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Ausgabe:

Oktober/2022

Spalte:

930-932

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dietrich, Walter [Hg.]

Titel/Untertitel:

Samuelmusik. Die Rezeption des biblischen Samuel in Geschichte, Musik und Bildender Kunst.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VI, 269 S. = Studies of the Bible and Its Rezeption, 19. Geb. EUR 99,95. ISBN 9783110697810.

Rezensent:

Thomas Naumann

Der Band versammelt die Vorträge eines interdisziplinären Symposiums, das im Herbst 2019 stattfand und die Schweizerische Erstaufführung des 1821 komponierten Oratoriums »Il Samuele« von Giovanni Simone Mayr (1763–1845) durch den »Orpheus Chor« (Bern) begleitet hat. Dieses Ensemble macht es sich zur Aufgabe, Spitzenwerke der Chormusik zur Aufführung zu bringen, die in ihrer Zeit berühmt waren, inzwischen aber weitgehend vergessen sind. Zwar geht die Wiederentdeckung des bayrisch-italienischen Opern- und Oratorienkomponisten, der seit 1805 in Bergamo/Oberitalien wirkte, schon auf die 1990er Jahre zurück (Anselm Gerhard spricht S. 208 von »einer veritablen Mayr-Renaissance«), doch war »Il Samuele« bisher nie in der Schweiz erklungen, obwohl eine von drei erhaltenen handschriftlichen Partituren in der Stiftsbibliothek von Einsiedeln aufbewahrt wird. Für die Organisation der Tagung haben sich der Berner Alttestamentler Walter Diet-rich und der Berner Musikwissenschaftler Anselm Gerhard zusammengetan. Sie haben nicht nur ein Programm hochkarätiger Beiträge organisiert, sondern auch die musikalische Aufführung begleitet.

Die wuchtige Gestalt des Propheten Samuel in der Bibel, der König Saul erwählt und verwirft, dann David, den jüngsten Sohn Isais, zum künftigen König salbt, steht keineswegs im Zentrum der musikalischen Rezeption der frühen biblischen Königsgeschichte, doch ist er als gestrenger Prophet und Königsmacher unverzichtbar in den Tondichtungen präsent, die sich mit den Königen Saul und David befassen. Musikwissenschaftlich sind besonders drei Beiträge hervorzuheben. Sascha Wegner geht in einer breit angelegten tour d’horizon den Spuren Samuels in der Musikgeschichte nach (92–139) und führt zugleich in das ungemein vielfältige Forschungsfeld musikalischer Bibelrezeption ein. Bei Samuel ist schon die Suche methodisch nicht einfach, weil der Prophet musikalisch auch dort auftaucht, wo allein David oder Saul die Werktitel zieren. Ein fulminantes Ergebnis von Wegners umfassender Recherche ist eine Liste im Anhang, die 328 Kompositionen aufführt, in denen Samuel als Titelfigur oder als kompositionell eigenständiger Charakter in Motetten, Kantaten, Oratorien, Opern, symphonischen Dichtungen und anderen Gattungen bis in die Gegenwart erscheint. Man wird also künftig vom Wegner-Verzeichnis der Samuel-Saul-David (SSD)-Tondichtungen sprechen und mit ihm arbeiten können. Sein Überblick zeigt an zahlreichen Beispielen, dass insbesondere eine dramatische Szene die musikalische Phantasie anregte, in der die Totenbeschwörerin von En Dor, die seit der Genfer Bibelübersetzung (1553) als Hexe aufgefasst wird, auf Sauls Verlangen den verstorbenen Samuel aus dem Totenreich heraufholt, wobei dieser dem erschöpften König häufig im strengen Bass sein »Farewell« und den Tod am nächsten Tag ankündigt. Samuel steht auch für das rechte Königtum und gegen eine falsche Form der Herrschaft, ein Thema, das im England der frühen Neuzeit bis in die Parlamentsdebatten mit biblischen Verweisen ausgefochten wurde. Robert Ramsey, Henry Purcell, Friedrich Händel u. a. haben das multiperspektivische Potential der Geschichte Sauls, der gleichermaßen Tyrann wie auch tragische Figur ist, in populären Werken nutzen können, und das Thema der »Witch of Endor«, das Shakespeare in der Hexenszene in »Macbeth« popularisiert hatte, tat ein Übriges.

