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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

947-949

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lüke, Nathanael

Titel/Untertitel:

Über die narrative Kohärenz zwischen Apos-telgeschichte und Paulusbriefen.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2019. 297 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 62. Kart. EUR 98,00. ISBN 9783772086779.

Rezensent:

Christoph Heilig

Nathanael Lükes Arbeit geht vom Befund aus, dass Paulus in der Apg keine Briefe schreibt (15–23). L. nimmt an, dass der Actaverfasser im 2. Jh. schreibt und ihm eine Zehnbriefsammlung vorliegt. Diese entspricht vom Textbestand ungefähr derjenigen, die auch Markion verwendet (26). L.s Analyse führt ihn allerdings zu dem Schluss, dass Röm 15–16 Teil des Prätexts der Apg war (264). Inwiefern Lk völlig frei in der Ausgestaltung seiner Fiktion ist oder aber auf andere Traditionen Rücksicht nehmen muss, bleibt leider ziemlich in der Schwebe (vgl. die Andeutungen auf S. 74, 143, 187 und 229.)

Paulus tritt in der Apg trotz der literarischen Abhängigkeit nicht schreibend in Erscheinung, weil Lk die intertextuelle Beziehung »kaschiert« (39–43). Die Apg ist ein Werk, welches die Leser der Paulusbriefe auf diese Weise bei deren Interpretation anleiten möchte. Die zentrale These lautet: »Der Actaverfasser will einen Interpretationsrahmen für die Paulusbriefe schaffen, der eine markionitische Interpretation der Zehnbriefsammlung verunmöglicht.« (62)

Für die Beweisführung sollen die narrativen Welten der Einzeltexte miteinander verglichen werden, wofür L. die Kategorie der »narrativen Kohärenz« einführt (51–59). Sie ergibt sich aus der narrativen Kontinuität von »Figurencharakterisierung, Zeit, Ort und Ereignisablauf« (58) und der thematischen Kohärenz, wie sie in der »narrativen Transformation von Angaben aus den Paulusbriefen« (56) in de Apg sichtbar wird.

In Kapitel 2 beginnt L. mit einer Betrachtung der galatischen Krise und des antiochenischen Streits. Eine Schlüsselrolle spielt für L. die Annahme, dass die Auseinandersetzung aus Gal 2,11–14 von Lk in Apg 15,1–2 aufgegriffen wird. L. formuliert sehr zuversichtlich: »Dass beide Texte auf dasselbe Ereignis referieren, ist offensichtlich.« (82) An diesem Beispiel zeichnen sich bereits die Stärken und Schwächen von L.s Arbeitsweise insgesamt ab.

Positiv erkennt man hier, dass L.s Hypothese gut bewertet werden kann, indem man nach Phänomenen in der Apg sucht, die sonst unverständlich bleiben (vgl. 60). Eine solche potenzielle smoking gun könnte das Aposteldekret sein: Nach L. geht dieses nicht auf das Problem aus Apg 15,1–2 ein (117), »passt aber zur Komplikation in Gal 2,11–13« (118). Negativ fällt auf, dass L. bloße Kompatibilität als Bestätigung seiner Hypothese zu werten scheint. Dass eine der beiden Streitparteien – Petrus – in Apg 15,1–2 gar nicht auftaucht (vgl. 82) ist definitiv unerwartet. Natürlich kann allerlei »gemutmaßt« (100) und dieser Umstand so irgendwie nachvollziehbar werden (100) – was aber nur offenbart, dass der Text nicht dem entspricht, was man aufgrund der Hypothese selbst erwarten würde.

In Kapitel 3 werden 1 und 2Thess und die Apg recht knapp auf narrative Kohärenz abgeklopft. 1 und 2Kor nehmen in Kapitel 4 mehr Raum ein. Röm wird in Kapitel 5 mitsamt des Briefschlusses Röm 15–16 ausführlich, Philm, Kol und Eph werden dann in Kapitel 6 wieder recht knapp abgehandelt. Phil wird in Kapitel 7 gesondert diskutiert, weil er in das Nachfeld in der erzählten Zeit der Apg gehört. Hebr (Kapitel 8) ist nur evtl. eine Vorlage für die Apg. Laut Kapitel 9 entstand Tit parallel zur Apg in Abhängigkeit von der Zehnbriefesammlung, während 1 und 2Tim dann all diese Texte »verweben« (259).

Leider sieht L. die Diskussion von Hebr und Pastoralbriefen nur als surplus (64) an. Bei den Pastoralbriefen wird nicht einmal die thematische Kohärenz (243) untersucht. L. geht so vor, weil er diese Texte nicht a priori (64) voraussetzt. Viele Leser werden aber auch die Zehnbriefesammlung nicht a priori als Prätext der Apg voraussetzen wollen. Ein belastbarer Negativbefund für Hebr und Pastoralbriefe wäre daher ein wichtiges Argument für seine Position gewesen.

