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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

965-967

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kunz-Lübcke, Andreas [Hg.]

Titel/Untertitel:

Dissidenten, Außenseiter und Querulanten. Literarische und historische Gestalten in religiösen Kontexten außerhalb des Normativen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 216 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 65. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783374069347.

Rezensent:

Martin Hein

Der Titel des anzuzeigenden Buches weckt unmittelbares Interesse. Sind es in den großen Religionen doch gerade die Outcasts, die eine ungebrochene Attraktivität besitzen, weil sie sich vom Mainstream dessen, was »normativ« wurde und Geltung beansprucht, unterscheiden. Sie haben sich mit ihren Auffassungen nicht durchsetzen können, sind deshalb ausgegrenzt worden oder haben sich selbst in Distanz begeben. Ihnen haftet oft genug die faszinierende Aura des Unangepassten an. Als Beleg dafür mag unter den Büchern des vielschreibenden Walter Nigg (1903–1988) »Das Buch der Ketzer« dienen: 1949 erstmals veröffentlicht und seither immer wieder aufgelegt – zuletzt noch 2017.

Man kann in der Tat fragen, wie die Darstellungen der Geschichten großer Religionen aussähe, würden sie nicht – wie meist – aus einer »ergebnisorientierten« Perspektive verfasst: Diese legt in erster Linie den Akzent darauf, was in einer Religion für den Glauben und das Leben verbindlich geworden ist und damit zur Identitätsbildung beigetragen hat. Die »Dissidenten, Außenseiter und Querulanten« werden da schnell zur dunklen Folie und führen ihr Leben allenfalls in gelehrten Fußnoten weiter. Denn es sind die »Sieger«, die die Rezeption bestimmen – wobei oft übersehen wird, dass manche, deren Lehre gemeinschaftsprägend wurde, anfangs durchaus »Dissenters« sein konnten. Der Blickwinkel ist nicht festgelegt! Die »Sieger« verblassen indes gegenüber den Outcats, denn sie gelten als approbiert und damit angepasst. Was nicht erst heute Konjunktur hat, ist demgegenüber das Unorthodoxe. Das aber wird erst »unorthodox«, weil und insofern es das »Normative« gibt.

Diesem Konnex nachzuspüren und zu fragen, was »Identität« bedeutet und inwieweit dazu Ab- bzw. Ausgrenzung gehört, stellt sich der von Andreas Kunz-Lübcke herausgegebene Sammelband zur Aufgabe. Er dokumentiert die Vorträge, die auf der 4. Tagung der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie im März 2020 gehalten wurden. Die Tagung war »primär einzelnen Figuren und Konzepten gewidmet, denen in den Literaturen der Bibel, des Judentums und des Islam Außenseiter-, Dissidenten- und Querulantenstatus zugeschrieben worden sind« (5). Anders gesagt: Sie befinden sich außerhalb des »Normativen«, aber innerhalb normativer Textbestände. Das macht den besonderen Reiz der Begegnung aus, wobei allerdings kritisch anzumerken wäre, dass die inhaltliche Auswahl recht beliebig wirkt und sich mir trotz der lesenswerten Einleitung des Herausgebers (9–20), die das Phänomen des Außenseitertums entfaltet, nicht ganz erschließt.

Zum Inhalt: Aufschlussreich, wenn auch nicht unbedingt neu, ist die Beobachtung, dass nicht nur Texte der Bibel von Außenseitern und Außenseiterinnen handeln, sondern sich Gleiches auch in talmudischer und islamischer Tradition findet. Gerhard Langer beschreibt dies am Beispiel des Banns (Nidduj), der in rabbinischen Diskussionen im Talmud denen gegenüber ausgesprochen werden kann, die von der Mehrheitsmeinung abweichen (»Außenseiter in der talmudischen Tradition«, 77–103). Naghmeh Jahan (»Der mys-teriöse Idris«, 189–205) entfaltet ihrerseits, welche Bedeutung die Gestalt des Henoch im frühen Islam besitzt und was seine Sonderstellung als »Bild eines vollkommenen Menschen« (205) bedingt. Auch das positive Herausgehoben-Sein innerhalb der Religion kann implizit zur Abgrenzung von anderen führen!

Mit Gestalten des biblischen Richterbuchs befassen sich gleich zwei Beiträge: Andreas Kunz-Lübcke (»Jael – Die Außenseiterin«, 107–126) sieht Jael, die den Feldherrn Sisera hinterlistig und auf äußerst brutale Weise ermordet (Ri 4,17–22; 5,24–27), als Typus »unbesiegbarer Frauen« (109), denen gegenüber Männer – ganz gegen eine patriarchale Tradition – als »schwach« erscheinen. Zudem beleuchtet er, wie das Bild der Jael durch außerbiblische Überlieferungen (Anat in Ägypten und Elektra in der griechischen Tragödie) beeinflusst sein könnte. Rüdiger Lux (»Dialekt mit Todesfolge«, 147–160) analysiert die Jiftach-Erzählung (Ri 12,1–6): Dieser siegt am Ende – aber um welchen Preis! »Der Sieg über die Ammoniter kostet ihn das einzige Kind, die Tochter […] Der Weg seiner Erfolge ist mit schmerzhaften Verlusten gepflastert. Im Sinn bricht abgrundtiefe Sinnlosigkeit auf.« (158) Das lässt Jitach zur tragischen Gestalt werden.