Mit diesen Fragen politischer Herrschaft hat Mayrs Oratorium »Il Samuele« nichts zu tun. Das Gelegenheitswerk wurde zur Einführung eines neuen Bischofs in Bergamo komponiert und konzentriert sich allein auf die Kindheitsgeschichte Samuels, in der die einst kinderlose Hanna ihren erbetenen Sohn Samuel dem Tempel in Schilo und der Obhut Gottes übergibt. Hans Peter Friedli bietet eine instruktive Einführung in das Oratorium und die Arbeitsweise des Komponisten, der seine Erfahrungen als Opernkomponist nutzen konnte, um das verhältnismäßig handlungsarme Geschehen musikalisch äußerst abwechslungsreich zu gestalten (159–182). Anselm Gerhard analysiert sodann das Textbuch zur Aufführung und zeigt, dass der Librettist Bartolomeo Merelli seine poetische Vorlage nicht nur biblisch fundiert, sondern auch die zeitgenössischen Bibelkommentare ausdrücklich nutzt. Giovanni Simone Mayr scheint sehr wahrscheinlich an der Erstellung der Textgrundlage beteiligt gewesen zu sein. Überdies stellt Gerhard das Werk in den Kontext der italienischen Oratorien- und Opernproduktion des 19. Jh.s, in dem die Kindheitsgeschichte wenig Beachtung fand, ganz im Gegensatz zur Beliebtheit der schauerlich-romantischen Szene bei der Totenbeschwörerin von En Dor.

»Il Samuele« wurde 1821 durch die jungen Mitglieder der Musikschule von Bergamo aufgeführt, die Mayr 1806 gegründet hatte. Indem der Prophetenorden Samuels in der Bibel in »Il Samuele« in eine Musik- und Gesangschule für Kinder transformiert wurde, verfolgte das Oratorium offensichtlich auch das Ziel, dem neu eingesetzten Bischof die weitere finanzielle Förderung die- ser Musikschule ans Herz zu legen. Denn wie einst der biblische Samuel an den Tempel übereignet wurde, so bot die Musikschule von Bergamo eine professionelle Ausbildung geeigneter Kinder und Jugendlicher (allerdings nur der männlichen), unter denen sich von 1806–1815 auch der später berühmte Opernkomponist Gaetano Donizetti befand: Realpolitik in musikalisch-biblischem Gewand.

Die musikwissenschaftlichen Beiträge werden ergänzt durch das zweisprachige Libretto des Oratoriums, das von Walter Dietrich einer Analyse im Licht seiner biblischen Vorlage unterzogen wird (183–198) sowie weiteren Beiträgen zur Rezeption Samuels: Der Alttestamentler Rainer Kessler zeichnet die alttestamentliche Gestalt Samuels nach, der Judaist Renè Bloch ihre (zurückhaltende) Rezeption im jüdischen Gottesdienst. Katharina Greschat, Spezialistin für die Alte Kirche, sichtet die Spuren Samuels im frühen Christentum und verbindet sie mit konkreten theologischen Debatten und historischen Kontexten. Zu solchen gehörte die Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Priesteramts (Samuel ist kein Aaronide), um Samuels Leben als Prophet und herausragendem Heiligem mit (fast) sündloser Lebensführung; der an seinem Volk und seinem König litt und selbst für seine Feinde fürbittend eintrat, während die Umstände seiner Geburt Samuel mit Jesus und Hanna mit Maria verbinden. Zwar hat das antike Christentum viele Figuren des Alten Testaments als Typos Christi aufgefasst, aber »kaum eine biblische Figur ihrem Christus so nahe kommen lassen wie Samuel, den jugendlichen Gottesdiener, heiligen Propheten und für sein Volk leidenden Richter« (66). Die Israelkritik des biblischen Samuel wurde im 4–6. Jh. leider auch antijudaistisch genutzt zur Legitimation der Entrechtung der Juden unter den christlichen Kaisern und für die unheilvolle Substitutionstheorie. Eine breit gefächerte und polyphon bleibende Diskussion indes hat auch in der Alten Kirche Samuels postmortale Aktivität und die Magie der Totenbeschwörerin von En Dor ausgelöst.

Einen ikonographischen Zugang bietet die auf diesem Feld bes-tens ausgewiesene Sara Kipfer, indem sie die Darbringung Samuels im Tempel in den bildlichen Darstellungen seit der Barockzeit untersucht: zum einen im Umkreis der Rembrandt-Werkstatt, zum anderen in der britisch-nordamerikanischen Kunst des 18.–20. Jh.s. (67–91). Neben den zeitgenössischen Familienbildern lasse sich auch eine zunehmende Betonung der Kindheit in diesen Werken ablesen. Leider unterbleibt ein Blick auf die italienische Kunst im 18./19. Jh.

Alle Beiträge sind wissenschaftlich erarbeitet, viele bieten innovative Zugänge zu ihren Themen; manche sind rezeptionshermeneutisch reflexiv und auch als Einführung in biblische Rezeptionsforschung geeignet (Heyden, Wegner, Kipfer). Dem Herausgeber Walter Dietrich gebührt für die Mühe und Sorgfalt in besonderer Weise Lob und Anerkennung. So legt man das Buch reich belehrt aus der Hand und hofft, dass seine Erkenntnisse in den Samuel-Einträgen der im Entstehen befindlichen EBR (Encyclopedia of the Bible and its Reception) gebührend Eingang finden. Die EBR ist 2022 bis »N« gelangt. Man kann das Buch aber auch getrost zuklappen, die Augen schließen und sich die Aufführung des »Il Samuele« auf der Homepage des Berner »Orpheus Chores« einfach mit Muße anhören.