Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

941-943

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bekken, Per Jarle

Titel/Untertitel:

Paul’s Negotiation of Abraham in Galatians 3 in the Jewish Context. The Galatians Converts – Lineal Descendants of Abraham and Heirs of the Promise.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. X, 316 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 248. Geb. EUR 89,95. ISBN 9783110721928.

Rezensent:

Martin Meiser

Per Jarle Bekken, Neutestamentler an der Nord-University in Levanger (Norwegen), beansprucht in dem hier anzuzeigenden Buch, die häufig als Kritik an Paulus vorgetragene These seiner Sonderstellung in der Behandlung von Gen 15,6 in Gal 3,6–29 anhand eines Vergleiches mit Philon von Alexandria (vor allem Virt. 212–219 und Abr. 262–276) durch eine Interpretation zu ersetzen, innerhalb deren Paulus nun doch um einiges näher an anderen jüdischen Positionen zu stehen kommt.

Für Philon ist, so Kapitel 2 (29–62) Abraham beides, der Gründer der jüdischen Nation (Abr. 276) und der Prototyp des Proselyten (Virt. 212–219). Philon negiert nicht die ethnischen Differenzen von Juden und Nichtjuden; für die jüdische Identität der Proselyten werden sie jedoch irrelevant (40). Bei Juden ist die auch den Proselyten mögliche spirituelle Verwandtschaft mit Abraham zusammen mit der genealogischen Verwandtschaft automatisch gegeben.

Kapitel 3 (63–93) ist eine Interpretation von Philon, Abr. 262–273 unter der Leitlinie der schon in den Basistexten Gen 12,1–3; 15,5–8; 22,15–18; 26,3–5 vorliegenden Entsprechung zwischen Abrahams Verhalten und der göttlichen Antwort. Gen 22,15–18 wird bei Philon in Abr. 262 als göttliche Reaktion nicht speziell auf die Bindung Isaaks, sondern ähnlich wie in Sir 44,20f.; Jub 18,15 f.; Hebr 6,16 f. allgemein auf Abrahams in Gen 15,6 benanntes Gottvertrauen bezogen (82 f.).

Kapitel 4 (94–114) kommentiert Philon, Abr. 275 f., mit der Tendenz, Philon von anderen jüdischen Autoren im Verständnis von Gen 26,5 abzusetzen: Abraham habe nicht die Sinaithora schon vor deren Vermittlung über Mose befolgt, sondern das ungeschriebene Naturgesetz, wobei ihm unter göttlicher Instruktion die Natur selbst der interne Lehrer gewesen sei (106). Philon vertrete also das Konzept zweier dynamischer Gesetzgebungen innerhalb der Thora, wobei die Sinaithora völlig in Konformität zu besagtem Naturgesetz steht und als dessen beste Approximation zu gelten hat (114).

Kapitel 5 (115–278) ist der Auslegung von Gal 3,6–29 gewidmet, verstanden als exegetische Paraphrase über den Basissatz Gal 3,6. Die Nähe der exegetischen Technik zeigt für B., dass Paulus auch inhaltlich mit seiner Rezeption von Gen 15,6 nicht allein steht.

Paulus interpretiert Gen 15,6 dahingehend, dass Nichtjuden unter die Söhne Abrahams inkludiert werden – aber als jüdische Proselyten, die freilich nicht der Sinaithora unterstellt werden, für die vielmehr Abrahams Geistbegabung im Augenblick seiner Konversion (vgl. Philon, Virt. 217) als Modell dienen kann (153.162). Philon, Virt 216 f.; JosAs 8,9; 16,14 zeigen, wie Konversion und Geistmitteilung zusammengedacht sein können (154 f.). Die Wendung ἐκ πίστεως referiert in Gal 3,8, anders als in Gal 3,6 f.9, aber in Analogie zu Philon, Abr. 273 auf Gottes πίστις als Reaktion auf die πίστις Abrahams (133). Die Unterscheidung zweier Gesetzgebungen bei Philon, Abr. 276 (sie spiegele sich wider in der paulinischen Unterscheidung ἐκ πίστεως/ἐξ ἔργων νόμου [182] und der Differenz zwischen Hab 2,4 und Lev 18,5 [190]) und die Auffassung von Gen 22,15–18 als Reaktion göttlicher πίστις auf Abrahams πίστις in Abr. 273 ergeben den Boden dafür, dass die paulinische Abkoppelung der πίστις der Jesusanhänger von der Observanz der Sinaithora als nicht unjüdisch empfinden musste. Die crux interpretum Gal 3,10 wird so interpretiert, dass aufgrund von Gal 3,1 und Gal 3,13 es Jesus ist, den dieser Fluch trifft (193). Der gekreuzigte Christus ist nach der mosaischen Gesetzgebung verflucht, nach der abrahamitischen Gesetzgebung die Grundlage dafür, dass den Glaubenden die Abrahamsverheißungen zuteilwerden können (203). Für Gal 3,16 ist Gen 26,2–5 als Referenztext anzusehen. In Gal 3,17 grenzt sich Paulus von jüdischen Autoren ab, die Abraham als jemanden ansehen, der die Thora schon vor ihrer Offenbarung am Sinai befolgt habe (221). In Gal 3,22 wird der gen. subj. πίστις Χριστοῦ dem Glauben Abrahams parallelisiert, sodass Christus als Empfänger der Verheißung nach Gal 3,16 als würdig erscheint, was der wahren, an Frömmigkeit orientierten Kennzeichnung der Abrahamsverwandtschaft nach Philo, Qu. Gen. IV 180 entspricht (243 f.).

