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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

943-944

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bruner, Frederick Dale

Titel/Untertitel:

The Letter to the Romans. A Short Commentary.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2021. XIV, 215 S. Geb. US$ 26,99. ISBN 9780802879431.

Rezensent:

Michael Wolter

Um dem Anliegen dieses kleinen Kommentars gerecht werden zu können, muss man etwas über seinen Autor wissen. Frederick Dale Bruners theologische Existenz hat ihren Ursprung in der First Presbyterian Church of Hollywood, in der auch Billy Graham wichtige Impuls empfing. 1963 hat er in Hamburg mit einer Arbeit über die pentekostale Pneumatologie promoviert, die von Walter Freytag angeregt worden war und 1970 unter dem Titel A Theology of the Holy Spirit: The Doctrine and Experience of the Holy Spirit in the Pentecostal Movement and, Correspondingly, in the New Testament im Druck erschien. Von 1964 bis 1975 lehrte er »Christian Doctrine« am Union Theological Seminary of the Philippines und von 1975 bis 1997 als »Professor of Religion« an der Whitworth University in Spokane, WA. Er gewann dabei die Überzeugung, so etwas wie eine christliche Glaubenslehre am besten unterrichten zu können, wenn er die neutestamentlichen Evangelien selbst als Lehrbücher benutzt. Dieser Einsicht verdanken sich ein zweibändiger Kommentar zum Matthäusevangelium (1987/1990, 22004) sowie ein Kommentar zum Johannesevangelium (2012), die er konsequent als Quellen für eine systematisierende Darstellung dessen nimmt, was der christliche Glaube glaubt. B. will sich mit diesen Kommentaren darum auch nicht am exegetischen Diskurs der Bibelwissenschaftler beteiligen. Er schreibt vielmehr für Christenmenschen, die nach dem Was und Wie ihres Glaubens fragen und wissen wollen, wie sie ihren Glauben leben können.

Dasselbe gilt für den hier anzuzeigenden Kommentar zum Römerbrief. B.stellt ihn unter die Überschrift »Das fünfte Evangelium« (v.vii.1) und findet in ihm »the same One Gospel that Matthew and John taught« (vii), das im Unterschied zu den Evangelien aber nicht »with deep stories«, sondern »with deep sentences« geschrieben sei (ebd.). Bei Paulus habe es darum lediglich eine andere Gestalt. Seine »zentrale Botschaft« bestehe darin, »that through the Father’s Love, Jesus’ Passion, and the Spirit’s Application of this Passionate Love human beings can have a perfectly right relationship with God – by simple faith in his Christ« (viii). Damit ist schon alles gesagt, denn diese Feststellung ist sowohl Basis als auch Ergebnis der Auslegung jedes einzelnen Briefabschnitts.

Exegetisch bewegt der Autor sich im allgemeinen Rahmen dessen, was man in den Einleitungen und in den Einleitungskapiteln der Römerbriefkommentare lesen kann. Vor allem aber geht es dem Autor darum, den theologischen Konsens sichtbar zu machen, den seine Auslegung der Texte des Römerbriefs präsentiert. Er unternimmt dies auf zwei Ebenen: Zum einen lässt er wiederholt andere biblische Texte ausführlich zu Wort kommen, die seiner Meinung nach in dieselbe Richtung weisen wie der jeweilige paulinische Bezugstext (so z. B. Mt 5,3–6; Lk 15,20–32; 18,9–14 als »The New Testament’s Own Commentaries on the Meanings of Romans 3:21–26« [52–54] oder die 19 neutestamentlichen Texte in einem »Brief Overview of the Gift of the Holy Spirit in the New Testament«, die »the Christ-centeredness of the Gift of the Holy Spirit« belegen sollen [118–123]). Darüber hinaus lässt er auch andere Römerbriefkommentare oder theologische Texte zu Wort kommen, um mit ihrer Hilfe seine eigene Auslegung zu bestätigen oder zu illustrieren. Er bietet dabei von altkirchlichen Kommentierungen über Luther, Calvin, Bengel und Barmen bis hin zu Käsemann, Wilckens, Cranfield und Jewett – um nur eine kleine Auswahl zu nennen – alles auf, was Rang und Namen hat. Zusätzlich reichert er seine Textinterpretationen immer wieder durch Rückblicke auf eigene Erfahrungen und Erlebnisse an. Das Ergebnis ist eine Interpretation des Römerbriefes, deren Gegenstand nicht die Fragen sind, die Paulus selbst zur Abfassung seines Briefes veranlasst haben, sondern Fragen, mit denen heutige christliche Leser diesem Brief begegnen.

Kritik an den exegetischen Voraussetzungen und Entscheidungen, auf denen B.s Auslegungen basieren, ist an vielen Stellen möglich. Sie kann jedoch immer nur positionell sein, denn die von ihm eingenommene Position gibt es immer auch in einer der zitierten Auslegungen. Die Übersetzungen des paulinischen Textes sind durchweg sehr frei und entfernen sich mitunter auch recht weit vom griechischen Text. Letzteres gilt z. B. für Röm 9,31: Hier wird die paulinische Feststellung Ἰσραὴλ δὲ διώκων νόμον δικαιοσύνης εἰς νόμον οὐκ ἔφθασεν zu einer Frage und auch sonst recht gewaltsam verändert (133 f.): »Am I saying, then, that Israel, who is, yes, striving for righteousness – a righteousness based on their doings of the Law – did not get this righteousness?« Und wenn es an anderer Stelle heißt, dass Paulus in Röm 3,26 (Gott rechtfertigt τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ) »of faith ek – ›up-out-of-and-from‹ Jesus« spreche (50), so ist dies nicht mehr als eine Verlegenheitsauskunft, die ein Verständnis von πίστις Ἰησοῦ als Genitivus objectivus um jeden Preis aus dem Weg gehen will. Bedauerlich ist auch, dass die Eigenart von B.s hermeneutischem Zugriff auf den Text geradezu zwangsläufig dessen theologische Ecken und Kanten einebnet. Das gilt etwa für die Auslegungen von Röm 9,14–18, in der von der Härte des Bildes, das Paulus hier von dem bei Erwählung und Verwerfung rein willkürlich agierenden Gott entwirft, nichts übriggeblieben ist, oder von Röm 11,1–10, wo der Autor mit keinem Wort auf das von Paulus hier skizzierte und von ihm als Problem empfundene Zerbrechen der Einheit des Gottesvolkes eingeht.

Weiterführende exegetische Einsichten gibt es in diesem Kommentar nicht. Das ist aber auch gar nicht sein Anliegen. Er will vielmehr in erster Linie für »believing readers« (82) geschrieben sein. Gerade das macht ihn aber auch für Menschen lesenswert, deren Geschäft vor allem die historisch-kritische Exegese des Römerbriefes ist. Die Interpretation B.s erinnert sie nämlich daran, dass der Römerbrief ein theologischer Text ist und wirklich auch als solcher gelesen werden will.