Besonders nah an der selbstgestellten Thematik bewegen sich die neutestamentlichen Beiträge von Manuel Vogel (»Gottes und des Kaisers Reich«, 51–73) und Markus Öhler (»Paulus – Dissident und Außenseiter«, 161–187), zumal sich beide von lange Zeit herrschenden oder aktuell die Diskussion bestimmenden Auffassungen abgrenzen. Ob sie ihrerseits dadurch »Außenseiterpositionen« darstellen, mag die weitere Diskussion zeigen.

Vogels These lautet: Die Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus musste in nachjesuanischer Zeit nicht – dem bekannten Diktum von Alfred Loisy zufolge – in die Vorstellung von der Kirche transformiert werden, sondern besitzt in den synoptischen Evangelien, die bekanntlich später als das paulinische Briefkorpus entstanden sind, eine »konzeptionelle Schlüsselstellung« (59). Denn für Vogel ist sie »ein Leitbegriff der Außenkommunikation der frühen Jesusbewegung im dritten Drittel des 1. Jh. als dem anzunehmenden Entstehungszeitraum der synoptischen Evangelien. Vor jeder hypothetischen Rückfrage nach dem historischen Jesus gehört ›Reich Gottes‹ innerhalb der Religionsgeschichte des frühen Christentums zunächst einmal in diesen Zeitraum.« (60) Hier erweist sie – gerade in Antithese zum Imperium Romanum – ihre Anziehungs- und Überzeugungskraft. Christen wurden zu Außenseitern, weil sie in der Erwartung des Reiches Gottes lebten und sich bewusst vom Anspruch des römischen Kaisers abgrenzten. Die frühe Jesusbewegung selbst wird – auch politisch – zu einem »Dissidenzphänomen«. Vogel plädiert daher für einen »Perspektivwechsel«: »Vom Endpunkt der Jesustradition zum Anfang einer Wirkungsgeschichte der Reich-Gottes-Idee über das 1. Jh. hinaus.« (72)

Während die »New Perspective on Paul« seit den 1980er Jahren die Theologie des Apostels innerhalb des zeitgenössischen Judentums zu verorten suchte, unternimmt Öhler den Versuch, Paulus von seiner Biographie und seinem Selbstverständnis her in einer zunehmenden inneren Distanz dazu zu verstehen. Die erste Schlüsselstelle ist für ihn 2Kor 11,22, wonach sich Paulus als einer stigmatisiere, der »als Christusgläubiger« (172) in Judäa insgesamt fünfmal durch »Lokalgerichte« mit der in der Tora (Dtn 25,1–3) vorgesehenen Prügelstrafe bestraft wurde (171 f.): »Die Selbststigmatisierung des Paulus als Verfolgter hat ihre reale Grundierung in konkreten Gewalterfahrungen, die der Apostel aufgrund seines Christusbekenntnisses und der sich daraus ergebenden Verkündigungstätigkeit vonseiten der öffentlichen Ordnungsmächte Judäas erlitt.« (175) Der Dissens trete auch in einem zweiten Schlüsselbeleg zutage (1Kor 9,19–22): Paulus bestehe auf seiner Freiheit »gegenüber allen« (176) und werde so »ein Außenseiter, der sich gegenüber verschiedenen Gemeinschaften aber so benehmen kann, als ob er zu ihnen gehören würde« (177). Öhlers bedenkenswertes Fazit lautet denn auch: »Mit seiner Hinwendung von der pharisäischen Schule zur jüdischen Christusbewegung war er vom Zeloten für die Einhaltung der Tora zum Zeloten für das Evangelium geworden und damit zu einem Außenseiter gegenüber weiten Teilen seines Volkes und zum Dissidenten gegenüber zentralen Inhalten von deren Kultur und Religion.« (183)

Abgerundet wird der Band durch zwei eher gegenwartsbezogene Beiträge von Drea Fröchtling (»Fundamentalismus und Radikalisierung«, 21–50) und Moritz Gräper (»Gott will Apartheid!«, 127–144). In enger Anlehnung an einschlägige Literatur entfaltet Fröchtling mögliche Begründungszusammenhänge für das Entstehen von Fundamentalismus und Radikalismus als Phänomenen, die nach innen hin (Ab-)Geschlossenheit vermitteln und sich dadurch nach außen hin bewusst als Außenseiter abgrenzen. Näher zu untersuchen sei, welche Rolle in diesem Zusammenhang Religion spiele (40). Gräper belegt, wie sehr sich die – gegenüber dem exegetischen Mainstream vertretene – Sonderauffassung des weißen südafrikanischen Neutestamentlers Evert Philippus Groenewald (1905–2002), wonach Apartheid biblisch legitimiert werden könne, als ideologische Stütze des rassistischen Apartheid-Regimes erwies. Das führt ihn zu Überlegungen, »welcher Hermeneutik es bedarf, um der ethischen Verantwortung bei der Interpretation von normativen Texten gerecht zu werden« (143).

Als Ertrag der Lektüre notiere ich: Es kann als Stärke religiös approbierter Texte gelten, dass sie offenkundig in der Lage sind, Vielstimmigkeit auszuhalten und »Dissidenten, Außenseiter und Querulanten«, die sich außerhalb des »Normativen« bewegen, zu Wort kommen zu lassen. Identität heißt gerade nicht Uniformität! Darin sind normativ gewordene Textbestände überraschend »unorthodox«.