Begrüßenswert ist das Anliegen, Paulus noch besser als bisher auf jüdischem Hintergrund zu verstehen, in jedem Fall. Anregend ist der Verweis auf den Zusammenhang zwischen Konversion und Geistbegabung. Lehrreich sind das profangriechische Vergleichsmaterial zu προγράφω in Gal 3,1, das auf die öffentliche Zurschaustellung Jesu als eines Kriminellen zielt (143–151), das papyrologische Material (P. Oxy 1206; P. Lips. 28) zum Zusammenhang zwischen Adoption und voller Erbberechtigung (266–269) und zu Gal 3,20 der Verweis auf die gemein-antiker Gesandtschaftsterminologie. Nachdenken wird man in der Tat im Lichte von Philon, Abr. 5.276; Mos. II 51 über das innere Verhältnis des Naturgesetzes und der Sinaithora bei Philon, auf dessen Differenz zu anderen frühjüdischen Autoren B. verweist; dazu vgl. auch Jutta Leonhardt-Balzer, Mose als Mittler bei Philo von Alexandrien, in Michael Sommer u. a. (Hg.), Mosebilder. Gedanken zur Rezeption einer literarischen Figur im Frühjudentum, frühen Christentum und der römisch-hellenistischen Literatur, WUNT I 390, Tübingen, 123–142 (126); Martina Böhm, Rezeption und Funktion der Vätererzählungen bei Philo von Alexandria, BZNW 128, Berlin/New York 2005, 163.

Speziell zu B.s Interpretation des Galaterbriefes ergeben sich aber auch Fragen. Formal leuchtet die Grenzziehung bei Gal 3,29 im Inhaltsverzeichnis nicht ein, zumal dann doch mit Recht auch Gal 4,1–7 mit einbezogen wird. Inhaltlich müsste, um mit einzel-exegetischen Details zu beginnen, der zweimalige Referenzwechsel der Wendung ἐκ πίστεως in Gal 3,6–9 mit klaren Textsignalen im Galaterbrief selbst begründet werden. B.s Interpretation von Gal 3,10 stehen das den Vers einleitende ὅσοι und das im Zitat vorfindliche πᾶς entgegen. Für die Gesamtinterpretation ist m. E. zu beachten, dass Paulus die Galater nicht in ein Naturgesetz einweist, dessen beste Approximation die Sinaithora darstellt, sondern in ein Leben nach dem Geist, für dessen äußere Regulierung Paulus ein einziges Mal auf die Sinaithora zurückgreift (Gal 5,14), hingegen mit Ausnahme von Gal 3,9 nirgends im Stil Philons auf das Vorbild Abrahams verweist.

Andere Bedenken resultieren aus dem Eindruck, dass nicht alle thematisch relevanten Interpretationsprobleme des Galaterbriefes explizit erörtert werden. Dementsprechend bleibt die Anfrage, ob der Aufweis der Nähe in Einzelmotiven zwischen Philon und Paulus die Ausführungen des Galaterbriefes für einen nicht an Jesus glaubenden Juden wirklich erträglicher macht. Ob es diesen überzeugen kann, wenn Paulus die jüdische Konzeption der Heilsgeschichte faktisch umkehrt und so tut, als sei neben dem Verweis auf die Sinaithora auch der Verweis auf das ungeschriebene Naturgesetz noch von eigener Dignität, nachdem die Sinaithora nun einmal gegeben ist? Ob es ihn überzeugen kann, dass Paulus die mögliche Unterstellung der Adressaten unter die Thora mit der Rückwendung zur Verehrung der nichtisraelitischen Gottheiten vergleicht (Gal 4,9) – ein Problem, das B. gar nicht explizit in den Blick nimmt? Ob es ihn überzeugen kann, wenn seine religiöse Identität in Ismael und nicht in Isaak repräsentiert erscheint (258 f.)? – Sperrig wird der Galaterbrief auch in Zukunft bleiben.