L.s Arbeit weist aber viele positive Aspekte auf. Sie ist formal nahezu makellos. Die Breite des Projekts ist beeindruckend. Zugleich geht L. sorgfältig in die Tiefe. Gerade die ältere Sekundärliteratur wird umfänglich aufgearbeitet. Die Erzähltheorie wird sehr gewinnbringend für die Apg (leider nicht so sehr für die Paulusbriefe) fruchtbar gemacht (vgl. etwa 75–76 und 105–107). Die Diskussion von Röm 15–16 belegt die Ergebnisoffenheit der Untersuchung.

Dennoch überzeugt mich die Argumentation nicht. Der Grad an narrativer Kohärenz erscheint mir weitaus geringer, als L. das darstellt.

Erstens scheint mir die Auswahl der narrativ transformierten »Angaben« bei Paulus recht erratisch. Laut L.s eigener Darstellung sorgt Lk »in großer Umsicht« für narrative Kontinuität (261). Trotzdem fehlen wichtige Personen aus den Paulusbriefen (vgl. bereits oben zu Petrus und Apg 15,1–2). Der »Wunsch des Lesers nach genauen Informationen« (89) wird im Fall von Barnabas erfüllt. Weshalb wird er dann im Hinblick auf 24 der 26 Grußempfänger in Röm 16 enttäuscht? Die Antwort, dass Lk ja auch wichtige Personen wie Titus übergehe (194; vgl. 158), verschiebt das Problem nur. Die antimarkionistische Stoßrichtung mag erklären, weshalb ausgerechnet Barnabas aufgegriffen wird. Aber Lk lässt sich ja auch dazu herab, den nur in einem Vers erwähnten Sosthenes (1Kor 1,1) mit einer komplexen Geschichte zu bedenken (vgl. 150 zu Apg 18,7). Auch was von Paulus erwähnte Ereignisse angeht, wirkt der von L. entworfene Lk inkonsistent. Ausgerechnet die Steilvorlagen des Peristasenkatalogs in 2Kor 11,23–28 ignoriert Lk größtenteils (161–162). Wieso will Lk, dass der Leser gerade diese so gut dramatisierbaren Ereignisse in »Leerstellen« der Apg einträgt (169; vgl. 162)? Gleichzeitig fühlt sich Lk angeblich durch die bloße Nennung von »Brüdern, die aus Makedonien kamen« (2Kor 11,9) bemüßigt, hochgradig komplexe Reisebewegungen zu erfinden.

Zweitens transformiert L. immer wieder reichlich unerwartet. So seien die Aussagen des Paulus über die Zungenrede die Vorlage für die Erzählung des Pfingstereignisses: »Bei einer Gemeindeversammlung wird in Zungen geredet, und Unkundige spotten.« (169) Sollte Lk ausgerechnet das von Paulus abgelehnte hypothetische Szenario auf die Urgemeinde übertragen haben? Das scheint direkt der antimarkionitischen Zielrichtung zu widersprechen! Noch dazu, wo 1Kor 11,17–34 genau gegenteilig, als »positiv gewendete narrative Transformation« (166), in Apg 2,42–47 aufgenommen worden sein soll.

Gewisse Zusatzannahmen mögen solche Kohärenzstörungen weniger überraschend machen. Laut L. opfert Lk etwa in Apg 17,1–9 ein grundlegendes Element narrativer Kontinuität den Präferenzen seiner Erzählweise (vgl. 128 zur Spannung mit 1Thess 1,9; 2,14). Auch unterschiedliche Theologie wird ins Spiel gebracht, wenn Lk einfach mal »eine Sicht […] nicht teilt« (131 zur Rolle des Satans in 1Thess 2,19, Röm 1,13 und Röm 15,22). Unstimmigkeiten lassen sich schließlich auch immer als Authentizitätsfiktion verkaufen (vgl. 117). Solche über die antimarkionistische Stoßrichtung hinausgehende Zusatzannahmen erhöhen freilich die Erklärkraft, senken gleichzeitig aber unausweichlich die Grundwahrscheinlichkeit der Hypothese, da ein immer komplexerer Lk postuliert wird.

Für die weitere Diskussion wichtig sind m. E. einige potenzielle smoking guns, die sich in L.s Analyse finden lassen. U. a.: das Aposteldekret (s. o.), damit zusammenhängend die Entkräftigung eines Vorwurfs in Apg 15,24, »der in Acta nicht erhoben wird – der allerdings von Paulus in Gal 2,12 verbreitet wurde« (95); Philippi als erster Ort einer Gemeindegründung nach der Trennung von Barnabas (Apg 16,11; vgl. Phil 4,15; 89, Anm. 79); das innerhalb der Apg »unmotiviert[e] Selbstzeugnis« am Ende der Miletrede in Apg 20,33–35, welches als Beschönigung des Paulusbildes aus 1/2 Kor Sinn macht (154–155); die in Apg 24,17 angeblich als Opfer auftauchende und Vokabular aus Röm 15,16 aufnehmende Kollekte (179). Gerade, wenn man auch Paulus konsequent narratologisch betrachtet, ergeben sich hier durchaus Alternativerklärungen. – Auf solche geht L. leider generell nur sehr sporadisch ein. Es soll aber zugestanden werden, dass L.s Hypothese zumindest einige dieser Elemente besser erklären mag – auch wenn bezweifelt werden darf, dass dies für viele in der Beurteilung der Gesamtplausibilität ausschlaggebend sein wird.