kolonialmacht stehen.

Gelegentlich ist das Bestreben zu beobachten, Kuyper aus den Fängen einer für seine Beurteilung negativen Rezeption zu befreien: Das »lag nicht an Kuyper«, liest man dann (67.75). Tatsächlich liegt aber der calvinistische Anspruch auf Weltgestaltung, der die Person Kuypers am greifbarsten macht, so deutlich vor allem auf politischem Gebiet, wo individuelle Verantwortungen viel schwieriger zu identifizieren sind als literarische Autorschaften auf akademischem Terrain, dass der durchweg wirkungsgeschichtliche Ansatz des Bandes sich als hilfreiche hermeneutische Regel für den weiteren Umgang mit Kuypers Denken empfiehlt. Doch keine Regel ohne Ausnahme: Am intensivsten auf Kuypers eigene Texte greift Dirk van Keulen zurück, der im Schlussbeitrag des Bandes die Bedeutung von Kuypers Vorstellungen vom Gottesdienst für die gegenwärtige liturgische Praxis im niederländischen Protes-tantismus, d. h. nach der Fusion zur PKN 2004 (Protestantse Kerk in Nederland), beleuchtet. Und immerhin hat dieser Zusammenschluss auch die beiden Calvinismen im Land zusammengebracht, die seit Kuypers Zeit für die politischen Ambivalenzen seiner Wirkung mit verantwortlich gewesen sind.